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Unsereins

Publiziert am 5. Januar 2024 von Matthias Zehnder

Die «Buddenbrooks» kennen Sie bestimmt: den grossen Roman über den Niedergang der Lübecker Kaufmannsfamilie Buddenbrook, für den Thomas Mann 1929 den Nobelpreis erhalten hat. Der Roman schildert das Leben von vier Generationen Buddenbrooks zwischen 1835 und 1877. Die Handlung dieses Romans setzt 13 Jahre später ein: «Unsereins» von Inger-Maria Mahlke ist eine ähnlich epische Familiengeschichte, die ebenfalls in Lübeck spielt. Der Roman dreht sich um die Familie Lindhorst: kinderreich, konservativ, kaisertreu. Friedrich Lindhorst ist allerdings, sein erster Makel, nicht Kaufmann, sondern Rechtsanwalt und, sein zweiter Makel: er ist jüdisch. Hinter vorgehaltener Hand spotten die Lübecker deshalb über die Lindhorsts. Die Familie bildet das Zentrum des Romans, aber nicht nur sie steht im Fokus. Inger-Maria Mahlke weitet den Blick aus auf die Frauen und die Bediensteten in der Stadt. Auf die Haushälterin Ida, Lohndiener Charlie und Ratsdiener Isenhagen, die Schüler, die zur Pension beim Pfarrer wohnen, Wasserbaudirektor Schilling und dessen Tochter Henriette, die Journalistin wird. Auch Thomas Mann selbst taucht auf im Buch: Tomy, genannt der «Pfau», ist zu Beginn des Buchs Schüler in der «Anstalt». Gegen Ende erscheint sein grosser Roman, nur «das Buch» genannt. In meinem 185. Buchtipp sage ich Ihnen, warum es sich lohnt, einige Stunden mit den Lindhorsts, mit Ida, Charlie und Henriette in Lübeck zu verbringen.

Die Brüder Lindhorst gehören in Lübeck zum gehobenen Bürgertum. Achim Lindhorst, der älteste, ist Senator, also ein Minister im Stadtstaat. Heinrich Lindhorst ist Konsul, eine Art Handelsdiplomat. Nur Friedrich hat mit Handel nichts am Hut: Er ist Rechtsanwalt. Die Familie dieses Friedrich Lindhorst steht im Zentrum des Romans. Friedrich ist verheiratet mit Marie, der Tochter des berühmtesten Dichters der Stadt. Sie ist manisch-depressiv. Diese Diagnose gibt es Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht, es lässt sich aber aus ihren Handlungen ablesen. Friedrich und Marie haben zu Beginn des Romans sieben Kinder, sechs Söhne und eine Tochter. Ein achtes Kind ist unterwegs. Im Laufe der Erzählung wächst dieses achte Kind, Marthe, zum Teenager heran.

Während Thomas Mann seinen Roman ganz auf das Familienleben der Budenbrooks fokussiert und fast nur die gute, bürgerliche Stube im Blick hat, weitet Inger-Maria Mahlke den Blick von Anfang an aus auf das Umfeld der Familie, auf die Stadt und die Menschen, die da arbeiten und leben, vor allem auf die Frauen und auf die Bediensteten. Da ist zum Beispiel Ida Stuermann, das Dienstmädchen der Familie Lindhorst. Sie ist ein Beispiel für den bürgerlichen Niedergang, wie er Thema der «Budenbrooks» ist. 1870 verortet sie die Volkszählung von Lübeck noch als Stuermann, Ida, evangelisch, Tochter in einem guten Haus: der Vater ist Kaufmann mit eigenem Kontor, die Familie wohnt in einem gutbürgerlichen Haus mit fünf Zimmern, vier davon beheizbar. 1880, zehn Jahre später, ist ihre Mutter als Kaufmannswitwe registriert, drei Zimmer, zwei davon beheizbar.

«Dazwischen liegt eine schlecht vertäute Ladung Eisenstäbe, die beim Verladen ins Rutschen und erst zwei Zentimeter hinter dem Os frontalis des vorbeieilenden Kaufmanns zum Halt gekommen ist. So erzählte es zumindest seine Witwe. Gefunden wurde er jedenfalls morgens in der unteren Alfstrasse beim Hafen mit eingedrücktem Schädel.
1882 reduziert sich die Anzahl der weiteren im Haushalt lebenden Personen auf null, weil die alte Anna ins Altenasyl zieht. Und ein weiteres Jahr später ist der Stuermann’sche Haushalt aufgelöst und Stuermann, Johanna Henriette Luise, Kaufmannswitwe, im Beerdigungsregister unter Burgtorfriedhof, III. Gang, Parcelle 4c, verzeichnet.
Im Januar des Jahres 1890 steht Stuermann, Ida – Dienstmädchen – im ersten Stock des Haushalts Königstraße Nr. 9, Dr. Lindhorst – 23 Zimmer, 18 beheizbar – und versucht zu akzeptieren, dass sie Besen und Kehrschaufel von unten holen muss.» (S. 34)

Der Niedergang einer Familie, reduziert auf drei Textabsätze. Inger-Maria Mahlke überlässt es mir als Leser, mir aus den Stichworten ein Schicksal auszumalen. Auf wenigen Zeilen wird Johanna Stuermann, Ehefrau und Mutter von Ida, zunächst zur Kaufmannswitwe, dann ist sie auf dem Friedhof registriert und Ida arbeitet als Dienstmädchen bei den Lindhorsts. Das Drama findet beim Lesen nur in meinem Kopf statt. Das macht die Lektüre des Buchs spannend: Inger-Maria Mahlke zeigt mir ihre Figuren nur, sie urteilt nicht über sie.

Ida Stuermann begleitet uns durch das ganze Buch. Sie folgt stoisch den Launen der Gnädigen, hält dicht, wenn die Jungs betrunken und zu spät nach Hause kommen und knickst stumm vor Vater Lindhorst. Von Träumen ist nie die Rede. Aber sie besucht später einen Stenokurs und lässt sich auslachen dafür. Offensichtlich möchte sie sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden. Die Bahnen zu verlassen, die das Leben eingeschlagen hat, ist aber sehr schwierig. Nicht nur für Ida, für alle Personen, denen wir im Buch begegnen. Das Schicksal hängt ihnen so schwer an den Beinen wie Eisenkugeln in einem Gefängnis.

Denn Lübeck ist eine Handelsstadt, die von Kaufleuten regiert wird. Die Handelsherren regeln ihre Angelegenheiten untereinander. Otto, einer der Schüler der Anstalt, verrät ihre Losung: «Was ist der Mensch schon anderes als sein Kredit?» Bedienstete wie Ida, Charlie oder Isenhagen haben keine Chance, weil sie nicht kreditwürdig sind. Als einer der Lindhorst-Söhne die Syphilis einfängt, denkt er nicht etwa an seine Gesundheit. Er erschiesst sich, weil er weiss, dass er, auch und gerade bei der Familie, jeden Kredit verloren hat. «Was ist der Mensch schon anderes als sein Kredit?»

Doch die Zeit der Kaufleute geht zu Ende. Auch in Lübeck bricht gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung an. «Senator Stenzel ist der letzte der Handelspuristen, die früher den Senat dominierten und jegliche Industrieproduktion ablehnten. Die mache nur abhängig von den Armen. Der Handel benötige nur eine überschaubare Anzahl Träger, Hafenarbeiter, ein paar Kontorgehilfen, mit denen großzügige Tarife ausgehandelt sind. Die restlichen Arbeitslosen sind einerlei, und sollten sie stören, werden sie entfernt. Die Wiedereinführung der Torsperre wäre dafür allerdings wünschenswert.» (S. 137)

Doch diese geordnete Welt der Kontore und der Kaufleute ist daran, sich aufzulösen. Begonnen hat es mit der Fischkonservenfabrik. Auch für einige Handelsherren haben sich die Investitionen gelohnt. Mit der Industrie kommen die Arbeiter und die Sozialdemokratie. Beides ist bei den Kaufleuten verhasst. Einer der Aufsteiger ist Senator Pusselt, Unternehmer der Montanindustrie und völkischer Rechtsextremer. Sein Gegenspieler ist Theodor Schwartz, ein Arbeiter, Schriftsteller, Zeitungsherausgeber und vor allem Sozialdemokrat.

Aber das sind nur die politischen Kulissen, in denen sich das Familiendrama abspielt. Das Buch dreht sich nicht um Politik, sondern um die Menschen, die mit ihren Eisenkugeln an den Beinen durch den Schlick ihres Lebens waten. Georg Presswitz zum Beispiel, Schüler und Klassenkamerad von Tomy, dem mittleren Sohn von Senator Mann. Mit Georg erleben wir die Anstalt als Gefängnis. Das Schlimme:  Georg steht in allen Hierarchien ganz unten. In der Pause verbarrikadiert er sich im Primaner-Klo und entwirft im Kopf Briefe an seine Mutter in Berlin.

Oder Charlie Helms, der Lohndiener der Stadt. Ihn empfehlen die ersten Familien Bekannten, die neu zugezogen sind oder zurückgezogen leben und sich gezwungen sehen, ihre Gewohnheiten zu ändern, weil ihre Töchter das heiratsfähige Alter erreichen. Keiner weist so dezent auf den Tafelgeschirrverleih hin, sollte eine Einladung die Möglichkeiten der Hausfrau übersteigen. Charlie Helms führt Listen der für den gesellschaftlichen Verkehr in Frage kommenden Familien. Nach Einkommen geordnet, nach Berufen, ob protestantisch, reformiert, katholisch, neuerdings auch jüdisch, politisch konservativ, nationalliberal, linksliberal, musikbegeisterte, literaturbegeisterte, theaterbegeisterte Familien. Niemand sortiert Menschen so gekonnt wie Charlie Helms. Bloss er selbst bleibt dabei unsortiert: Er bewegt sich zwischen allen Familien und auch zwischen allen Konventionen. Denn Charlie Helms ist homosexuell und das ist 1890 ein Verbrechen. Auch das schreibt Inger-Maria Mahlke nicht explizit. Sie lässt es uns entdecken. Sie sagt es nicht, sie zeigt es.

Im ganzen Buch schafft es nur eine einzige Person, sich den Fesseln ihres Schicksals zu entledigen: Henriette, die Stieftochter von Wasserbaudirektor Schilling, muss sich nicht in eine Heirat zwängen. Sie erbt von ihrem leiblichen Vater ein kleines Vermögen und kann aus der Stadt flüchten. Sie beginnt zu schreiben und wird eine erfolgreiche Journalistin. Auch für sie gilt: Freiheit gibt es nur dank des Geldes. Henriette hat also Kredit geerbt – und was ist der Mensch anderes als sein Kredit?

Die Höchststrafe in der kleinen Stadt ist deshalb nicht die Syphilis, nicht Gefängnis, nicht der Tod, sondern der Entzug des Kredits. So wie Senator Mann seinen Söhnen den Kredit entzogen und sein Handelshaus liquidiert hat. Senator Mann hat nicht an die eigenen Söhne geglaubt.

«Noch schneller als die Todesnachricht verbreitete sich der Inhalt des letzten Willens von Senator Mann nach der Testamentsvollstreckung: zunächst entlang der Breiten- und der Königstraße, um dann in jede noch so kleine Gasse der alten Stadt einzusickern.
Hinrichtungsstimmung in den Kontoren. Todesurteilsschweigen in den Schreibstuben. Stille Abendessen hinter den Barockportalen. So mancher Kaufmann mustert die eigenen Söhne unverhohlen. Die größte Bedrohung eines Handelshauses kommt von innen. Durch unfähige Erben.
Liquidieren! Der letzte, verzweifelte Zug eines Sterbenden im Ringen um die Gewissheit, dass der eigene Name in Zukunft (auch wenn es nicht die eigene ist) nie neben den Wort gewordenen Abgründen Insolvenz und Bankrott stehen wird.
«Wie viel bleibt übrig?» ist über Wochen das meist diskutierte Thema in den Rauchzimmern – und auch die erste Frage, die Friedrich Lindhorst seinem Bruder Heinrich stellt, als dieser auf dem Weg zur Börse um kurz nach elf auf einen Kaffee hereinschaut. Der Verstorbene hat Heinrich Lindhorst gemeinsam mit Weinhändler Todtendorf zum Testamentsvollstrecker bestimmt, obwohl ihm deren gegenseitige Abneigung bekannt gewesen sein sollte.» (S. 238)

Thomas Mann taucht als Tomy, der «Pfau», immer mal wieder auf im Buch. Wir begleiten ihn auf dem Schulhof, in die Kneipe und nach Rom, wo er verzweifelt versucht, sein Notizheft zu füllen. Und dann erscheint sein Roman «Die Budenbrooks». Im Buch wird der Titel allerdings nie genannt. Da heisst das Buch immer nur «das Buch». Natürlich lesen die Lübecker es mit Argusaugen. Auch die Lindhorsts kommen darin vor. Im realen «Budenbrooks»-Roman heissen sie übrigens Hagenström. Friedrich Lindhorst berichtet seiner Frau Marie von dem Buch.

«Alles ist so seltsam verdreht.»
«Was ist seltsam verdreht?»
«Erinnerst du dich an den mittleren Sohn von Senator Mann, den Dunkelhaarigen? Von dem es eine Zeitlang hieß, dass er das Geschäft übernehmen werde?»
Marie nickt. «Vage.»
«Nun. Er hat ein Buch veröffentlicht.»
«Wie schön.»
«Wir kommen darin vor.» Sie blickt erstaunt auf. «Du kannst dich freuen, dich nennt er eine Schönheit.»
«Und Papa?»
«Kommt als Einziger gut weg, Jean Jacques Hoffstede. Nur ist er nicht dein Vater. Du seist aus Hamburg, schreibt er. Und hättest butterblondes Haar.»
Unwillkürlich fährt Maries Hand hoch, tastet über das Geflecht der, wie immer, akkurat am Hinterkopf aufgesteckten Zöpfe. Mittlerweile überwiegend weiß, fällt ihm auf.
«Bist du sicher, dass ich das bin?»
«Und anglisierte Züge.»
«Was meint er damit?»
Seine Schultern bewegen sich nach oben, auch wenn er wünschte, sie täten es nicht. «Eingefallene Brust, gelblicher Teint, spitzige lückenhafte Zähne – so beschreibt er mich.»
«Ohhh.» Marie lacht, beugt sich vor, streicht im Scherz mitleidig über seine Wange, ehe sie ihre Hand auf seinen Bauch sinken lässt: «Der ist zumindest nicht eingefallen.» (S. 396)

«Unsereins» lässt sich durchaus als Fortsetzung von «Budenbrooks» lesen. Thomas Mann erzählt die Geschichte des Untergangs einer bürgerlichen Familie, Inger-Maria Mahlke erzählt vom Untergang des ganzen Bürgertums. Wie Lübecker die «Budenbrooks» entschlüsselt und auf sich bezogen haben, kann man «Unsereins» entschlüsseln und auf die «Budenbrooks» beziehen.

«Unsereins» lässt sich aber auch für sich lesen. Als leise erzählter Roman über die Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts, der nicht nur von den Patriarchen handelt, sondern den Frauen und den Bediensteten mindestens ebenso viel Gewicht gibt. Inger-Maria Mahlke erweist sich als Meisterin des Andeutens. Sie sagt uns nicht, was sie erzählt, sie zeigt es nur, höchstens ab und zu garniert mit leisem Spott. Für mich ist «Unsereins» ein wirklich grossartiger Roman. Und der zentrale Satz des Buchs, «Was ist der Mensch schon anderes als sein Kredit?», gibt mir zu denken. Denn dieser Satz gilt heute noch.

Inger-Maria Mahlke: Unsereins. Eine epische Familiengeschichte. Rowohlt, 496 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-498-00181-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498001810

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Basel, 4. Januar 2024, Matthias Zehnder

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