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Die fünf besten Biografien 2023

Publiziert am 28. Dezember 2023 von Matthias Zehnder

Ein gutes Sachbuch erklärt einen Ausschnitt der Welt so, dass Sie ihn besser verstehen. So gesehen ist es etwas widersprüchlich, wenn ich Ihnen gestehe, dass unter all den Sachbüchern, die ich Ihnen jede Woche empfehle, mir Biografien am liebsten sind. Biografien erklären keine Sache, sondern erzählen von einem Leben. Spannend daran ist, dass gerade eine Lebensbeschreibung manchmal ein sehr guter Zugang zu einem Stück Welt ist: Eine gut geschriebene Biografie ermöglicht es, sich mit einem Stück Welt zu verbinden, in dem der oder die Beschriebene gelebt und gearbeitet hat. Das kann ein Stück Wissenschaft oder Wirtschaftsgeschichte sein, aber eben auch Kunst, Literatur oder Musik. Biografien eröffnen neue Zugänge gerade zu Kultur und Wissenschaft und machen scheinbar hermetische Werke begreifbar.   

#1 «Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich» von Tobias Lehmkuhl

Die für mich persönlich wichtigste Biografie in diesem Jahr ist das Buch von Tobias Lehmkuhl über die Zeit von Erich Kästner im Dritten Reich. Erich Kästner ist einer meiner Säulenheiligen. Ich liebe ganz besonders seine Gedichte und natürlich den «Fabian». Wie allen, die sich mit Kästner beschäftigen, blieb es mir ein Rätsel, warum er nach der Machtergreifung und der Nationalsozialisten 1933 nicht ins Exil ging. Gerade er als international erfolgreicher Autor hätte über die materielle Basis dafür verfügt. Vermutlich hätte er auch keine Probleme gehabt, sein Talent als Drehbuchautor in Hollywood an den Mann zu bringen. Warum also blieb Kästner in Deutschland? Welche Rolle hat er im Dritten Reich gespielt? Dieser Frage geht Tobias Lehmkuhl in seinem Buch über Kästner nach. Es ist daraus eine scharfsinnige Analyse von Werk und Autor geworden: Lehmkuhl zeigt, wie sehr Kästner schon lange vor 1933 mit Identitäten gespielt hat, wie viele Gesichter er hatte und wie sehr ihn, lange vor dem «Doppelten Lottchen», das Thema Zwillinge und Doppelidentität beschäftigte. Schön ist dabei, dass Lehmkuhl sein Buch nicht zur Abrechnung mit Kästner gemacht hat, sondern vielfältige Materialien und Ansatzpunkte bietet, sich neu mit den Texten von Kästner auseinanderzusetzen. Nein, Kästner war kein Mann des Widerstands, aber auch kein simpler Mitläufer. Er hat sich wohl eher selbst getäuscht und sich dann, wie so viele, durchgewurstelt. Dass er nach dem Krieg kein grosses Werk mehr zu schaffen imstande war, ist vielleicht der Preis für die vielen fremden Gesichter, die er in der Nazizeit tragen musste.

Tobias Lehmkuhl: Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich. Rowohlt, 304 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-7371-0150-9
Ausführliche Besprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/der-doppelte-erich/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783737101509

#2: Klaus Siblewski: Franz Hohler – Das Jahr, das bis heute andauert.

Einen ganz anderen Zugang zu einem Autor bietet dieses Buch: Es ist ein einziges, langes Gespräch. Klaus Siblewski fragt, Franz Hohler antwortet. Das klingt auf den ersten Blick anstrengend, ist es aber überhaupt nicht. Zum einen stellt Siblewski oft genau jene Fragen, die einem beim Lesen auf der Zunge liegen, zum anderen antwortet Hohler so, wie er schreibt, weil er so schreibt, wie er spricht. Das lange Gespräch spürt Hohlers Herkunft nach. So erzählt Hohler von seinen Grosseltern und seinen Eltern, der Jugend in den Nachkriegsjahren in Olten (eine Kleinstadt, aber eine mit Kunst und einem Orchester), der Schule und dem Studium. Hohler hat mit einem Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität Zürich begonnen. Abgeschlossen hat er sein Studium nicht: Schon während des Studiums führte er 1965 sein erstes Soloprogramm auf. Dessen Erfolg ermutigte ihn, das Studium nach fünf Semestern abzubrechen und sich ganz der Kunst zu widmen. Seither ist Franz Hohler freischaffender Kabarettist und Schriftsteller. Im Buch schaut er auf ein reiches Künstlerleben zurück, das unter anderem deshalb reich war, weil Hohler sich nie an die Grenzen von Genres gehalten hat. Er ist mit dem klassischen Cello auf der Kabarettbühne aufgetreten, hat als Literat Kinderprogramme im Fernsehen gemacht und immer wieder mit Büchern zu reden gegeben. In diesem Buch redet er selbst über sich und das ist ebenso spannend wie informativ.

Klaus Siblewski: Franz Hohler – Das Jahr, das bis heute andauert. Kampa Verlag, 288 Seiten, 33 Franken; ISBN 978-3-311-14045-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783311140450

#3: «Fräulein Doktor» von Denise Schmid

Als Franz Hohler geboren wurde, arbeitete Marie Lüscher als Chirurgin: Die Kriegsnot hatte ihr zur Chance verholfen, in diesem Männerberuf Fuss zu fassen. Marie Lüscher, 1912 in Basel geboren, 1991 in Zürich gestorben, war eine der ersten praktizierenden Chirurginnen der Schweiz. Sie blieb unverheiratet, kinderlos und berufstätig und lebte, lange vor Einführung des Frauenstimmrechts, das Leben einer modernen, unabhängigen Frau. Und dies, obwohl sie beruflich immer wieder ausgebremst wurde. Nur weil so viele männliche Ärzte in den Kriegsdienst eingezogen wurden, erhielt sie als Frau 1939 die Chance, sich im Operationssaal zu bewähren: Zwei Jahre lang arbeitete sie als Chirurgin im Basler Bürgerspital. Denn die Gesellschaft war damals zutiefst patriarchal. Die Universität Basel zum Beispiel wurde zwar sehr früh gegründet, war aber nach Zürich, Bern, Genf, Lausanne und Neuenburg die Letzte der Schweizer Universitäten, die Frauen zum Medizinstudium zuliess. «Basler halten Traditionen hoch. Und zur Tradition gehörte nicht, dass Frauen studieren», schreibt Denise Schmid lakonisch. Die Frau gehörte in der Basler Gesellschaft in die Familie, nicht in die Wissenschaft. «Die männliche Professorenschaft ist sich ziemlich einig. Frauen bringen Unruhe ins Haus. Frauen müssen nicht sein. Sie sollen bleiben, wo sie hingehören.»

Diese Haltung begleitet Marie Lüscher auf ihrem ganzen Lebensweg: Die Chirurgie ist Männersache. Frauen sind dafür zu schwach. Doch Ende der 30er-Jahre werden die Männer in den Basler Operationssälen zum Klumpenrisiko. Es droht eine Generalmobilmachung. Ein Spital voller männlicher Ärzte ist im Kriegsfall ein Problem. So kommt es, dass mit Marie Lüscher und Gret Gisler zwei Frauen Einzug halten in der Chirurgie des Basler Bürgerspitals. Beide können viel Erfahrung sammeln in den Kriegsjahren: Allein 1940 führt Marie Lüscher neben anderem über 70 Blinddarmoperationen durch. Etwa 500 Operationen sind es insgesamt, die sie in ihren zwei Jahren am Bürgerspital durchführt. Trotzdem bleibt die Chirurgie Männersache. Erst als sie 1943 als Assistenzärztin an der Schweizerischen Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich zu arbeiten begann, wendete sich ihr Schicksal. Endlich wurde sie gefördert. 1953 wurde sie die damals einzige Chefchirurgin der Schweiz. In ihrer Biografie über «Fräulein Doktor» erzählt Denise Schmid sachlich, aber mit viel Empathie das Leben der Chirurgin Marie Lüscher. Sie gibt tiefe Einblicke in die patriarchalische Schweizer Gesellschaft und ihren Umgang mit unabhängigen Frauen, die Basler Familien und die Entwicklung der Medizin.

Denise Schmid: Fräulein Doktor. Das Leben der Chirurgin Marie Lüscher. Hier + Jetzt-Verlag, 320 Seiten, 39 Franken; ISBN 978-3-03919-564-0
Ausführliche Besprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/fraeulein-doktor/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783039195640

#4: «Erasmus. Biografie eines Freigeists» von Sandra Langereis

Marie Lüscher, den Namen von Fräulein Doktor, ist kaum bekannt. Die Geschichte dahinter, die Ausgrenzung der Frauen aus Wissenschaft und Medizin, die patriarchale Basler Gesellschaft, dagegen schon. Bei Erasmus ist es gerade umgekehrt: Den Namen des berühmten Humanisten kennt (mindestens in Basel) jeder. Die Geschichte dahinter kennen dagegen die wenigsten. Der Satz, der mich durch die Lektüre dieses Buch begleitet, war deshalb: «Ah, so war das!» Das Buch ist weit mehr als eine Biografie des legendären Humanisten. Die niederländische Historikerin Sandra Langereis zeichnet nicht nur das Leben von Erasmus nach, sondern entwirft darum herum ein präzises Bild der Welt im 15. und 16. Jahrhundert. Sandra Langereis versteht es, bis ins Detail spannend zu erklären, wie der europäische Humanismus entstanden ist. Ganz besonders interessiert hat mich dabei natürlich, was sie über Erasmus in Basel schreibt. Denn das ist ein Stück Mediengeschichte: Erasmus ist nicht der schönen Stadt wegen nach Basel gekommen, sondern weil da Froben arbeitete, einer der damals besten Drucker Europas. Auf ihn aufmerksam geworden ist Erasmus, weil Froben einen Raubdruck eines seiner Bücher veröffentlichte, der besser war als das Original. Aber natürlich beginnt das Buch nicht in Basel und es endet auch nicht da. Sandra Langereis beginnt ihr Bild der Renaissance mit der Weltumsegelung von Magellan, sie beendet es mit dem Tod von Erasmus. Dazwischen zeichnet sie ein detailliertes Bild des Lebens von Erasmus. Für mich war Erasmus bisher ein zum Denkmal erstarrter Humanist. Sandra Langereis hat es mit ihrem Buch geschafft, ihn zum Leben zu erwecken. Ein ausführlicher Bildteil trägt dazu bei, dass wir uns im wörtlichen Sinne ein Bild des Gelehrten machen können. Spannend!

Sandra Langereis: Erasmus. Biografie eines Freigeists. Propyläen, 976 Seiten, 65.90 Franken; ISBN 978-3-549-10064-6
Ausführliche Besprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/erasmus/
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783549100646

#5: «Elon Musk» von Walter Isaacson

Dieses Buch empfehle ich Ihnen nicht, weil es so gut geschrieben wäre. Ist es nicht, im Gegenteil: Ich empfand es über weite Strecken als geschwätzig. Ich empfehle es, weil der Mann, den es zum Thema hat, so einflussreich ist: Elon Musik ist nicht nur der reichste Mann der Welt, er ist vor allem Chef und Besitzer von SpaceX, Tesla und Twitter (und einiger weiterer Firmen). Geld scheint dabei, wenn man dem Buch glauben darf, eher ein Nebeneffekt zu sein. Elon Musik geht es vielmehr darum, die Welt zu verändern. Es ist deshalb ganz nützlich, zu erfahren, wie er tickt und was er denkt. Denn das unterscheidet sich drastisch von dem, was in einem durchschittlichen Managementlehrgang vermittelt wird. Wie Musk arbeitet, darüber kann Walter Isaacson aus erster Hand berichten: Er hat Elon Musk zwei Jahre lang aus unmittelbarer Nähe beobachtet. Er nahm an seinen Meetings teil, begleitete ihn auf Reisen und auf Firmenbesuchen. Isaacson hat nicht nur mit Musk viele Stunden gesprochen, sondern auch mit seiner Familie, mit Freunden, Kollegen und Gegnern. Das Ergebnis ist ein erstaunlich offener Bericht über die Dämonen, die Musk antreiben und über den seidenen Faden, an dem er selbst und seine Unternehmungen immer wieder hingen. Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir uns ein wenig mit der Person Elon Musk beschäftigen. Seine Firmen und seine Entwicklungen werden uns vermutlich noch eine ganze Weile begleiten.

Walter Isaacson: Elon Musk. Die Biografie. C. Bertelsmann, 832 Seiten, 51.50 Franken; ISBN 978-3-570-10484-2
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783570104842

Basel, 28. Dezember 2023, Matthias Zehnder

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