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Truboy
Den amerikanischen Schriftsteller Truman Capote kennen Sie sicher als Autor von «Breakfast at Tiffany’s» – und wenn Sie das Buch nicht kennen, haben Sie sicher den Kult-Film mit Audrey Hepburn gesehen. Truman Capote selbst war alles andere als glücklich mit der Besetzung: Er hatte sich Marilyn Monroe gewünscht. Der Film mit Audrey Hepburn als Holly Golightly überdeckt und überstrahlt den Schriftsteller Truman Capote und sein Werk. Es ist heute fast vergessen, dass er ein Pionier des literarischen Journalismus war, des so genannten «New Journalism». Wie kein zweiter verstand er es, journalistische Fakten mit literarischen Erzähltechniken zu verbinden. Das Resultat war eine neue Form von Literatur im Schnittfeld von Belletristik und Journalismus, die sowohl informativ als auch emotional packend war. Jetzt hat Anuschka Roshani ein Buch über Truman Capote geschrieben, mit dem sie im allerbesten Sinn in die Fussstapfen des Meisters tritt. Sie hat sich in den USA auf die Suche nach einem verschollenen Werk von Truman Capote gemacht und dafür mit dessen Freunden und Weggefährten gesprochen. Über diese Suche hat sie eine packende Reportage geschrieben und darin mehr Informationen über Truman Capote gepackt, als in vielen Sachbüchern über ihn stehen. Wie sie sich dabei nicht nur inhaltlich, sondern auch formal dem Meister nähert, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 222. Buchtipp.
Am 30. September 1924, also fast auf den Tag genau vor 100 Jahren, ist Truman Capote in New Orleans geboren und zwar als Truman Streckfus Persons. Seine Mutter Lillie Mae Faulk, die ihn eigentlich abtreiben wollte, lässt sich bald von Mr. Persons scheiden und deponiert den kleinen Truman bei der Grossmutter in Alabama. Seinen Nachnamen Capote erhält er von seinem Stiefvater, einem Mann aus Kuba, den seine Mutter in New York heiratet, als Truman zehn Jahre alt war. Diese Flucht von Mutter Lillie Mae nach New York ins Glück klingt viel später wieder an in der Geschichte von Holly Golightly in «Breakfast at Tiffany’s». Holly Golightly heisst eigentlich Lulamae Barnes – nicht zufällig erinnert dieser Name an Lillie Mae, den Namen von Trumans Mutter.
Truman ist schon als Kind ein Sonderling. Er ist klein, er ist einsam, er ist schwul – und er ist intelligent. Und zwar wirklich: Bei einem Intelligenztest in der Grundschuljahre schneidet Truman so gut ab, dass die Wissenschaftler nachmessen. Es bleibt dabei: Truman erzielt einen IQ von 215 – laut eigenen Angaben die höchste je gemessene Intelligenz eines Kindes in den USA. Truman ist ein Genie und er weiss es schon sehr früh.
Aber er ist auch ein Problemkind. Er merkt früh, dass er schwul ist – im Amerika der 1930er Jahre noch ein Tabu. Er ist einsam, er ist seltsam und er ist ängstlich. «Was wir auch tun, es geschieht aus Angst.», schreibt Truman Capote als 22-jähriger. Er schafft es schon früh, diese Angst literarisch zu fassen und ihr Ausdruck zu geben. Anuschka Roshani schreibt:
Ich glaube, mich hat Truman Capote als lebenslange Freundin gewonnen, als es ihm glückte, seiner Angst eine künstlerische Gestalt zu verleihen. Und da Lesen heißt, sich einzufühlen, so wie Schreiben das Bemühen ist, sich einzufühlen, Literatur eigentlich nichts anderes ist als praktiziertes Einfühlungsvermögen, deshalb bedeutet Truman Capote zu lesen für mich, seinen, meinen, vielleicht unser aller stärksten Ängsten auf den Grund zu gehen. (Möglichst, bevor sie uns einholen.) Seine Angst kennenzulernen. Denn was man kennt, das kann einen nicht mehr derart schrecken wie das Unbekannte mit seinem verborgenen Gesicht. (Seite 15)
Literatur als praktiziertes Einfühlungsvermögen – wir kommen darauf noch zurück. Truman will schon als Kind Schriftsteller werden und schreibt sehr früh eigene Texte. 1940, Truman ist 16 Jahre alt, erscheint in der Schülerzeitung seiner Schule in New York eine erste Kurzgeschichte. Als er 22 Jahre alt ist, erhält er für «Miriam» den bedeutenden O.-Henry-Preis für englischsprachige Kurzgeschichten. Zwei Jahre später erhält er den Preis für «Shut a Final Door» gleich noch einmal. Im gleichen Jahr erscheint sein erster Roman, «Other Voices, Other Rooms» – eine literarische Sensation.
In den 1950er Jahren reist er längere Zeit kreuz und quer durch Europa und hält sich immer wieder in Paris auf. Aus dieser Zeit stammt wohl auch das Foto auf dem Umschlag des Buchs. Roshani schreibt, es sei in Taormina entstanden und sei Capotes privatem Fotoalbum in seinem Bibliotheksnachlass entnommen. Fotografiert hat ihn Sehr wahrscheinlich sein langjähriger Lebenspartner Jack Dunphy. 1958 erscheint «Breakfast at Tiffany’s» – und wird zum Welterfolg. Danach recherchiert Capote sechs Jahre lang über einen Mehrfachmord an einer Farmerfamilie in Kansas. Er besucht nicht nur den Tatort, er verbringt auch viele Stunden mit den Mördern im Gefängnis. Daraus kompiliert er «In Cold Blood», auf deutsch «Kaltblütig» – ein Tatsachenroman und der Beginn des New Journalism. Das Buch wird 1966 zum Bestseller.
Publizistisch hat Truman Capote damit seinen Höhepunkt erreicht – und stürzt ab in Parties, Alkohol, Drogen und Tabletten. Jahrelang arbeitet er danach an «Answered Prayers» – auf Deutsch: «Erhörte Gebete». Es soll ein Schlüsselroman über die High Society werden. 1975 erscheint das erste Kapitel aus dem Roman im Magazin «Esquire» – und führt zum grossen Skandal. Capote hatte über all die Jahre die grossen und kleinen Geheimnisse seiner Freundinnen aus der High Society aufgeschrieben und eine ganze Reihe davon kaum verschlüsselt schon im ersten Kapitel ausgeplaudert. Seine Freunde verstossen ihn, insbesondere seine «Schwäne», die reichen, schönen Frauen der gehobenen Gesellschaft, wollen nichts mehr von ihm wissen. Danach kommt – nichts mehr. Der immer wieder angekündigte Roman, an dem Truman Capote bis am Ende seines Lebens gearbeitet haben soll, ist nie erschienen.
Aber es gibt Gerüchte, dass es das Manuskript gibt. Truman Capote soll es in einem Bahnhofschliessfach eingeschlossen haben. Es wäre eine Sensation, wenn das Manuskript auftauchen würde. Anuschka Roshani hat sich deshalb auf den Weg in die USA gemacht, um das Geheimnis zu lüften. Ganz abwegig ist das nicht. Sie hat schon einmal verschollene Werke von Capote entdeckt. Auf der Suche nach «Erhörte Gebete» hat sie im Sommer 2014 das Frühwerk von Capote aufgespürt, ein Dutzend Gedichte und 20 Kurzgeschichten. Capote hat sie im Alter zwischen 14 und 17 geschrieben. Auf Deutsch sind sie unter dem Titel «Wo die Welt anfängt» bei Kein&Aber erschienen. Anuschka Roshani hat also ein Händchen für Entdeckungen. Vielleicht gelingt ihr noch einmal ein Coup?
Sie ist wieder in die USA gereist und hat jene Menschen getroffen, die in seinen letzten Tagen für Truman Capote wichtig waren. Von dieser Reise und den Gesprächen handelt ihr Buch. Es ist also eine Reportage über eine Recherche. Weil Anuschka Roshani sich dabei intensiv mit Truman Capote beschäftigt, ist es zugleich Capote-Biografie, Leseschlüssel zu seinen Büchern, Schnitzeljagd durch sein Werk und seine Notizen und literarisches Denkmal für einen unvergesslich kreativen Schreiber.
Im Rahmen ihrer Recherche trifft sie Kate Harrington, die von Truman Capote als junge Frau quasi adoptiert wurde, als der eine Affäre mit ihrem Vater hatte. Ja, es ist kompliziert. Gordon Lish, ein zu seiner Zeit berühmt-berüchtigter Literaturkritiker, der Truman Capote überredet hatte, dieses eine Kapitel von «Erhörte Gebete» in «Esquire» zu veröffentlichen. Bob Colacello, Freund und Assistent von Andy Warhol und langjähriger Chefredakteur von dessen Kult-Magazin «Interview». Gerald Clarke, Journalist und Autor der grossen Capote-Biografie. Eigentlich hatte er vor, lediglich einen Artikel über Capote zu schreiben. Doch dann uferte das Vorhaben aus. Er führte über 100 Stunden Gespräche mit ihm und beschäftige sich zehn Jahre lang mit Capote. Don Bachardy, Kunstmaler und Lebenspartner des Schriftstellers Christopher Isherwood. Die beiden waren mit Capote befreundet, Bachardy hat ihn mehrfach gezeichnet und gemalt. Kate, Gordon, Bob, Gerald, Don – mit ihnen allen redet Anuschka Roshani über Truman Capote, als wäre der grad auch noch anwesend gewesen und hätte den Raum nur kurz verlassen, weil er mal pinkeln musste.
Natürlich geht sie mit Fragen und Thesen in die Gespräche. Zum Beispiel geht sie davon aus, dass Capote als altes Kind auf die Welt kam und als altes Kind von ihr ging. Dass Truman eigentlich ein Boy blieb – was auch «Truboy» erklärt, den Titel des Buchs. Gordon Lish bestätigt diese These, er sagt, dass ein Schriftsteller wie Capote sich an seinen besonderen Erfahrungen in den allerersten, frühesten Lebensjahren ausrichtet. Das waren traumatische Erfahrungen voller Angst vor dem Alleinsein – entsprechende Spuren finden sich im ganzen Werk von Capote.
Bob Colacello zeigt ihr, dass Capote alles andere als ein Zyniker war, auch wenn sich «Erhörte Gebete» wie das Werk eines Zynikers liest. Bob sagt:
«Truman war ein Romantiker, Andy ein Zyniker. In der Tiefe seines Herzens war auch Andy romantisch, aber er wollte eine Maschine sein, keine Gefühle haben. Er sagte mir, du glaubst an die Liebe, Bob. Werde reich und berühmt, dann kannst du jeden haben. Und ich erwiderte ihm, Andy, du bist reich und berühmt, und es scheint gar nicht so zu laufen, wie du sagst.»
«Capote schrieb in ‹Erhörte Gebete›: ‹Just being rich isn’t enough.›»
«Ja, für Andy dagegen war es ein Lebensziel.»
«Und hielten Sie an Ihrem Freund Cameron fest, obwohl Warhol Ihnen diesen madig machen wollte?»
«Nach unserem kleinen Schwimmen setzte mich Truman ins Taxi an der First Avenue und sagte in seiner little loud voice, während mich der Taxifahrer komisch musterte: ‹Hör nicht auf Andy! Er hat nicht den leisesten Schimmer davon, was Liebe ist.› Das markiert den ganzen Unterschied zwischen Truman und Andy in einem einzigen Satz.» (Seite 188)
Nach dem Gespräch mit Bob fällt Anuschka Roshani eine handschriftliche Notiz von Capote aus einer seiner späten Kladden in seinem Nachlass ein. An den Rand eines Entwurfs von «Erhörte Gebete» hat er gekritzelt: «Tobe captured: the price of being beautiful.» Ein Zitat der Dichterin Marianne Moore. «Gefangen genommen werden: der Preis dafür, schön zu sein.» Tropische Fische unternehmen weite Reisen, nur um schließlich in einem Aquarium zu landen. Und ich frage mich, ob Capote sich, in einer Anwandlung von Selbsthass oder bloß Verzweiflung, als einen solchen Tropenfisch sah. Der nach einer aufsehenerregenden Reise – währenddessen von kleineren Fischen für seine Exotik bewundert – in der Falle geendet war. Vielleicht sogar sehenden Auges in sein Verderben schwamm. Durch ein Meer von Lügen, in dem auch die Lügen über sich selbst schwammen. Nur um am Ende seines Wellenritts festzustellen, dass er begafft worden war, statt je wirklich gesehen. (Seite 192)
Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was das Buch ist, was Anuschka Roshani geschrieben hat. Ich weiss nur, dass es verdammt gut geschrieben ist. Ich habe durch ihr Buch die Texte von Truman Capote neu gelesen – und wohl erst jetzt auch ein bisschen verstanden. Das ist bemerkenswert, denn ihr Buch ist keine objektive Biografie, sondern eine subjektive Reportage. Anuschka Roshani lässt uns an ihren Erlebnissen und Gefühlen teilhaben und an ihrer Liebe zu Truman Capote. Sie schreibt selbst:
Kann es sein, dass die Zuneigung den Blick verschleiert? Hängt über viele Jahre gewachsene Freundschaft wie eine Nebelkerze in der Atmosphäre und nimmt einem die Sicht? Bei den Menschen, die mir am nächsten stehen, habe ich manchmal das Gefühl, mein Blick auf sie verschwimmt so, als würde ich meine Nase zu nah an ein Schaufensterglas pressen. Für ein klares Urteil habe ich den Abstand verloren; andererseits hilft das dichte Davorstehen an der Scheibe dabei, gnädig zu sein, ein liebender Mensch. Außerdem erfahren wir ja im Laufe der Zeit, dass wir alle fluide Wesen sind, die immer nur eine Augenblickswahrheit fühlen, keine apodiktische, die ein Leben lang anhält. Vielleicht macht das die letzte Wahrheit so unerträglich. (Seite 258)
Es geht mir beim Lesen auf, dass der Zugang, den Anuschka Roshani uns zu Truman Capote eröffnet, nicht ein rationaler, sachbezogener Zugang ist, kein Blick durch ein Mikroskop oder auf den Bildschirm eines Röntgengeräts. Nein, sie ermöglicht uns Mitgefühl mit Truman Capote. Sie schreibt selbst, dass sie erkannt habe dass Schreiben und Lesen und Träumen sich auf den immer gleichen Vorgang besinnen: den des Übersetzens von Emotionen. Kapiere, dass Gefühle vom Unterbewusstsein in ein Geschehen übersetzt werden, in Handlung, und aus einer gefühlten Wahrheit Sprache wird. Beim Schreibenden, Lesenden, Träumenden eine Erinnerung wach wird, ein Abdruck der Vergangenheit – und der wiederum in etwas sehr Persönliches rückübersetzt wird. Wie verrückt, dass diese »synaptische Synchronisation» von Menschen unbewusst abläuft, die Imaginationen simultan und mühelos ineinandergreifen wie Zahnräder ein und desselben Organismus. (Seite 279)
Das ist es, was die Texte von Truman Capote ausmacht – und es ist das, was das Buch von Anuschka Roshani über ihn auszeichnet. Sie ermöglicht uns Mitgefühl. Und die grosse Entdeckung? Ist ihr die gelungen? Das verrate ich Ihnen natürlich nicht. Aber ich kann Ihnen garantieren, dass Sie mit ihrem Buch Truman Capote neu entdecken werden.
Anuschka Roshani: Truboy. Mein Sommer mit Truman Capote. Kein & Aber, 352 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-0369-5053-2
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783036950532
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Basel, 18. September 2024, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
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