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Die Zeit der Zikaden
Vor drei Jahren hat mich Moritz Heger mit seinem ersten Roman bezaubert. «Aus der Mitte des Sees» drehte sich um Lukas und Andreas, zwei junge Mönche in einem Kloster – und beste Freunde. Doch Andreas ist aus dem Kloster ausgetreten, er hat geheiratet – jetzt hat Lukas von ihm eine Geburtsanzeige erhalten. Andreas ist Vater geworden. Es ist eine Geschichte über Enge und Strenge und die Frage, wie wir mit dem Eingesperrtsein in unserem Alltag umgehen. Auch die Geschichte, die Moritz Heger in seinem neuen Roman erzählt, dreht sich um dieses Eingesperrtsein in seinem Leben. Alex Mattmann war jahrelang Deutschlehrerin an einem Gymnasium und hat da auch die Theatergruppe geleitet. Jetzt bricht sie aus ihrem Leben aus. Sie hat sich pensionieren lassen, die Altbaumansarde geräumt, in der sie einundreissig Jahre lang gewohnt hat, den grössten Teil des Hausrats verschenkt und ein Tiny-Haus auf Rädern gekauft. Sie will sich entwurzeln, ihre Sesshaftigkeit abstreifen und losziehen in die Welt. Durch Zufälle landet sie mit ihrem kleinen Haus in einem grossen Garten in Ligurien. Der Garten gehört zu einem Rustico, das Johann geerbt hat. Johann ist Bestatter von Beruf, hat sein Bestattungsunternehmen aber gerade seinem Sohn und der Schwiegertochter übergeben, einer ehemaligen Schülerin von Alex. Ebendiese Alex sitzt jetzt im Rustico Johann Modell, denn der möchte eigentlich Maler sein. Zwischen der pensionierten Lehrerin und dem malenden Bestatter entwickelt sich eine Beziehung. Trotz des Alters der Protagonisten ist es eine Coming-of-Age-Geschichte, in der alles passieren kann, aber niemand von Liebe spricht. Weil es etwas anderes ist. Die Frage ist: was? In meinem 218. Buchtipp sage ich Ihnen, warum ich Ihnen auch den zweiten Roman von Moritz Heger wärmstens empfehle.
Alex hat die Nase voll. Von Lehrplänen, Schulhierarchien und endlosen Sitzungen und, ja, auch ein wenig von den Schülerinnen und Schülern. Man meint, mit den neuen digitalen Tools früh die Selbstständigkeit der Kinder zu trainieren, doch dahinter bricht sich eine umso grössere Bedürftigkeit Bahn. Im alten Schulhaus hat sie die Theatergruppe geleitet. Sie hat sich einen Keller erkämpft, eine Bühne installiert und Jahr für Jahr mit Jugendlichen Texte in Theater verwandelt. Dann starb Sebastian. Das war nicht nur der Leiter der Schule. Sebastian und Alex haben sich geliebt, auch wenn das nicht offiziell war.
Sebastian war ganz plötzlich tot. An der Beerdigung wunderte sich Alex, wie viele Kollegen und vor allem Kolleginnen sie so fest in die Arme schlossen. Es wurde ihr klar, dass sie alles wussten – oder wenigstens das, was man wissen konnte. Spontan sprach sie am Grab das Gedicht. Laut vor aller Welt. Ihr Gedicht. Und dann ging sie nach Hause und setzte alle Hebel in Bewegung, nie mehr einen Fuss in diese Schule setzen zu müssen. Denn der Nachfolger von Sebastian war unerträglich. Ein Bürschlein. Alles entstauben wollte er und Humanismus ganz neu denken. Als erstes hat er ihre Theater-AG gestrichen. Er hat es natürlich anders ausgedrückt. Er sagte, es gehe darum, ein neues, multimediales Team aufzubauen und das Theater aus dem Keller zu holen.
Alex ergriff also die Flucht und unterrichtete die letzten Jahre an einer neuen Schule. Nur noch Deutsch, kein Theater mehr. Denn an der neuen Schule gab es keine ungenutzten Räume, gab es überhaupt keinen Keller, den die Jungs und Mädels hätten erobern können. Auf der digitalen Lernplattform natürlich schon gar nicht. Jetzt lässt sich Alex pensionieren und will ausbrechen aus allem. Sie hat ihre Wohnung verkauft und den Hausrat zum grössten Teil verschenkt. Sie hat sich ein Tiny-Haus auf Rädern bauen lassen und will jetzt als Nomadin in die Welt ziehen. Ihren Kolleginnen und Kollegen erklärt sie an der Abschiedsparty, was sie antreibt:
Wisst ihr, was ich gelesen hab? Ein total spannendes Buch, es stellt unsere Vorstellungen vom Ursprung der Menschheit auf den Kopf. Wir haben ja alle mal gelernt, erst Jäger und Sammler, aber da waren wir noch die halben Affen. Das Sich-Niederlassen wäre der große Fortschritt. Der Ackerbau. Stadtmauern. Statuen. Die Autoren sagen, es war genau andersherum. Als Nomaden waren wir schon viel weiter und freier. Mussten weniger Stunden am Tag schuften. Mussten keine Fremden für Sklavendienste unterjochen. Waren in unseren kleinen Gruppen insgesamt viel demokratischer. Was uns die Sesshaftigkeit eingebracht hat, ist Patriarchat und Karies! (Seite 56f.)
Erste Station von Alex ist die Hochzeit einer ehemaligen Schülerin, die bei ihr Theater gespielt hat: Wiebke heiratet Dominik, der auch gleich das Bestattungsunternehmen der Familie übernimmt. Am Hochzeitsfest lernt Alex Johann kennen, Dominiks Vater. Johann Wieczorek, Mitte Fünfzig, grauer, wirrer Schopf, übergewichtig, aber nicht dick. Johann ist sieben Jahre jünger als Alex. Und er möchte wieder Künstler sein. Genauer: Maler. Um den Jungen das Feld zu überlassen, verreist Johann nach Ligurien, in das verfallene Rustico eines verstorbenen Freundes. Aus einer Laune heraus lädt er Alex samt Tiny-Haus zu sich in den Garten ein. Und Alex kommt tatsächlich.
Beide, Johann und Alex, haben also die Zelte abgebrochen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Alex lässt nichts zurück, sie ist ungebunden. Johann hat Familie, eine Frau, einen Sohn und, wie sich mit der Zeit herausstellt, eine Tochter, der es schon länger zu eng geworden ist in der Familie. Beide brechen auf, weil sie ein neues Leben oder besser: eine neue Identität suchen. Das macht die Geschichte, auch wenn sie von zwei Menschen weit jenseits der Fünfzig handelt, zu einer Coming-of-Age-Geschichte. Als sie aus ihrem Tiny-House im Garten von Johann mit einer Freundin telefoniert, formuliert Alex es selbst. Die Freundin spricht sie auf das Porträt an, das Johann von Alex malt.
«Bei einem Porträt hängen halt zwei dran oder drin», sagt Uta. «Dein Johann will nicht mehr Bestatter, sondern Maler sein, und wenn er dir jetzt sein Bild von dir zeigt, mit großem Schwung das Tuch wegzieht, dann will er im Grunde, dass du es liebst. Dass du ihn liebst. Auf den ersten Blick. Als das, was er sein möchte.» «Das ist ein komisches Wort für diese Beziehung.» «Liebe?» «Hm. Irgendwie ist es nahe dran und irgendwie gar nicht. Manchmal hab ich das Gefühl, wir sind wie Jugendliche. So eine Coming-of-Age-Geschichte, wo alles passieren kann, aber noch keiner von Liebe spricht. Weil keiner von Liebe spricht. Kennst du das nicht? Je älter ich werde, umso mehr habe ich das Gefühl, ich trage alle Lebensalter, die ich mal hatte, in mir. Mal bin ich dreißig und mal zwölf, und mal bin ich so alt, wie ich bin.» (Seite 205)
Das sind die beiden zentralen Punkte: Es ist eine Geschichte, in der alles passieren kann, weil Johann und Alex alle Lebensalter in sich tragen. Und weil keiner von Liebe spricht. Aber was ist es dann?
Als Alex einmal spät abends von einer Wanderung zurückkommt, wartet Johann am Tisch vor dem Rustico bei einem Glas Wein auf sie. Das heisst: Er sitzt schon bei der zweiten Flasche, hat also schon einen sitzen, und macht sich Sorgen um Alex, ist auch, wenn er ehrlich ist, etwas eifersüchtig. Das passt Alex nicht. Sie sagt zu ihm:
«Ich sitze dir gerne Modell, Johann. Und ich bin echt gespannt auf dein Bild. Aber ich möchte nicht kontrolliert werden. Und auch kein schlechtes Gewissen haben. Wir haben keinen Vertrag. Du hast mich eingeladen, und ich bin gekommen, und ich mochte die Leichtigkeit daran. Mag sie noch. Das Utopische. Du bist ein schwerer Mensch, das habe ich bald verstanden. Das berührt mich, wenn du leicht wirst, Johann. Du berührst mich. Aber das Paradies gibt es nicht, und wenn es es gibt, ist es nicht das Paradies, sondern nur ein zugeschlossener Garten. Je älter ich werde, umso mehr denke ich: Letztlich kommt es immer aufs Hier und Jetzt an. Nicht in so einer billigen Weise, dass man nur auf den Putz haut, YOLO haben das meine Schüler genannt – sondern auf eine tiefe Art. Offen sein, wirklich offen sein … Wirklich den Tag pflücken, vom Baum der Unschuld …» (Seite 198f.)
Das ist der Kern: Beide wissen, dass es das Paradies nicht gibt. Das Paradies ist nur ein zugeschlossener Garten. Trotzdem suchen sie das Leben in Unschuld. Das heisst: Ein Leben frei von Unterordnung unter Nützlichkeit und andere Zwänge. Ein Leben in Offenheit. Deshalb hat Johann den bürgerlichen Wohlstand als Bestattungsunternehmer eingetauscht mit einem zerfallenden Rustico in Ligurien, deshalb hat Alex ihre geräumige Altbauwohnung voller Gegenstände und Geschichten verlassen und zieht in einem Tiny-House durch die Welt, einer kleinen Box auf Rädern. Mit dem Tinyhouse hat sie, das wird ihr immer klarer, ein Paket geschnürt, um sich selbst in die Zukunft zu senden. Auf diese Weise will sie sich dem Offenen des Lebens stellen und doch nicht einfach vom Fluss der Zeit weitergetrieben werden.
Moritz Heger schildert dieses Coming of Age von Alex und Johann in zurückhaltenden, präzisen Worten und zwar abwechselnd aus der Perspektive von Alex und von Johann. Alex erinnert sich immer wieder an einzelne Zeilen aus Gedichten und Liedern. Die Bandbreite reicht dabei von Christian Morgenstern und Ingeborg Bachmann bis zu Paul Young, Alphaville und, immer wieder, David Bowie. Daraus ergibt sich eine Art Soundtrack zum Buch, eine innere Playlist von «Grosser Gott wir loben Dich» bis «Space Oddity» und «Absolute Beginners».
Was mir an dem Buch besonders gut gefällt, ist die präzise Sprache. Moritz Heger versteht es, Gefühle und Gedanken in Sprache zu fassen, ohne sie dabei mit Worten zu erschlagen. Im Gegenteil verschaffen seine Worte den Gedanken Raum – es ist das, was eine poetische Sprache auszeichnet. Ich gebe Ihnen drei Beispiele dafür.
Alex denkt über Kunst nach: Kunst heißt für sie nicht, aus dem Vollen schöpfen. Kunst ist, das Beste daraus machen. Mach halt das Beste draus, für viele ein achselzuckender Satz. Aber nicht für sie. Das Beste, wenn es das wirklich ist, wenn es das gerade unter beschränkten Bedingungen wirklich ist, leuchtet immer. Polier es, geh noch mal drüber, sei zärtlich, und es wird leuchten. (Seite 20)
Über die Liebe denkt sie: Wie soll denn Liebe, echte Liebe, gehen, ohne sich abhängig zu fühlen? Das ist doch das Intensivste daran. Das Wehste und Schönste. (Seite 19)
Und über den Himmel: Man stellt sich den Himmel immer als eine Art zweite Welt vor, denkt sie auf einmal. Egal, ob man daran glaubt oder nicht daran glaubt. Als etwas Begrenztes. Dabei müsste er doch, wenn es ihn wirklich gibt, grenzenlos sein. (Seite 257)
Das Buch ist voller solcher Preziosen, Sätze und Wörter, die einen Gedanken nicht einfassen und einhegen, sondern anregen und befreien.
Und was hat es mit dem Titel «Zeit der Zikaden» auf sich? Renat, der Künstler, der vor Johann im Rustico wohnte, hat auf der letzten Seite seines Tage- und Skizzenbuchs einen Satz hinterlassen: Finde die Zikade. Im Garten in Ligurien bildet das schrille Zirpen der Zikaden am Abend das Hintergrundgeräusch. Obwohl die Zikaden ganz in der Nähe sein müssen, sind sie unsichtbar. Weder Alex noch Johann bekommen sie zu Gesicht. Alex sucht sie, versucht, dem Ton nachzugehen und bekommt dabei das Gefühl, es würde an ihrem eigenen Schädelknochen erzeugt. Sie sei die Zikade. Bis sie realisiert, dass es nicht eine Zikade ist. Es sind zwei. Zwei Zikaden, die umeinander werben. Ihr wird klar, dass man die Zikaden nicht finden kann, weil sie nur zirpen, wenn man sie nicht sucht. Die Zikaden öffnen mit ihrem Zirpen den Raum. Darin gleichen sie der Sprache von Moritz Heger, die einen Gedanken nicht aufspiesst und erschlägt, sondern einen poetischen Raum dafür eröffnet.
Moritz Heger: Die Zeit der Zikaden. Diogenes, 304 Seiten, 32 Franken; ISBN 978-3-257-07274-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072747
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Basel, 22. August 2024, Matthias Zehnder
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