Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Unmöglicher Abschied
Letzter Tipp: Die fünf besten Bücher 2024

Umlaufbahnen

Publiziert am 23. Dezember 2024 von Matthias Zehnder

Die International Space Station umkreist die Erde in etwa 400 Kilometer Höhe. Das ist eine niedrige Erdumlaufbahn, die ISS befindet sich im Low Earth Orbit. Sie bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 28’000 Kilometern pro Stunde. Sie stürzt mit etwas mehr als siebeneinhalb Metern pro Sekunde an der Erde vorbei, in Balance gehalten durch die Fliehkraft ihrer eigenen Geschwindigkeit. Für eine Umrundung der Erde benötigt sie 90 Minuten. Das ergibt 16 Umrundungen pro Tag. Wobei man besser sagt: 16 Umrundungen innert 24 Stunden. Aus der Sicht der Raumstation ist es gar nicht so einfach, einen Tag zu definieren. Wenn man die Umlaufbahn der ISS nachzeichnet, ergibt sich kein geschlossener Kreis: Die Bahn verschiebt sich mit jeder Umrundung, weil sie zum Äquator um etwa 50 Grad geneigt ist. So überfliegt die Raumstation im Laufe der Zeit fast alle Regionen der Welt. Diese Umlaufbahnen sind Titel und Thema des neuen Romans von Samantha Harvey: In präzisen und poetischen Worten schildert sie, wie sechs Astronautinnen und Astronauten auf der Raumstation einen Tag erleben. Ausgehend von kleinen, alltäglichen Arbeiten und Problemen in der Schwerelosigkeit verhandelt sie dabei die ganz grossen Fragen der Gegenwart und führt uns vor Augen, wie sie sich aus der Perspektive der Raumstation ganz neu stellen. Für den Roman ist Samantha Harvey mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet worden. In meinem 235. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sie den Preis zu recht erhalten hat.

 

Für einige Monate bilden sie eine Schicksalsgemeinschaft: vier Astronautinnen und Astronauten aus Amerika, Japan, Grossbritannien und Italien und zwei Kosmonauten aus Russland. Es sind zwei Frauen und vier Männer. Gemeinsam leben und arbeiten sie in der Raumstation, bestehend aus siebzehn miteinander verbundenen Modulen, unterwegs mit achtundzwanzigtausend Kilometern pro Stunde.

Roman aus Russland ist der Erfahrenste von ihnen. Der Tag, den Samantha Harvey schildert, ist sein vierhundertvierunddreissigster Tag im Weltraum. Auf diese Zahl hat er es im Verlauf von drei verschiedenen Weltraummissionen gebracht. Er zählt penibel mit. Heute ist Tag achtundachtzig der aktuellen Mission. Anton ist der andere russische Kosmonaut. Anton ist immer etwas müde, weil er schlecht schläft. Er fühlt sich zeitversetzt und im Dauer-Jetlag. Er schaut aus dem Fenster zum Mond. Der scheint nur einen Steinwurf weit entfernt zu sein. Eines Tages, denkt er, wird er es dorthin schaffen.

Der Tag beginnt für Kosmonauten und Astronauten gleich: mit zwei Stunden Training. Mit Gewichten, auf Laufband und Tretrad müssen sie ihre Muskulatur erhalten, die sie sonst in der Schwerelosigkeit verlieren würden. Im russischen Bereich der Raumstation quält Anton sich auf dem Rad und Roman ist auf dem Laufband. Drei Module weiter, im nicht-russischen Abschnitt, stemmt Nell auf der Bank Gewichte. Nell ist Engländerin und eine der beiden Frauen auf der Raumstation. Neben ihr ist Pietro an das amerikanische Laufband gegurtet. Er hört Duke Ellington und hat die Augen geschlossen. Er stellt sich vor, er würde durch die Emilia-Romagna joggen. Pietro kommt aus Italien.

Im nächsten Modul strampelt Chie mit aufeinandergebissenen Zähnen im hohen Gang auf dem Rad und zählt dabei ihre Trittfrequenz. Chie ist die zweite Frau auf der Raumstation. Sie stammt aus Japan und denkt, stärker als die anderen, in Bildern. Sie hat vor wenigen Tagen die Nachricht erhalten, dass ihre Mutter gestorben ist. Alleine, ohne sie. Das hat bei allen etwas ausgelöst. Seit dieser Todesnachricht blicken sie auf die Erde hinab, die sie umkreisen, und allen kommt beim Anblick dieses blauen Wunders ein Wort in den Sinn: Mutter. Mutter Erde. Mutter.

Die beiden Russen Anton und Roman, die beiden Frauen Nell und Chie, der Italiener Pietro – wer fehlt noch? Shaun, der Amerikaner. Er wusste schon mit fünfzehn, dass er Kampfflieger werden wollte. Mit Kunst konnte er damals überhaupt nichts anfangen. Als sie im Unterricht das Gemälde «Las Meninas» des spanischen Malers Diego Velázquez besprachen, empfand er diese Stunde als Tiefpunkt und kritzelte ein Bild von einem Mann am Galgen auf seinen Notizblock. Das Mädchen, das neben ihm sass, sah seine Kritzeleien, stiess ihn an und lächelte. Die beiden kamen miteinander ins Gespräch und als sie viele Jahre später seine Frau wurde, schenkte sie ihm eine Postkarte von «Las Meninas» als Erinnerung an ihren ersten Austausch. «Las Meninas» ist eines der meistdiskutierten Gemälde der Kunstgeschichte. Samantha Harvey beschreibt anhand der Kunststunde, die der fünfzehnjährige Shaun erlebt, was im Bild steckt. Es ist zugleich der Schlüssel zu ihrem Roman. Schauen wir uns das Bild also etwas genauer an.

Diego Velázquez: «Las Meninas», 1656. Prado, Madrid.

Das Gemälde aus dem Jahr 1656 zeigt einen grossen Raum des Alcázar von Madrid, der Residenz von König Philipp IV. von Spanien. Auf dem Bild sind einige Personen des spanischen Hofes zu sehen. Genau im Mittelpunkt steht die Infantin Margarita, die fünfjährige Tochter des Königs. Um sie herum stehen mehrere Personen des spanischen Hofs, die sich alle eindeutig identifizieren lassen. Links von ihnen steht der Maler Velázquez selbst. Er arbeitet gerade an einem grossen Bild und richtet seinen Blick auf den Betrachter. Er schaut also uns an, als würde er uns abmalen. Im Hintergrund des Bildes hängt ein Spiegel. Wenn es ein echter Spiegel wäre, würden wir Betrachter uns darin sehen. Im Bild sind im Spiegel der König und die Königin zu sehen. Das königliche Paar steht also ausserhalb des abgebildeten Raums da, wo wir als Betrachter des Gemäldes stehen.

Shaun erinnert sich genau an das, was sein Lehrer damals über das Gemälde gesagt hat, weil seine Frau ihm eine Postkarte des Gemäldes schenkte und das, was der Lehrer sagte, auf die Rückseite geschrieben hatte:

Ein Gemälde in einem Gemälde, hatte sein Lehrer gesagt – schaut es euch genau an. Seht nur. Velázquez, der Künstler, ist selbst in dem Bild präsent, beim Malen an seiner Staffelei, er malt den König und die Königin, die sich aber, wie wir, die Betrachter, außerhalb des Gemäldes befinden und auf die Szenerie blicken. Wir wissen nur, dass sie da sind, weil wir ihr Abbild in einem Spiegel auf dem Gemälde sehen. Uns bietet sich derselbe Anblick wie dem König und der Königin – ihre Tochter und deren Zofen, nach denen das Gemälde benannt ist: Las Meninas, «Die Hoffräulein». Was ist also das eigentliche Sujet – der König und die Königin (die gemalt werden und deren weiße Gesichter im Spiegel, wenn auch nur klein, zentral im Hintergrund zu sehen sind), ihre Tochter (der Stern in der Mitte, so leuchtend und blond im Zwielicht), ihre Zofen (und andere der Prinzessin Untergebene – Zwerge, Anstandsdamen und Hunde), der Mann, der im Hintergrund im Türrahmen lauert und eine Nachricht zu überbringen scheint, Velázquez (der im Gemälde als Maler deutlich zu erkennen ist, ein Maler, der an seiner Staffelei steht, der ein Porträt des Königs und der Königin malt, das aber auch das Gemälde Las Meninas selbst sein könnte), oder sind wir es, die Betrachterinnen, die an derselben Stelle stehen wie der König und die Königin und auf das Gemälde blicken und die sowohl von Velázquez und der kindlichen Prinzessin angeschaut werden als auch, im Spiegelbild, von dem König und der Königin? Oder ist das Sujet des Gemäldes Kunst an sich (also eine Reihe von Illusionen, Tricks und Kniffen innerhalb eines Lebens) oder gar das Leben selbst (also eine Reihe von Illusionen und Tricks und Kniffen innerhalb eines Bewusstseins, das versucht, das Leben mittels Wahrnehmung und Träumen und Kunst zu verstehen)? (Seite 14 f.)

Indem sie «Las Meninas» schildert, erklärt Samantha Harvey, was sie mit ihrem Buch macht, man muss nur «Maleratelier» durch «Raumstation» ersetzen und König und Königin durch Astronauten. Wir Betrachter respektive Leser stehen da, wo im Bild König und Königin respektive die Astronauten stehen und schauen, wie sie, auf das Maleratelier/die Raumstation. Im Zentrum steht hell leuchtend die Prinzessin, im Fall der Raumstation ist das die leuchtende Erde, um die sie kreist. Und das Thema des Buchs ist, wie beim Gemälde, das Betrachten und damit eigentlich das Leben selbst, stellvertretend abgebildet durch das Leben auf der Raumstation und den sehnsüchtigen Blick durch die Panoramafenster auf die kleine, verletzliche Erde.

Denk einen neuen Gedanken, das sagen sie sich alle von Zeit zu Zeit. Die Gedanken, die einem im Orbit kommen, sind so pompös und alt. Denk einen neuen Gedanken, einen völlig frischen und noch nie gedachten Gedanken. Aber es gibt keine neuen Gedanken. Nur alte, die in neue Momente hineingeboren werden – und in diesen Momenten lautet der Gedanke: Ohne die Erde sind wir alle erledigt. Nicht eine Sekunde könnten wir ohne ihre Gnade überleben, wir sind Seefahrer auf dunkler, gefährlicher See, ohne unser Schiff würden wir ertrinken. (S. 18f.)

Wie einst Seefahrer, die für Wochen und Monate nur das blaue, weite Meer sahen und davon träumten, festes Land unter die Füsse zu kriegen, träumen die Astronauten davon, diese Erde, die sie Tag und Nacht vor Augen haben, zu spüren und zu fühlen, zu riechen und zu schmecken. Jahrzehnte haben sie davon geträumt, Astronaut zu sein und im Weltall zu leben – jetzt sind sie da und träumen von der Erde.

Sie verschwinden unter ihren Kopfhörern und stemmen Gewichte, radeln auf einem Fahrrad, das nur aus Pedalen an einem Gurt besteht, sattel- und lenkerlos, bei dreiundzwanzigfacher Schallgeschwindigkeit ohne Ziel dahin, rennen dreizehn Kilometer in einer raffinierten Konstruktion aus Metall und blicken dabei auf Nahaufnahmen eines sich drehenden Planeten. Mitunter sehnen sie sich nach einer steifen Brise, stürmischem Regen, Herbstlaub, geröteten Fingern, schlammverspritzten Beinen, einem neugierigen Hund, einem Hasen oder einem Reh, das erschrocken davonspringt, nach einer Pfütze in einem Schlagloch, durchnässten Füßen, einer leichten Steigung, einer Laufpartnerin, einem Sonnenstrahl. Mitunter erliegen sie auch einfach dem eintönigen, windstillen Brummen ihres versiegelten Raumschiffs. Während sie rennen und radeln, während sie stoßen und stemmen, rollen unter ihnen die Kontinente und Ozeane dahin – die lavendelfarbene Arktis, der östliche Zipfel Russlands, der dahinter verschwindet, Stürme, die über dem Pazifik an Fahrt aufnehmen, die von Bergen zerklüfteten Wüsten des Tschad, Südrussland und die Mongolei, und dann wieder der Pazifik. (Seite 22)

Wenn sie die Erde so vor sich sehen, verstehen sie, warum man sie «Mutter Erde» nennt. Von Zeit zu Zeit spüren sie es alle, stellen eine Verbindung zwischen der Erde und einer Mutter her und werden auf diese Weise selbst zu Kindern. Zu Beginn ihrer Mission vermissen sie alle ihre Familien, manchmal so sehr, dass es körperlich weh tut. Mittlerweile sind die anderen Menschen an Bord zur Familie geworden. Die anderen Crew-Mitglieder sind die Menschen, denen sie sich nicht erklären müssen.

Dabei ist es ja eigentlich verrückt, Menschen in eine so lebensfeindliche Welt zu schicken. Ohne Raumstation, ohne Schutzschilde, Luftfilter, Drucksysteme und viel Technik würden sie keine Sekunde überleben. Und was machen sie hier? Sie führen Aufträge aus. Führen präzise die Anweisungen von Forschern auf der Erde aus, führen deren Experimente aus. Wäre es nicht einfacher, wenn man Roboter statt Menschen auf die Raumstation schicken würde?

Ein Roboter benötigt keine Flüssigkeiten, Nährstoffe oder Schlaf, ein Roboter hat keine Ausscheidungen, keine lästigen Hirnflüssigkeiten oder Monatsblutungen, keine Libido und keine Geschmacksnerven. Einem Roboter muss keine Rakete mit Obst geschickt werden, ein Roboter muss weder mit Vitaminen, Antioxidationsmitteln, Schlaftabletten oder Schmerzmitteln versorgt werden, noch muss man aus Trichtern und Pumpen eine Toilette bauen, für deren Benutzung man eine Schulung braucht. Es ist auch keine Einheit nötig, die Urin zu Trinkwasser aufbereitet, denn ein Roboter uriniert ja nicht, braucht kein Wasser und hat auch sonst keine Bedürfnisse.

Aber wie wäre es, Kreationen in den Weltraum zu schießen, die keine Augen haben, mit denen sie das alles sehen können, und kein Herz, in dem sie dabei Jubel oder Angst verspüren? Ein Astronaut trainiert jahrelang in Schwimmbecken und Höhlen und U-Booten und Simulatoren, jeder Makel, jede seiner Schwachstellen wird gefunden, getestet und auf ein Minimum reduziert, bis das, was übrig bleibt, eine beinah perfekte Triangulation von Hirn, Gliedmaßen und Sinnesorganen ist. Manchen fällt das schwer, anderen leichter. Pietro fällt es leichter; er ist der geborene Astronaut, schon als Kind verfügte er über ein ausgezeichnetes Gleichgewicht, eine außergewöhnliche Ruhe und mentale Präsenz, sodass er die üblichen Wutanfälle im Kleinkindalter und Rebellionen der Teenagerzeit ausließ. Eine tiefe Neugier, ein kunstvoll angelegtes Hirn, Fokus, Optimismus und Pragmatismus; in seinem Innersten war er schon Astronaut, bevor er überhaupt wusste, was das ist. Aber kein Roboter, nein.

In seiner Brust sitzt ein Herz, das stolpert und sich überschlägt. Er kann seine Schläge langsam und gleichmäßig halten, Angst, Panik oder andere Impulse, die es sich angewöhnt hat, unterdrücken, seine Sehnsucht nach Zuhause unterbinden, wenn sie zu stark wird, das wenig hilfreiche Gefühl der Verlassenheit dämpfen. Ruhig und gefasst, ruhig und gefasst. Ein Metronom gibt das Tempo der Atemzüge vor. Und manchmal stolpert das Herz dann eben doch und überschlägt sich. Das Herz will, was es will, und hofft, was es hofft, und braucht, was es braucht, und liebt, was es liebt. So wenig gemein hat das Herz des Astronauten mit einem Roboter, dass es nach Verlassen der Erdatmosphäre anfängt, nach außen zu drücken – der Druck der Schwerkraft lässt nach und das Gegengewicht des Herzens drängt nach außen, als wäre ihm plötzlich klar geworden, dass es Teil eines Tieres ist, lebendig und fühlend. Ein Tier, das nicht nur Zeugnis ablegt, sondern das, von dem es Zeugnis ablegt, auch liebt. (Seite 58f.)

Genau das macht dieses Buch: Es legt Zeugnis ab, nicht nur vom Leben in der Raumstation, das auch. Vor allem aber vom Blick auf diesen Planeten Erde, der kein neutraler Blick ist, kein Blick eines Roboters, sondern der Blick eines Kindes auf seine Mutter: ein Blick voller Liebe.

Noch intensiver wird der Blick, wenn die Astronauten ihr Raumschiff verlassen, weil sie an der Aussenhülle zu arbeiten haben. Wenn sie im Raumanzug über der Raumstation schweben und vierhundert Kilometer unter sich die Erde sehen. Nichts dazwischen. Nur Raum – und ganz unten etwas Luft. Dann scheint ihnen die Erde wie aus Licht gemacht. Etwas, durch das sie hindurchgleiten könnten. Die Erde erscheint ihnen überirdisch. Sie blicken auf das Raumschiff, ihr Zuhause, und auf diese überirdisch schöne blaue Kugel.

Während ihrer Ausbildung hat man sie vor dem Problem der Dissonanz gewarnt. Davor, was es mit ihnen machen würde, wieder und wieder dem Anblick dieser nahtlosen Welt ausgesetzt zu sein. Ihr werdet ihre Fülle sehen, hat man ihnen gesagt, die Abwesenheit von Grenzen, außer jenen zwischen Land und Wasser. Ihr werdet keine Nationen sehen, nur einen dahinrollenden, unteilbaren Globus, der keine Möglichkeit der Trennung kennt, geschweige denn Krieg. Und ihr werdet widersprüchliche Dinge empfinden. Freudige Erregung, Anspannung, Begeisterung, Traurigkeit, Zärtlichkeit, Wut, Hoffnung, Verzweiflung. Denn natürlich wisst ihr, dass die Kriege zahlreich sind und dass Menschen für Grenzen töten und sterben. Von hier oben betrachtet gibt es vielleicht eine kleine, weit entfernte Unebenheit im Land, die auf ein Gebirge hindeutet, eine Ader lässt einen großen Fluss erahnen, aber das ist auch schon alles. Es gibt keine Mauern oder Schranken – keine Völker, keinen Krieg, keine Korruption oder irgendeinen anderen Grund zur Angst.

Bald ergreift sie alle ein Verlangen. Das Verlangen, nein, das inbrünstige Bedürfnis, diese riesige und zugleich winzige Erde zu beschützen. Dieses wundersame und auf bizarre Weise hübsche Ding. Das, in Ermangelung besserer Alternativen, so unverkennbar zu ihrem Zuhause geworden ist. Ein grenzenloser Ort, ein schwebendes Juwel, schockierend hell. Kann die Menschheit nicht in Frieden miteinander leben? Im Einklang mit der Erde? Das ist kein frommer Wunsch, vielmehr eine gereizte Forderung. Können wir nicht aufhören, die eine Sache, von der unser aller Leben abhängt, zu tyrannisieren und zu zerstören, zu plündern und zu vergeuden? Und doch hören sie die Nachrichten, sie leben ihr Leben, und nur weil sie Hoffnung haben, sind sie noch lange nicht naiv. Was tun sie also? Welche Maßnahmen sollen sie ergreifen? Und wozu sind Worte schon gut? Sie sind Menschen mit einem göttlichen Ausblick, und das ist Segen und Fluch zugleich. (Seite 119f)

Das ist das Kunstvoll-wunderbare am Buch von Samantha Harvey: Sie ermöglicht uns dank vieler ganz präzis geschilderter Alltagsdetails den Wechsel der Perspektive. Wir können mit ihr von Aussen auf die Erde schauen, unseren kleinen blauen Planeten. Sie schildert zum Beispiel, wie die Astronauten einen Taifun beobachten, ausmessen, fotografieren und sich darüber mit Meteorologen austauschen. Wie sie, unberührt vom riesigen Sturm, zuschauen müssen, wie der Taifun immer grösser wird. Wie sie immer wieder auf diesen wunderbaren Planeten schauen, die Berge und die Wüsten, die Küstenlinien, die Städte. Wie im Bild von Diego Velázquez, das das Anschauen selbst zum Thema hat, beobachten wir die Beobachter und beobachten uns beim Anblick, diesem göttlichen Anblick der Erde – und das verändert den Blick auf unseren Alltag hier, auf all die Grenzen und das kleinliche Gezänk, auf all das, was aus der Sicht der Raumstation einfach verschwindet. Weil wir eine andere Perspektive einnehmen. Das ist es, was dieses Buch so wunderbar macht. Das, und die ebenso poetische wie detailgetreue Schilderung des Alltags auf der Raumstation.

Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, 224 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-423-28423-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783423284233

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 23.12.2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/

Abonnieren Unterstützen Twint-Spende