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Die fünf besten Bücher 2024
Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp, ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. 50 Bücher habe ich Ihnen dieses Jahr empfohlen. Jetzt ist es Zeit, Bilanz zu ziehen: Ich stelle Ihnen im Folgenden die fünf besten Bücher des Jahres 2024 vor. Das ist natürlich eine subjektive Wertung. Es gibt bestimmt weitere, sehr gute Bücher. Sagen wir also: Von den 50 Büchern, die ich Ihnen dieses Jahr empfohlen habe, sind es jene fünf Titel, die mich besonders beeindruckt haben. Es sind Bücher, die ich als besonders wichtig, als besonders wertvoll, eben: als besonders gut erachte. Ich habe für diese Auswahl alle Bücher noch einmal zur Hand genommen, noch einmal abgewogen und bewertet. Diese fünf Bücher haben auch aus der Distanz Bestand. Als Geschichten, aber auch als Sprachkunstwerke. Ich möchte sie nicht missen und lege Ihnen deshalb diese Titel ans Herz. Also – hier kommen Sie: Die fünf Bücher des Jahres 2024, die Sie meiner Ansicht nach nicht verpassen dürfen, die ich selbst weiterschenke, die ich gerne noch ein zweites oder sogar ein drittes Mal lese.
Was ist ein gutes Buch? Ich stelle Ihnen jede Woche ein Buch vor, das «ebenso intelligent wie unterhaltend» ist. Das heisst, dass ich Bücher suche, die drei Bedingungen erfüllen: Es sollen gute Geschichten sein, Bücher, in die man eintauchen und sich darin verlieren kann. Diese Geschichten sollen Tiefgang haben und neue Perspektiven bieten, gedanklich anregen und inhaltlich zu beissen geben. Und sie sollen sprachlich überzeugen, also sorgfältig geschrieben sein, sich aber gleichzeitig gut lesen lassen.
(1) «Demon Copperhead» von Barbara Kingsolver
All diese Bedingungen erfüllt «Demon Copperhead» von Barbara Kingsolver, mein erstes Buch des Jahres. Es handelt sich dabei um die neu erzählte Geschichte von David Copperfield. Das war und ist einer der wichtigsten Bildungsromane der Literaturgeschichte: Charles Dickens erzählt darin die Geschichte des Waisenjungen David Copperfield, der es im viktorianischen England trotz widriger Umstände schafft, sich durchzusetzen und das soziale Elend hinter sich zu lassen. Erschienen ist der Roman 1850. Die amerikanische Autorin Barbara Kingsolver hat diese Geschichte neu erzählt. Sie hat dafür die Handlung vom viktorianischen London ins ländliche Virginia der Gegenwart verlegt. Der Rahmen bildet die Opioidkrise, die grassierende Schmerzmittelsucht in Amerika, und ihre krassen Folgen. Demon Copperhead heisst ihr Held. Wie David Copperfield wächst er als Waise auf, muss sich selbst durchschlagen – und gerät dabei selber in eine Schmerzmittelabhängigkeit. Ich habe das Buch ohne grosse Erwartungen zu lesen begonnen. Eine Nacherzählung – what else. Doch dann hat mich die Geschichte gepackt. Ich konnte das Buch kaum mehr weglegen – und das will bei einem Umfang von über 800 Seiten etwas heissen.
Im Kern dreht sich die Geschichte wie bei Charles Dickens um einen Jungen am Rand der Gesellschaft. Im Zentrum steht dieses Gefühl, nichts zu sein und nichts zu zählen. Nicht dazuzugehören. Ein Ausgestossener, ein Aussortierter zu sein.
Manche werden jetzt sagen, dass ich ja nie was Besseres war. Nicht mal im Krankenhaus geboren von einer Mom, die danach mit mir in ihren Trailer zurückgekehrt ist, nein, ich wurde im Trailer geboren – fast so was wie ein Prinz des Trailergesindels. Kinder wie ich, denen ihre Teenage-Moms Whiskey aufs Zahnfleisch reiben, damit sie still sind, oder Cola ins Fläschchen geben, sind echt arm dran. Dabei hatte ich nicht schlechter angefangen als andere Kinder, hatte gelernt, bitte und danke zu sagen, meine Hausaufgaben zu machen und was man sonst noch tun muss, um ein Lächeln abzukriegen. Ich spielte, um zu gewinnen, hatte meinen Stolz und meine Träume. Und wenns nur Kleine-Jungs-Träume waren wie Carol Danvers zu heiraten oder später mal ein Avenger zu sein – na und? Ich stand jeden Morgen auf und dachte, dass da draussen die Sonne schien, für mich genauso wie für jeden anderen. (Seite 249)
Doch Demon muss lernen, dass die Sonne für ihn eben nicht scheint wie für alle anderen. Er war und ist das Kind, das arbeiten musste, als die anderen spielten. Oder lernten. Er schafft zwar kurzzeitig einen sozialen Aufstieg als Football-Star. Doch dann verletzt er sich, wird mit Schmerzmitteln aufs Feld geschickt und dann stürzt Demon ab in den Sumpf aus Oxy und Fentanyl. Er lernt, dass die heilige Dreifaltigkeit aus Oxy, Soma und Xanax besteht, also aus Opioid, Benzodiazepin und Carisoprodol. Ein gefährlicher Cocktail. Wenn Sie «David Copperfield» kennen, dann können Sie sich etwa vorstellen, wie die Geschichte ausgeht. Allen anderen möchte ich nicht mehr verraten. Nur so viel: Lesen Sie das Buch. Es ist ein Wucht. Auch vom Umfang her, ja. Vor allem aber in Bezug auf die Sprache und die Geschichte. Ich werde Demon Copperhead jedenfalls nicht so schnell vergessen.
Barbara Kingsolver: Demon Copperhead. dtv, 864 Seiten, 36.9 Franken; ISBN 978-3-423-28396-0
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/C9JGsZCcAaY
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/demon-copperhead/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783423283960
(2) «Unsereins» von Inger-Maria Mahlke
Barbara Kingsolver hat mit «Demon Copperhead» die Geschichte von David Copperfield in die Gegenwart verlegt und neu erzählt. Ganz anders geht Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman «Unsereins» vor. Auch ihr Buch basiert auf einem bekannten Roman, bei ihr ist es «Buddenbrooks» von Thomas Mann, der grosse Roman über den Niedergang der Lübecker Kaufmannsfamilie Buddenbrook, für den Thomas Mann 1929 den Nobelpreis erhalten hat. Der Roman schildert das Leben von vier Generationen Buddenbrooks zwischen 1835 und 1877. Inger-Maria Mahlke setzt mit ihrer Geschichte 13 Jahre später ein: «Unsereins» ist eine ähnlich epische Familiengeschichte, die ebenfalls in Lübeck spielt. Inger-Maria Mahlke spinnt die Geschichte der Buddenbrooks aber weiter und nimmt eine ganz andere Perspektive auf das Geschehen ein. Der Roman dreht sich um die Familie Lindhorst: kinderreich, konservativ, kaisertreu. Friedrich Lindhorst ist allerdings, sein erster Makel, nicht Kaufmann, sondern Rechtsanwalt und, sein zweiter Makel: er ist jüdisch. Hinter vorgehaltener Hand spotten die Lübecker deshalb über die Lindhorsts. Die Familie bildet das Zentrum des Romans, aber nicht nur sie steht im Fokus. Inger-Maria Mahlke weitet den Blick aus auf die Frauen und die Bediensteten in der Stadt. Auf die Haushälterin Ida, Lohndiener Charlie und Ratsdiener Isenhagen, die Schüler, die zur Pension beim Pfarrer wohnen, Wasserbaudirektor Schilling und dessen Tochter Henriette, die Journalistin wird. Auch Thomas Mann selbst taucht auf im Buch: Tomy, genannt der «Pfau», ist zu Beginn des Buchs Schüler in der «Anstalt». Gegen Ende erscheint sein grosser Roman, nur «das Buch» genannt.
Während Thomas Mann seinen Roman ganz auf das Familienleben der Budenbrooks fokussiert und fast nur die gute, bürgerliche Stube im Blick hat, weitet Inger-Maria Mahlke den Blick von Anfang an aus auf das Umfeld der Familie, auf die Stadt und die Menschen, die da arbeiten und leben, vor allem auf die Frauen und auf die Bediensteten. Da ist zum Beispiel Ida Stuermann, das Dienstmädchen der Familie Lindhorst. Sie ist ein Beispiel für den bürgerlichen Niedergang, wie er Thema der «Budenbrooks» ist. 1870 verortet sie die Volkszählung von Lübeck noch als Stuermann, Ida, evangelisch, Tochter in einem guten Haus: der Vater ist Kaufmann mit eigenem Kontor, die Familie wohnt in einem gutbürgerlichen Haus mit fünf Zimmern, vier davon beheizbar. 1880, zehn Jahre später, ist ihre Mutter als Kaufmannswitwe registriert, drei Zimmer, zwei davon beheizbar.
«Dazwischen liegt eine schlecht vertäute Ladung Eisenstäbe, die beim Verladen ins Rutschen und erst zwei Zentimeter hinter dem Os frontalis des vorbeieilenden Kaufmanns zum Halt gekommen ist. So erzählte es zumindest seine Witwe. Gefunden wurde er jedenfalls morgens in der unteren Alfstrasse beim Hafen mit eingedrücktem Schädel.
1882 reduziert sich die Anzahl der weiteren im Haushalt lebenden Personen auf null, weil die alte Anna ins Altenasyl zieht. Und ein weiteres Jahr später ist der Stuermann’sche Haushalt aufgelöst und Stuermann, Johanna Henriette Luise, Kaufmannswitwe, im Beerdigungsregister unter Burgtorfriedhof, III. Gang, Parcelle 4c, verzeichnet.
Im Januar des Jahres 1890 steht Stuermann, Ida – Dienstmädchen – im ersten Stock des Haushalts Königstraße Nr. 9, Dr. Lindhorst – 23 Zimmer, 18 beheizbar – und versucht zu akzeptieren, dass sie Besen und Kehrschaufel von unten holen muss.» (S. 34)
Der Niedergang einer Familie, reduziert auf drei Textabsätze. Inger-Maria Mahlke überlässt es mir als Leser, mir aus den Stichworten ein Schicksal auszumalen. Auf wenigen Zeilen wird Johanna Stuermann, Ehefrau und Mutter von Ida, zunächst zur Kaufmannswitwe, dann ist sie auf dem Friedhof registriert und Ida arbeitet als Dienstmädchen bei den Lindhorsts. Das Drama findet beim Lesen nur in meinem Kopf statt. Das macht die Lektüre des Buchs spannend: Inger-Maria Mahlke zeigt mir ihre Figuren nur, sie urteilt nicht über sie.
Inger-Maria Mahlke: Unsereins. Eine epische Familiengeschichte. Rowohlt, 496 Seiten, 36.9 Franken; ISBN 978-3-498-00181-0
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/EJJrGNv_PGU
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/unsereins/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498001810
(3) «Truboy» von Anuschka Roshani
Barbara Kingsolver und Inger-Maria Mahlke haben Geschichten neu erzählt und mit neuen Perspektiven fortgesponnen. Ausgangspunkt ihrer Romane war also eine literarische Welt. Wie geht erzählen, wenn das Schreiben von der Realität ausgeht? Damit hat sich Anuschka Roshani in ihrem Buch über Truman Capote auseinandergesetzt. «Truboy» heisst ihre Erzählung. Den amerikanischen Schriftsteller Truman Capote kennen Sie sicher als Autor von «Breakfast at Tiffany’s» – und wenn Sie das Buch nicht kennen, haben Sie sicher den Kult-Film mit Audrey Hepburn gesehen.
Der Film überdeckt und überstrahlt den Schriftsteller Truman Capote und sein Werk. Es ist heute fast vergessen, dass er ein Pionier des literarischen Journalismus war, des so genannten «New Journalism». Wie kein zweiter verstand er es, journalistische Fakten mit literarischen Erzähltechniken zu verbinden. Das Resultat war eine neue Form von Literatur im Schnittfeld von Belletristik und Journalismus, die sowohl informativ als auch emotional packend war. Anuschka Roshani hat ein Buch über Truman Capote geschrieben, mit dem sie im allerbesten Sinn in die Fussstapfen des Meisters tritt. Sie hat sich in den USA auf die Suche nach einem verschollenen Werk von Truman Capote gemacht und dafür mit dessen Freunden und Weggefährten gesprochen. Über diese Suche hat sie eine packende Reportage geschrieben und darin mehr Informationen über Truman Capote gepackt, als in vielen Sachbüchern über ihn stehen. Sie halt sich also nicht nur inhaltlich, sondern auch formal dem Meister genähert.
Truman Capote ist 1924, also vor 100 Jahren in New Orleans geboren. Truman ist schon als Kind ein Sonderling. Er ist klein, er ist einsam, er ist schwul – und er ist intelligent. Und zwar wirklich: Bei einem Intelligenztest in der Grundschuljahre schneidet Truman so gut ab, dass die Wissenschaftler nachmessen. Es bleibt dabei: Truman erzielt einen IQ von 215 – laut eigenen Angaben die höchste je gemessene Intelligenz eines Kindes in den USA. Truman ist ein Genie und er weiss es schon sehr früh.
Aber er ist auch ein Problemkind. Er merkt früh, dass er schwul ist – im Amerika der 1930er Jahre noch ein Tabu. Er ist einsam, er ist seltsam und er ist ängstlich. «Was wir auch tun, es geschieht aus Angst.», schreibt Truman Capote als 22-jähriger. Er schafft es schon früh, diese Angst literarisch zu fassen und ihr Ausdruck zu geben. Anuschka Roshani schreibt:
Ich glaube, mich hat Truman Capote als lebenslange Freundin gewonnen, als es ihm glückte, seiner Angst eine künstlerische Gestalt zu verleihen. Und da Lesen heißt, sich einzufühlen, so wie Schreiben das Bemühen ist, sich einzufühlen, Literatur eigentlich nichts anderes ist als praktiziertes Einfühlungsvermögen, deshalb bedeutet Truman Capote zu lesen für mich, seinen, meinen, vielleicht unser aller stärksten Ängsten auf den Grund zu gehen. (Möglichst, bevor sie uns einholen.) Seine Angst kennenzulernen. Denn was man kennt, das kann einen nicht mehr derart schrecken wie das Unbekannte mit seinem verborgenen Gesicht. (Seite 15)
Literatur als praktiziertes Einfühlungsvermögen – genau das führt uns Anuschka Roshani in ihrem Buch über Truman Capote vor. Sie bietet keinen sachbezogenen Zugang zu Capote, keinen Blick durch ein Mikroskop oder auf den Bildschirm eines Röntgengeräts. Sie ermöglicht uns Mitgefühl mit Truman Capote. Sie schreibt selbst, dass sie erkannt habe dass Schreiben und Lesen und Träumen sich auf den immer gleichen Vorgang besinnen: den des Übersetzens von Emotionen. Kapiere, dass Gefühle vom Unterbewusstsein in ein Geschehen übersetzt werden, in Handlung, und aus einer gefühlten Wahrheit Sprache wird. Beim Schreibenden, Lesenden, Träumenden eine Erinnerung wach wird, ein Abdruck der Vergangenheit – und der wiederum in etwas sehr Persönliches rückübersetzt wird. Wie verrückt, dass diese »synaptische Synchronisation» von Menschen unbewusst abläuft, die Imaginationen simultan und mühelos ineinandergreifen wie Zahnräder ein und desselben Organismus. (Seite 279)
Das ist es, was die Texte von Truman Capote ausmacht – und es ist das, was das Buch von Anuschka Roshani über ihn auszeichnet. Sie ermöglicht uns Mitgefühl.
Anuschka Roshani: Truboy. Mein Sommer mit Truman Capote. Kein & Aber, 352 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-0369-5053-2
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/h5LFKRhWtSk
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/truboy/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783036950532
(4) «Lichtungen» von Iris Wolff
Geschichten erzählen wir vorwärts: und dann, und dann, und dann… Kindheit, Schule, Jugend, Erwachsenenalter. In «Truboy» bringt Anuschka Roshani diese einfache Abfolge durcheinander, weil sich die Zeitebenen vermischen. Wenn sich zwei Menschen begegnen und sich ihr Leben und ihre Geschichte erzählen, kehren sie den Zeitstrahl oft um und erzählen rückwärts: und davor, und davor, und davor… Dieses «davor» beantwortet die wichtigste Frage von allen: Warum? Warum bin ich hier? Warum bin ich so? Warum bin ich mich? Mit der Zeit häuten sich Freunde im Erzählen wie die sprichwörtliche Zwiebel.
Genauso erzählt uns Iris Wolff in ihrem neuen Roman «Lichtungen» die Geschichte von Lev: Schrittweise tastet sie sich von der ersten Begegnung mit dem erwachsenen Lev auf einer Fähre in Ancona zurück bis zum Baby Lev in Rumänien. Es ist keine kontinuierliche Erzählung, es sind eher einzelne Erinnerungsinseln, die sie in wunderbar präzis poetischer Sprache vermittelt. Selbst die Kapitel sind rückwärts nummeriert von neun bis eins. Das klingt artifiziell, ist es aber überhaupt nicht. Es ist eher so, dass Iris Wolff uns an der Hand nimmt und wir mit ihr schrittweise immer tiefer ins Leben und damit in die Vergangenheit von Lev und seiner Jugendfreundin Kato eintauchen.
Ihr Roman beginnt mit dem neunten Kapitel auf einer Fähre, vermutlich zwischen Ancona und Split oder Zadar auf der Adria, und führt kapitelweise zurück in die Vergangenheit. Das achte Kapitel spielt in Zürich, wo Lev und Kato sich nach Jahren wieder treffen. Aufgewachsen sind die beiden wie Iris Wolff selbst in Siebenbürgen, in einem Dorf in Rumänien, zu einer Zeit, als das Land noch von Ceauşescu regiert wurde. Die Kapitel sieben bis eins spielen in Rumänien: zu Hause im Dorf und seiner Umgebung, in Schässburg, in den Wäldern von Siebenbürgen. Es sind die Ränder Europas, die schon verlassen wirkten, als der Eiserne Vorhang den Ostblock noch einschnürte. Von hier aus, ihrer vertrauten, aber unfreien Welt, sind Lev und Kato auf ganz unterschiedliche Weise aufgebrochen in die Freiheit. Kato in den Westen, Lev in eine eigene Unabhängigkeit in Rumänien.
Lev und Kato sind beste Freunde. Sie sind kein Liebespaar, weil Kato die freundschaftliche Liebe nicht verlieren wollte. Als Lev ein Junge war und nach einem Unfall nicht mehr gehen konnte, besuchte sie ihn jeden Tag und lernte mit ihm. Die Zuneigung zwischen Lev und Kato zeichnet sich schon bei der ersten Begegnung ab:
Lev blätterte die Papiere durch.
Kato deutete seinen Blick richtig. Sie zog den Stuhl an sein Bett und erklärte ihm den Stoff. Lev war davon ausgegangen, dass sie streng roch. Doch er nahm einen Geruch von Milch wahr, und etwas Schwebendes, Leichtes, wie an einem klaren Morgen. (S. 202)
Das ist auch ein gutes Beispiel für die ebenso präzise wie poetische Sprache von Iris Wolff: Er nahm einen Geruch von Milch wahr, und etwas Schwebendes, Leichtes, wie an einem klaren Morgen. Ohne dem Gefühl einen Namen zu geben, schafft es Wolff, die Empfindung von Lev einzufangen und nachvollziehbar zu machen. Sie erzählt ihre Geschichten, indem sie sie zeichnet. Dabei vertraut sie auf ihre Worte und überlässt uns ihrer Wirkung. Sie hat es nicht nötig, zu erklären, was sie meint. Es ist eine sehr präzise Sprache, die man genau lesen muss. Und genau lesen kann. Lässt man sich auf diese Sprache ein, stösst man beim Lesen immer wieder auf kleine poetische Fundstücke, die man sich, wie ein schöner, von der Sonne gewärmter Stein am Strand, glücklich in die geistige Hosentasche stecken kann.
Iris Wolff: Lichtungen. Klett-Cotta, 256 Seiten, 34.9 Franken; ISBN 978-3-608-98770-6
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/Lr1uIbkgojk
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/lichtungen/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608987706
(5) «Die Zeit der Zikaden» von Moritz Heger
Mit ihrem Blick zurück ins Leben von Lev und Kato stellt Iris Wolff auch die Frage: Was wäre, wenn …? Wenn sich Lev anders entschieden hätte, Kato anders gehandelt hätte? Wo war die entscheidende Kreuzung, wo hätten die beiden anders abbiegen können? Oder sind sie in ihrem Leben eingesperrt und konnten nicht anders? Dieses Eingesperrtsein im Leben hat Moritz Heger in seinem Roman «Zeit der Zikaden» thematisiert. Alex Mattmann war jahrelang Deutschlehrerin an einem Gymnasium und hat da auch die Theatergruppe geleitet. Jetzt bricht sie aus ihrem Leben aus. Sie hat sich pensionieren lassen, die Altbaumansarde geräumt, in der sie einundreissig Jahre lang gewohnt hat, den grössten Teil des Hausrats verschenkt und ein Tiny-Haus auf Rädern gekauft. Sie will sich entwurzeln, ihre Sesshaftigkeit abstreifen und losziehen in die Welt. Durch Zufälle landet sie mit ihrem kleinen Haus in einem grossen Garten in Ligurien. Der Garten gehört zu einem Rustico, das Johann geerbt hat. Johann ist Bestatter von Beruf, hat sein Bestattungsunternehmen aber gerade seinem Sohn und der Schwiegertochter übergeben, einer ehemaligen Schülerin von Alex. Ebendiese Alex sitzt jetzt im Rustico Johann Modell, denn der möchte eigentlich Maler sein. Zwischen der pensionierten Lehrerin und dem malenden Bestatter entwickelt sich eine Beziehung. Trotz des Alters der Protagonisten ist es eine Coming-of-Age-Geschichte, in der alles passieren kann, aber niemand von Liebe spricht. Weil es etwas anderes ist. Die Frage ist: was?
Beide, Johann und Alex, haben also die Zelte abgebrochen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Alex lässt nichts zurück, sie ist ungebunden. Johann hat Familie, eine Frau, einen Sohn und, wie sich mit der Zeit herausstellt, eine Tochter, der es schon länger zu eng geworden ist in der Familie. Beide brechen auf, weil sie ein neues Leben oder besser: eine neue Identität suchen. Das ist es, was die Geschichte, auch wenn sie von zwei Menschen weit jenseits der Fünfzig handelt, zu einer Coming-of-Age-Geschichte macht. Als sie aus ihrem Tiny-House im Garten von Johann mit einer Freundin telefoniert, formuliert Alex es selbst. Die Freundin spricht sie auf das Porträt an, das Johann von Alex malt.
«Bei einem Porträt hängen halt zwei dran oder drin», sagt Uta. «Dein Johann will nicht mehr Bestatter, sondern Maler sein, und wenn er dir jetzt sein Bild von dir zeigt, mit großem Schwung das Tuch wegzieht, dann will er im Grunde, dass du es liebst. Dass du ihn liebst. Auf den ersten Blick. Als das, was er sein möchte.» «Das ist ein komisches Wort für diese Beziehung.» «Liebe?» «Hm. Irgendwie ist es nahe dran und irgendwie gar nicht. Manchmal hab ich das Gefühl, wir sind wie Jugendliche. So eine Coming-of-Age-Geschichte, wo alles passieren kann, aber noch keiner von Liebe spricht. Weil keiner von Liebe spricht. Kennst du das nicht? Je älter ich werde, umso mehr habe ich das Gefühl, ich trage alle Lebensalter, die ich mal hatte, in mir. Mal bin ich dreißig und mal zwölf, und mal bin ich so alt, wie ich bin.» (Seite 205)
Das sind die beiden zentralen Punkte: Es ist eine Geschichte, in der alles passieren kann, weil Johann und Alex alle Lebensalter in sich tragen. Und weil keiner dem Gefühl einen Namen gibt und von Liebe spricht. Was mir an dem Buch besonders gut gefällt, ist die präzise Sprache. Moritz Heger versteht es, Gefühle und Gedanken in Sprache zu fassen, ohne sie dabei mit Worten zu erschlagen. Im Gegenteil verschaffen seine Worte den Gedanken Raum – es ist das, was eine poetische Sprache auszeichnet.
Moritz Heger: Die Zeit der Zikaden. Diogenes, 304 Seiten, 32 Franken; ISBN 978-3-257-07274-7
Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung:
Video: https://youtu.be/tVAZ5Vnoblk
Text: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/die-zeit-der-zikaden/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072747
Und das waren sie, die fünf Bücher, die ich Ihnen heuer besonders ans Herz lege:
«Demon Copperhead», die neu erzählte Geschichte von David Copperfield im Amerika der Gegenwart von Barbara Kingsolver
«Unsereins», die epische Fortsetzung von Thomas Manns «Buddenbrooks» aus der Perspektive der Frauen und der Dienstboten, geschrieben von Inger-Maria Mahlke
«Truboy», die Reportage über die Suche nach einer verlorenen Geschichte von Truman Capote, dem Meister des New Journalism, geschrieben von Anuschka Roshani als Meisterstück eben dieses New Journalism
«Lichtungen» von Iris Wolff, die poetische dicht und rückwärts erzählte Lebensgeschichte von zwei jungen Menschen aus dem rumänischen Siebenbürgen
und «Die Zeit der Zikaden» von Moritz Heger, eine sprachlich wunderbar geschriebene Coming of Age-Geschichte über zwei Menschen, die zwar beide schon älter sind, in deren Geschichte aber trotzdem alles möglich bleibt, weil sie alle Lebensalter in sich tragen.
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 17.12.2024, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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