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Der doppelte Erich

Publiziert am 7. Dezember 2023 von Matthias Zehnder

Erich Kästner ist einer meiner Säulenheiligen. Ich liebe ganz besonders seine Gedichte und natürlich den «Fabian». Wie allen, die sich mit Kästner beschäftigen, blieb es mir ein Rätsel, warum er nach der Machtergreifung und der Nationalsozialisten 1933 nicht ins Exil ging. Gerade er als international erfolgreicher Autor hätte über die materielle Basis dafür verfügt. Vermutlich hätte er auch keine Probleme gehabt, sein Talent als Drehbuchautor in Hollywood an den Mann zu bringen. Warum also blieb Kästner in Deutschland? Welche Rolle hat er im Dritten Reich gespielt? Dieser Frage geht Tobias Lehmkuhl in seinem Buch über Kästner nach. Es ist daraus eine scharfsinnige Analyse von Werk und Autor geworden: Lehmkuhl zeigt, wie sehr Kästner schon lange vor 1933 mit Identitäten gespielt hat, wie viele Gesichter er hatte und wie sehr ihn, lange vor dem «Doppelten Lottchen», das Thema Zwillinge und Doppelidentität beschäftigte. Schön ist dabei, dass Lehmkuhl sein Buch nicht zur Abrechnung mit Kästner gemacht hat, sondern vielfältige Materialien und Ansatzpunkte bietet, sich neu mit den Texten von Kästner auseinanderzusetzen. Nein, Kästner war kein Mann des Widerstands, aber auch kein simpler Mitläufer. Er hat sich wohl eher selbst getäuscht und sich dann, wie so viele, durchgewurstelt. Dass er nach dem Krieg kein grosses Werk mehr zu schaffen imstande war, ist vielleicht der Preis für die vielen fremden Gesichter, die er in der Nazizeit tragen musste.

Schon 1931 griff Kästner in einem Gedicht ein Motiv auf, das ihn ein Leben lang begleiten sollte: Er schreibt von Menschen, die sich ihr Gesicht ausziehen:
Wie beim Umzug Bilder von den Wänden
nahmen wir uns die Gesichter fort.
Und dann hielten wir sie in den Händen,
wie man Masken hält, wenn Feste enden.
Aber festlich war er nicht, der Ort.»

Offensichtlich war das Gefühl, sich selbst fremd zu sein, unsicher zu sein, wer man ist, Kästner schon lange und wahrscheinlich von Kindheit an vertraut. Ab 1933 dürfte sich dieses Gefühl noch verschärft haben: es begann eine Zeit der existenziellen Bedrohung, die Kästner materiell nur überstand, weil er seine Arbeit hinter fremden Gesichtern, also hinter Pseudonym und Kooperationen versteckte. Gut möglich, dass er sich dabei selbst abhandengekommen ist.

Warum aber ist er geblieben? Ein wesentlicher Grund dürfte seine schon fast krankhaft enge Beziehung zur Mutter gewesen sein. Er hatte schon als Kind die Mutter mehrfach vom Selbstmord abgehalten und fühlte sich wohl für sie verantwortlich. Er fürchtete, dass sie sich etwas antun würde, wäre er nicht mehr in der Nähe. Tobias Lehmkuhl schreibt: «Die niemals erfolgte Abnabelung von Ida Kästner, keine Frage, möchte man auch verantwortlich machen für das Fremdheitsgefühl, das Erich Kästner in sich, sich selbst gegenüber verspürte. Weil er immer Sohn blieb, konnte er als Erwachsener nicht mit sich selbst identisch werden.»

Die Frage ist, was das heisst, mit sich selbst identisch zu werden, wenn nicht klar ist, wer da gemeint ist: der Mann, der Autor, der Erzähler in seinen Büchern, das Alter-Ego seiner Gedichte? Im Januar 1940 schreibt Kästner zwei Briefe an sich selbst. Die enthalten eine Analyse seiner Situation. Es sind intime Auseinandersetzungen mit seinen Problemen und seiner Stellung in einem Land, was ihn fremd geworden ist. Später hat Kästner diese Briefe jedoch in seine Gesammelten Schriften aufgenommen, «hat sie also als Teil seines literarischen Werks betrachtet und nicht etwa als intime Auseinandersetzungen für sich behalten. So könnte man meinen. Aber gerade darin spiegelt sich die eigentliche Problematik: Was innen ist und was aussen, was real und was fiktiv, was ‹Literatur› und was ‹Leben›, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen», schreibt Lehmkuhl. «der Autor und der Mensch sind zwei und sind doch eins.»

Die politische Lage im autoritären Deutschland der Dreissigerjahre hat die Gespaltenheit seiner Person wohl noch verstärkt: «Offen zu sprechen, wurde immer schwieriger. Offen zu schreiben und zu veröffentlichen, wie man es noch 1927 oder 1932 getan hatte, war gänzlich unmöglich», schreibt Lehmkuhl. Und weiter: «Anders als für die meisten Denker der Nachkriegs-Avantgarde gehörte zu seinem Schutzpanzer neben der vermeintlichen Härte und Kälte auch der Humor. Lange Zeit war der Humor sogar der wichtigste Teil der Legierung. Nun aber, als aus allen Rohren ‹Heil Hitler› gefeuert wurde, half Humor nur noch bedingt.»

In den Briefen an seine Mutter gibt er sich zwar immer launig und als Herr der Lage. In Wirklichkeit spielt Kästner in mehrfacher Hinsicht ein doppeltes Spiel: Er versteckt sich hinter Pseudonymen und seine Literatur in Handwerksarbeiten für Film und Bühne. An seinem Tagesablauf ändert er dabei nichts: Das Café Leon bleibt sein Büro, er versteckt sich also quasi in aller Öffentlichkeit.

Lehmkuhl schreibt: «Kästner war, wenn man so will, ein Autor der Ebene, ein Asphaltliterat im besten Sinne, einer, der sich geschickt im Verkehr der Grossstadt bewegte, dessen Verse, wie Walter Benjamin so treffend schrieb, durch die Tageszeitungen flitzen wie ein Fisch im Wasser. Das Leben bedeutete für Kästner nicht Kampf, sondern Spiel. Deswegen auch war er ein so guter Kinderbuchautor.» Vielleicht ist auch deshalb kein Erkenntnis- oder Entwicklungsprozess in seinen Werken sichtbar: Ab Ende der Zwanzigerjahre verändern sich weder Themen noch Sprache seiner Werke. Der Spieler hat sein Spiel gefunden und bleibt dabei. Wenigstens nach aussen.

Tobias Lehmkuhl: Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich. Rowohlt, 304 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-7371-0150-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783737101509

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