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Lichtungen

Publiziert am 15. Februar 2024 von Matthias Zehnder

Geschichten erzählen wir vorwärts: und dann, und dann, und dann… Kindheit, Schule, Jugend, Erwachsenenalter. Wenn wir Menschen begegnen und kennenlernen, dann erzählen sie uns ihr Leben und ihre Geschichte aber meistens rückwärts: und davor, und davor, und davor… Dieses «davor» beantwortet die wichtigste Frage von allen: Warum? Warum bin ich hier? Warum bin ich so? Warum bin ich mich? Mit der Zeit häuten sich Freunde im Erzählen wie die sprichwörtliche Zwiebel. Nein, nicht bis zum Kern – bis nichts mehr kommt. Genauso erzählt uns Iris Wolff in ihrem neuen Roman die Geschichte von Lev: Schrittweise tastet sie sich von der ersten Begegnung mit dem erwachsenen Lev auf der Fähre in Ancona zurück bis zum Baby Lev in Rumänien. Es ist keine kontinuierliche Erzählung, es sind eher einzelne Erinnerungsinseln, die sie in wunderbar präzis poetischer Sprache vermittelt. Selbst die Kapitel sind rückwärts nummeriert von neun bis eins. Das klingt artifiziell, ist es aber überhaupt nicht. Es ist eher so, dass Iris Wolff uns an der Hand nimmt und wir mit ihr schrittweise immer tiefer ins Leben und damit in die Vergangenheit von Lev und seiner Jugendfreundin Kato eintauchen. In meinem 191. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was die Sprache von Iris Wolff ausmacht – und warum ich dieses Buch zu den schönsten Büchern zähle, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Vor drei Jahren habe ich Ihnen das letzte Buch von Iris Wolff empfohlen: «Die Unschärfe der Welt». Schon damals hat mich die poetische Kraft ihrer Sprache begeistert. Ich habe mich deshalb sehr auf ihr neues Buch gefreut. Mit «Lichtungen», der Geschichte von Lev und Kato, bietet uns Iris Wolff ein faszinierendes Leseerlebnis. Eigentlich erstaunlich, dass noch nie jemand ein Leben so konsequent rückwärts erzählt hat. Ihr Roman beginnt mit dem neunten Kapitel auf einer Fähre, vermutlich zwischen Ancona und Split oder Zadar auf der Adria, und führt kapitelweise zurück in die Vergangenheit. Das achte Kapitel spielt in Zürich, wo Lev und Kato sich nach Jahren wieder treffen. Aufgewachsen sind die beiden wie Iris Wolff selbst in Siebenbürgen, in einem Dorf in Rumänien, zu einer Zeit, als das Land noch von Ceauşescu regiert wurde. Die Kapitel sieben bis eins spielen in Rumänien: zu Hause im Dorf und seiner Umgebung, in Schässburg, in den Wäldern von Siebenbürgen. Es sind die Ränder Europas, die schon verlassen wirkten, als der Eiserne Vorhang den Ostblock noch einschnürte. Von hier aus, ihrer vertrauten, aber unfreien Welt, sind Lev und Kato auf ganz unterschiedliche Weise aufgebrochen in die Freiheit. Kato in den Westen, Lev in eine eigene Unabhängigkeit in Rumänien.

Lev und Kato sind beste Freunde. Sie sind kein Liebespaar, weil Kato die freundschaftliche Liebe nicht verlieren wollte. Als Lev ein Junge war und nach einem Unfall nicht mehr gehen konnte, besuchte sie ihn jeden Tag und lernte mit ihm. Erst wollte er nichts von ihr wissen. In der Schule war sie eine Aussenseiterin. Und ein Mädchen noch dazu. Als sie ihn zum ersten Mal besuchte, bat er seine Mutter, sie abzuwimmeln. Doch die Mutter braust auf:

Wann sei er zu solch einem eingebildeten Jungen geworden, dass er sich für etwas Besseres als dieses Mädchen halte?
Schon am nächsten Tag kam sie. Das Hoftor öffnete sich, der Hund bellte, beruhigte sich erstaunlich rasch, Schritte näherten sich, doch nichts geschah. Die Mutter ging zur Tür, begrüsste das Mädchen, begleitete es ins Zimmer. Lev versuchte, möglichst unbeteiligt auszusehen. Katos Augen wanderten alles ab, blieben auf ihn gerichtet. Sie nickten sich zu. Dann setzte sie sich auf den Stuhl, der für sie ans Bett geschoben worden war. Er wusste, dass sein Gesicht ihn verriet, fing einen warnenden Blick seiner Mutter auf. Hätte man nicht einen Jungen schicken können? Oder wenn schon ein Mädchen, dann eines aus der ersten Reihe. Ja, sässe eines der Mädchen aus der ersten Reihe hier, würde er sich anstrengen, die Aufgaben zu verstehen. Käme eine von ihnen, wären dies Stunden, denen er mit Ungeduld entgegensehen würde. Stattdessen wurde dieses Mädchen geschickt, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte. Die in den Pausen immer irgendetwas auf Blätter kritzelte; die so abwesend schien, man hätte meinen können, sie sei gar nicht in der Lage zu sprechen. Aber jedes Mal, wenn sie im Unterricht etwas gefragt wurde, wusste sie die Antwort. Das überraschte Lev. Er hielt sie für hochnäsig. Oder dumm.
Vielleicht war sie beides. (Seite 200)

Aus der ersten Ablehnung wird bald eine tiefe Verbundenheit. Die wir zu diesem Zeitpunkt als Leser gut kennen, weil wir die Geschichte ja von hinten lesen, von der erneuten Begegnung als längst Erwachsene in der Schweiz. Die Zuneigung zwischen Lev und Kato zeichnet sich aber schon bei der ersten Begegnung ab:

Lev blätterte die Papiere durch.
Kato deutete seinen Blick richtig. Sie zog den Stuhl an sein Bett und erklärte ihm den Stoff. Lev war davon ausgegangen, dass sie streng roch. Doch er nahm einen Geruch von Milch wahr, und etwas Schwebendes, Leichtes, wie an einem klaren Morgen. (S. 202)

Das ist auch ein gutes Beispiel für die ebenso präzise wie poetische Sprache von Iris Wolff: Er nahm einen Geruch von Milch wahr, und etwas Schwebendes, Leichtes, wie an einem klaren Morgen. Ohne dem Gefühl einen Namen zu geben, schafft es Wolff, die Empfindung von Lev einzufangen und nachvollziehbar zu machen. Sie erzählt ihre Geschichten, indem sie sie zeichnet. Dabei vertraut sie auf ihre Worte und überlässt uns ihrer Wirkung. Sie hat es nicht nötig, zu erklären, was sie meint. An einer anderen Stelle im Buch beschreibt sie, wie Grossmutter Bunica ihre Geschichten erzählt. Diese Beschreibung lässt sich durchaus als Selbstbeschreibung der Erzählweise von Iris Wolff lesen:

Sie nahmen auf der Ladefläche Platz, legten Zeitungen unter, der Nässe wegen. Hinter ihnen standen Kisten mit leeren Sodaflaschen. Lev hielt den Regenschirm über sich und seine Grossmutter und rauchte. Bunica hatte nicht, wie sonst nach dem Gottesdienst, vor der Kirche verweilt, sie liess sogar eine Frau stehen, die zielgerichtet und sicherlich mit einer Menge Tratsch auf sie zukam. Sie schwieg während der ganzen Fahrt, wo sie doch sonst immer erzählte, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Bunicas Geschichten warteten in der Landschaft, waren eingezeichnet in Häuser, Bäume, Bäche. Hier das Tor, wo die Russen am ersten Tag einen erschossen hatten. (Man müsse nur einen im Dorf erschiessen, dann parierten alle.) Dort das Versteck, in dem zuerst ein Jude, dann ein Wehrmachtssoldat, dann ein Sachse verborgen wurde, und wer weiß, vielleicht auch ein rumänischer Partisan. Sie fragte nicht, ob er Camil gewarnt hatte. In ihren Äußerungen konstatierte sie, untersuchte nicht. War etwas gesagt, konnte sie es loslassen, es war nicht mehr in ihrer Hand. Einmal hatte Lev gefragt, woher sie ihr Wissen habe. Das Wissen käme aus dem Leib, aus dem ganzen Leib, sagte sie – die meisten Leute kämen jedoch bedauerlicherweise nie über ihren Kopf hinaus.» (S. 101)

Genau das ist es, was die Erzählweise von Iris Wolff ausmacht. Sie hat ihre Geschichte eingezeichnet in die Landschaft, in die Häuser, Bäume, Bäche von Siebenbürgen. Man merkt dabei, dass sie sehr genau weiss, von was sie schreibt. Ist etwas gesagt, vertraut Iris Wolff darauf und lässt es los. Dabei vertraut sie, wie Bunica, nicht nur auf den Kopf, sie bezieht den ganzen Leib mit ein. Auch da ist Iris Wolff sehr präzis: Es geht nicht um den Körper, es geht um den Leib. Der Körper, das ist der versachlichte Mensch, der sich objektiv erfassen lässt. Der Leib ist das subjektiv Gespürte. Der Mensch hat einen Körper, aber er ist ein Leib. Genau das macht Iris Wolff in ihrem Buch spürbar.

Es ist eine sehr präzise Sprache, die man genau lesen muss. Und genau lesen kann. Lässt man sich auf diese Sprache ein, stösst man beim Lesen immer wieder auf kleine poetische Trouvaillen. Sprachliche Fundstücke, die man sich, wie ein schöner, von der Sonne gewärmter Stein am Strand, glücklich in die geistige Hosentasche stecken kann. Auch dafür ein Beispiel:

Tief ziehende Wolken. Wie ein Meer, unter dem man hinwegtauchen konnte.
Kato war in eine undurchdringliche Stille gehüllt.
Vorsorglich schwieg auch Lev. Wieso hatte er eigentlich, wenn eine Frau schwieg, immer das Gefühl, es habe mit ihm zu tun? (S. 144)

In diesem kleinen Abschnitt habe ich gleich zwei solcher Sprachfundstücke mitgenommen: Die Wolken, die wie Meer sind, unter dem man hinwegtauchen kann. Und dann dieser wunderbare Satz: Wieso hatte er eigentlich, wenn eine Frau schwieg, immer das Gefühl, es habe mit ihm zu tun?

Die Sprache steht immer im Dienst der Geschichte, die Iris Wolff erzählt, der Geschichte von Lev und Kato. Es ist die Geschichte einer Freundschaft, einer Liebe, die mehr ist als nur eine Liebesbeziehung. «Lichtungen» ist dabei kein Coming-of-Age-Roman. Wie auch, Iris Wolff erzählt die Geschichte ja rückwärts. So, wie einem Freunde mit der Zeit erzählen, wie es dazu gekommen ist, dass sie sind, wie sie sind. Das ist auch das Gefühl, das bei mir nach der Lektüre blieb: dass ich zwei Freunde gewonnen habe.

Iris Wolff: Lichtungen. Roman. Klett-Cotta, 256 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-608-98770-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608987706

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Basel, 15. Februar 2024, Matthias Zehnder

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