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Demon Copperhead

Publiziert am 1. Mai 2024 von Matthias Zehnder

«David Copperfield» ist einer der wichtigsten Bildungsromane der Literaturgeschichte: Charles Dickens erzählt darin die Geschichte des Waisenjungen David Copperfield, der es im viktorianischen England trotz widriger Umstände schafft, sich durchzusetzen und das soziale Elend hinter sich zu lassen. Erschienen ist der Roman 1850. Jetzt hat die amerikanische Autorin Barbara Kingsolver die Geschichte neu erzählt. Sie verlegt die Handlung vom viktorianischen London ins ländliche Virginia der Gegenwart. Der Rahmen bildet die Opioidkrise, die grassierende Schmerzmittelsucht in Amerika, und ihre krassen Folgen. Demon Copperhead heisst ihr Held. Wie David Copperfield wächst er als Waise auf, muss sich selbst durchschlagen – und gerät dabei selber in eine Schmerzmittelabhängigkeit. Ich habe das Buch ohne grosse Erwartungen zu lesen begonnen. Eine Nacherzählung – what else. Doch dann hat mich die Geschichte gepackt. Ich konnte das Buch kaum mehr weglegen – und das will bei einem Umfang von über 800 Seiten etwas heissen. In meinem 202. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich Ihnen das Buch zur Lektüre empfehle, auch wenn Ihnen «David Copperfield» und Charles Dickens schnuppe sind.

«David Copperfield» spielt in England, vor allem in London. Barbara Kingsolver verlegt die Handlung in ihre Heimat: in die Appalachen. Das ist eine Hügel- und Waldlandschaft im Nordosten der USA. Zu den Appalachen gehören der Norden von Georgia, Ost-Tennessee, das westliche North Carolina, die Kohleabbaugebiete von Kentucky, Teile von Pennsylvania und West Virginia. Barbara Kingsolver ist selbst hier aufgewachsen, im Osten von Kentucky.

Im Interview mit Ezra Klein von der «New York Times» erzählt Barbara Kingsolver, dass sie ursprünglich eine Geschichte über die Opioidepidemie schreiben wollte. Opioide sind Schmerzmittel wie Morphin, die opiumähnliche Wirkstoffe enthalten und schnell süchtig machen. 1996 brachte die amerikanische Firma Purdue Pharma ein neuartiges Schmerzmittel namens Oxycontin auf den Markt, das die Schmerzen schnell lindert und angeblich nur ein sehr geringes Suchtpotenzial hat. Das Unternehmen warb aggressiv für das Medikament. Das Medikament enthält jedoch Oxycodon, ein stark wirkendes halbsynthetisches Opioid mit hohem Suchtpotenzial. Purdue Pharma sorgte dafür, dass das Medikament von Ärzten massenhaft verschrieben wurde, auch bei Alltagsschmerzen und Unfällen. Die Folge: Vor allem in ländlichen Gebieten wurden viele Menschen abhängig und stiegen schnell auf stärkere Drogen um wie Heroin – und Fentanyl. Das ist ein Betäubungsmittel, das 50mal stärker wirkt als Heroin. Das Wort «Opioidkrise» ist eigentlich viel zu harmlos für das, was in den USA passiert ist: Heute ist Fentanyl unter US-Amerikanern in der Altersgruppe zwischen 18 und 45 Jahren die häufigste Todesursache.

Dieser Opioidkrise also und ihren massiven Auswirkungen auf die Kultur, die Familien und vor allem die Kinder wollte Barbara Kingsolver eine Geschichte widmen. Ezra Klein sagte sie, die Schmerzmittel hätten in ihrer Heimatregion so viel Gutes zerstört, das ihr lieb und teuer war. Sie wollte über diese Region schreiben und über die Kinder und Jugendlichen, die Schaden genommen haben. Es schien eine hoffnungslos traurige Geschichte zu werden. Sie sagt, in einigen Countys in den Appalachen seien zwischen 15 und 35 Prozent der Kinder nicht von ihren Eltern grossgezogen worden, weil die abhängig, im Knast oder tot waren. Die Kinder kommen in Pflegeeinrichtungen, aber die sind hoffnungslos überlastet. Sie war sich sicher, dass niemand eine Geschichte darüber lesen wollen würde.

Dann hatte sie 2018 während eines Arbeitsaufenthalts in England Gelegenheit, ein Wochenende in jenem Haus zu verbringen, in dem Charles Dickens «David Copperfield» geschrieben hatte. Sie bekam eine Führung und konnte sich an seinen Schreibtisch setzen. Da habe sie plötzlich eine starke emotionale Verbindung gespürt, erzählt sie. Viele Romane von Charles Dickens waren leidenschaftliche Anklagen gegen die institutionelle Armut und ihre verheerenden Auswirkungen auf das Leben von Kindern. Er kannte beides, weil er es beides selbst erlebt hatte. Kingsolver sagt, sie sei sicher, dass auch zu Dickens Zeiten niemand in seiner Gesellschaft etwas davon wissen wollte. Er habe es geschafft, diese traurigen Geschichten so spannend zu erzählen, dass die Figuren leidenschaftlich, witzig und real seien. Dickens habe gewusst, dass die Perspektive das wichtigste Werkzeug des Schriftstellers sei und deshalb ein Kind seine Geschichte erzählen lassen. An jenem Wochenende in England habe sie mit der Arbeit an ihrem eigenen «David Copperfield» begonnen. Sie habe beim Schreiben Dickens immer an ihrer Seite gehabt. Denn die Themen, um die es geht, sind immer noch dieselben: Tod der Eltern, Einsamkeit, Armut, Kinderarbeit.

Das alles wusste ich schon, als ich den Roman zur Hand nahm. Ich hatte meine Zweifel. Sich auf ein grosses Vorbild zu berufen ist das eine. Selbst ein gutes Werk abzuliefern, etwas ganz anderes. Ich nahm den Roman zur Hand, begann zu lesen – und war sofort gefangen. Die David-Copperfield-Figur im Buch von Barbara Kingsolver heisst Damon Fields. Er kommentiert trocken: «War ja klar, dass Mom ein Name einfallen würde, der zu einem zuckerärschigen Boygroupsänger passt. Was hatte sie sich dabei eigentlich gedacht? Ich war nicht mal abgestillt, da hatten die Leute schon ‹Demon› daraus gemacht.» Demon wie Dämon – also: Teufel. Weil er kupferrotes Haar hat, nennen ihn die Leute Copperhead – Kupferkopf. Copperhead ist allerdings auch der Name einer Giftschlange, einer rostroten Vipernart, die in der Gegend lebt. Copperhead ist also nicht gerade als Kompliment gedacht.

Dieser Demon Copperhead kommt in einem Wohnwagen in Lee County, Virginia, zur Welt. Seine Mutter ist selbst noch ein Teenager und sie ist drogensüchtig. Sie hat kaum Geld und ist immer mal wieder in einer Entziehungskur und sie stirbt bald an einer Überdosis. Demon gerät in die Fänge eines überforderten Pflegesystems und wird von gelangweilten und schlecht informierten Beamten immer wieder neuen Pflegefamilien zugewiesen. Die kommen selbst kaum über die Runden und sind auf das behördliche Pflegegeld als Zusatzeinkommen angewiesen. Demon hungert, muss schon als Kind arbeiten und sich sein Essen und seine Kleider selbst verdienen.

Endlich scheint es das Schicksal einmal gut zu meinen mit Demon: Er findet ein zu Hause bei Coach Winfield, dem Trainer der Football-Mannschaft in Lee County, und dessen Tochter Agnes, die sich aber «Angus» nennt, weil ein Mädchen im Haus eines Football-Coachs nichts zu sagen hat. Coach Winfield, dessen Frau kürzlich verstorben ist, nimmt Demon unter seine Fittiche. Demon hat gelernt, wie man sich ins Zeug legt. Er wird zum aufstrebenden Football-Star der Schule. Doch dann verletzt er sich schwer am Knie. Bisher hat er höchstens ab und zu etwas Gras geraucht, ein paar Pillen gespickt und ein, zwei Drinks gekippt. Jetzt wird er vom Coach und dem Team-Arzt mit Schmerzmitteln vollgestopft – mit Oxycontin. Und er wird abhängig. Wie David Copperfield auch kämpft Demon gegen den Absturz, seinen eigenen und den seiner Freunde. Diese Passagen der Geschichte haben mich stark an «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» und Christiane F. erinnert.

So weit so gut. Zweifellos ein wichtiges Buch, eine wichtige Geschichte. Was mich total überrascht hat, ist die Schreibweise. Das liegt sicher auch an der Übersetzung von Dirk van Gunsteren: Das Buch ist stark geschrieben. Die Sprache hat Zug, man sieht Demon förmlich vor sich sitzen, wenn er seine Geschichte erzählt, zappelig, mit dem Stuhl kippelnd, etwas vorlaut und altklug aber immer mit starken Worten. Zum Beispiel macht Barbara Kingsolver die Gefühle von Demon wirklich nachvollziehbar. Wie nach dem Tod seiner Mutter nicht der Schmerz dominiert, sondern die Wut. Die Wut auf seinen gewalttätigen Stiefvater, aber vor allem auf seine Mom, die ihn hat sitzen lassen, um sich in den Himmel zu verpissen, wie Demon es ausdrückt. Oder seine Cousine Emmy, die als erster Mensch nett zu ihm ist, obwohl auch sie eine Waise ist. Sie sehen sich in die Augen und für eine Weile sind sie zusammen traurig. Demon wird nie vergessen, wie sich das anfühlt. Als wäre er nicht mehr hungrig.

Und vor allem dieses Gefühl, nichts zu sein und nichts zu zählen. Nicht dazuzugehören. Ein Ausgestossener, ein Aussortierter zu sein.

Manche werden jetzt sagen, dass ich ja nie was Besseres war. Nicht mal im Krankenhaus geboren von einer Mom, die danach mit mir in ihren Trailer zurückgekehrt ist, nein, ich wurde im Trailer geboren – fast so was wie ein Prinz des Trailergesindels. Kinder wie ich, denen ihre Teenage-Moms Whiskey aufs Zahnfleisch reiben, damit sie still sind, oder Cola ins Fläschchen geben, sind echt arm dran. Dabei hatte ich nicht schlechter angefangen als andere Kinder, hatte gelernt, bitte und danke zu sagen, meine Hausaufgaben zu machen und was man sonst noch tun muss, um ein Lächeln abzukriegen. Ich spielte, um zu gewinnen, hatte meinen Stolz und meine Träume. Und wenns nur Kleine-Jungs-Träume waren wie Carol Danvers zu heiraten oder später mal ein Avenger zu sein – na und? Ich stand jeden Morgen auf und dachte, dass da draussen die Sonne schien, für mich genauso wie für jeden anderen. (Seite 249)

Doch Demon muss lernen, dass die Sonne für ihn eben nicht scheint wie für alle anderen. Er war und ist das Kind, das arbeiten musste, als die anderen spielten. Oder lernten.

Wussten die anderen mehr als ich über Pronomen und Subjunktionen und das römische Weltreich? Na klar. Ich hatte mich vor über einem Jahr innerlich von der Schule abgemeldet und war so weit im Rückstand, dass ich mir vorkam wie bei einem Wettlauf mit meinem eigenen Arsch. Aber das Seltsame war nicht, was ich nicht wusste, sondern das, was ich wusste. Dass ich immer auf der Hut sein musste. Was eine Nutte mit «Spass», ein Arschloch mit «Disziplin» und eine Sachbearbeitern mit «Wir arbeiten dran» meinte. Und was Geld war. Gott im Himmel!
Was zwischen diesen blinden Welpen und mir stand, war, dass ich wusste, wie viele geleerte Batterien, wie viele von hier nach da geschleppte Müllsäcke, wie viele Stunden den Unterschied zwischen einem Ein- und einem Zehn-Dollar-Schein ausmachten. Ich war tätowiert mit der Scheisse des Lebens: Ich war verprügelt und belogen worden, tagelang stoned und wochenlang hungrig gewesen. Ich wollte nicht wie diese anderen Kinder sein. Aber der seltsame Fisch auf dem Trockenen wollte ich auch nicht sein, davon hatte ich die Schnauze voll. Ich hatte ständig das Gefühl, gleich würde einer kommen und mir sagen, ich und meine teuren neuen Schuhe hätten hier nichts verloren, und ich sollte wieder in dem Loch verschwinden, aus dem ich gekrochen war. (Seite 354f.)

Demon ist tätowiert mit der Scheisse des Lebens. Er glaubt, dass er das zwischenzeitliche Glück, das er als aufkommender Football-Star bei Coach Winfield erlebt, nicht verdient hat. Dass die Menschen merken werden, wer er wirklich ist – und dass er wieder in seinem Loch verschwinden muss. Er will das Leben deshalb mit beiden Händen in sich hineinschaufeln.

Seit ich lebe, will ich mehr, als ich haben kann. Keinen kleinen Fischteich für Demon, nein, er will den ganzen Ozean. Und dann will er sich kopfüber reinstürzen. Ich habe mich erst reichlich spät mit dem Problem meines Ichs beschäftigt, aber vielleicht noch nicht genug. Diese Geschichte zu erzählen, soll angeblich alles klarer werden lassen. Es ist eine Krankheit, hört man jetzt von vielen: von den gebrochenen Seelen, die in Narcotics-Anonymous-Treffen wieder aufgerichtet werden, genauso wie von Therapeuten in zugeknöpften Strickjacken. Na gut. Aber woher kommt es denn, dieses krankhafte Haben-Wollen? Bin ich damit geboren? Habe ich es von denen, die mich gezeugt haben? Oder von den Leuten, mit denen ich später zusammen war? Jeder warnt einen vor schlechten Einflüssen, aber das, was einen zu Fall bringt, trägt man schon in sich. Diese Rastlosigkeit tief drinnen – wie ein Kater, der im mondlosen Dunkel herumstreift und sich verblödet in blutige Kämpfe stürzt. Dieser unerfüllbare Wunsch, der einem keine Ruhe lässt… (Seite 449)

Dieses Haben-Wollen führt Demon zunächst zu Gras und Whiskey und zu allerlei Pulvern und Pillen. Und dann hört er zum ersten Mal von Oxy, also von Oxycontin.

Was ist Oxy?, hatte ich gefragt. In jenem November war es noch nagelneu. Oxycontin, Gottes Geschenk an den Arbeitslosen, der im tiefsten Loch hockt und dessen Rücken- und Halswirbel knirschen wie Kies. Für die gebeugte Frau mit den kaputten Knien, die bei Dollar General Doppelschichten schiebt, weil sie allein für einen ADHS-Enkel sorgen muss. Für jeden Footballspieler, bei dem dies und das gerissen ist und dem die halbe Welt mit der Frage im Nacken sitzt, wann er denn nun wieder antreten kann. Es war unsere Rettung. Man hat am Baum gerüttelt, und ja, wir haben den Apfel gegessen. (Seite 179)

Nach seiner Verletzung stürzt auch Demon ab in den Sumpf aus Oxy und Fentanyl. Er lernt, dass die heilige Dreifaltigkeit aus Oxy, Soma und Xanax besteht, also aus Opioid, Benzodiazepin und Carisoprodol. Ein gefährlicher Cocktail. Wenn Sie «David Copperfield» kennen, dann können Sie sich etwa vorstellen, wie die Geschichte ausgeht. Allen anderen möchte ich nicht mehr verraten. Nur so viel: Lesen Sie das Buch. Es ist ein Wucht. Auch vom Umfang her, ja. Vor allem aber in Bezug auf die Sprache und die Geschichte. Ich werde Demon Copperhead jedenfalls nicht so schnell vergessen.

Barbara Kingsolver: Demon Copperhead. Deutsch von Dirk van Gunsteren. DTV, 864 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-423-28396-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783423283960

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Basel, 1. Mai 2024, Matthias Zehnder

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