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Fräulein Doktor

Publiziert am 16. Februar 2023 von Matthias Zehnder

Marie Lüscher, 1912 in Basel geboren, 1991 in Zürich gestorben, war eine der ersten praktizierenden Chirurginnen der Schweiz. Sie blieb unverheiratet, kinderlos und berufstätig und lebte, lange vor Einführung des Frauenstimmrechts, das Leben einer modernen, unabhängigen Frau. Und dies, obwohl sie beruflich immer wieder ausgebremst wurde. Erst als sie 1943 als Assistenzärztin an der Schweizerischen Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich zu arbeiten begann, wendete sich ihr Schicksal. Endlich wurde sie gefördert. 1953 wurde sie die damals einzige Chefchirurgin der Schweiz. In ihrer Biografie über «Fräulein Doktor» erzählt Denise Schmid sachlich, aber mit viel Empathie das Leben der Chirurgin Marie Lüscher. Sie gibt tiefe Einblicke in die patriarchalische Schweizer Gesellschaft und ihren Umgang mit unabhängigen Frauen, die Basler Familien und die Entwicklung der Medizin.

Marie Lüscher selbst war eine eher verschwiegene Frau: Sie schaffte es, ihr Privatleben weitgehend abzuschirmen. Sie konnte nie offen zu ihrer Homosexualität stehen, das war zeit ihres Lebens ein gesellschaftliches Tabu. Aber, schreibt Denise Schmid, «Marie Lüscher fand Wege, damit umzugehen, und es befreite sie aus dem Dilemma einiger ihrer Kolleginnen, die mit der Heirat den Beruf aufgaben, damit aber nicht immer glücklich wurden». Die langjährige Partnerin von Marie Lüscher war Ruth Gattiker, selbst eine der ersten Professorinnen für Medizin an der Universität Zürich. Denise Schmid hat 2016 Gattikers Biografie geschrieben und ist so auf Marie Lüscher gestossen. Bevor Ruth Gattiker 2021 im Alter von 98 Jahren starb, übergab sie Schmid jene Fotografien und Unterlagen, welche die Basis der vorliegenden Biografie bilden. Trotzdem bleiben Lücken, Schmid lässt sie bewusst offen und präsentiert in ihrem Buch jene Puzzleteile der Lebensgeschichte von Marie Lüscher, die sie festmachen konnte.

Die Geschichte, zu der sich diese Puzzleteile zusammenfügen, erzählt von einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft. Die Universität Basel zum Beispiel wurde zwar sehr früh gegründet, war aber nach Zürich, Bern, Genf, Lausanne und Neuenburg die Letzte der Schweizer Universitäten, die Frauen zum Medizinstudium zuliess. «Basler halten Traditionen hoch. Und zur Tradition gehörte nicht, dass Frauen studieren», schreibt Schmid lakonisch. Die Frau gehörte in der Basler Gesellschaft in die Familie, nicht in die Wissenschaft. «Die männliche Professorenschaft ist sich ziemlich einig. Frauen bringen Unruhe ins Haus. Frauen müssen nicht sein. Sie sollen bleiben, wo sie hingehören.» Diese Haltung begleitet Marie Lüscher auf ihrem ganzen Lebensweg: Die Chirurgie ist Männersache. Frauen sind dafür zu schwach. Doch Ende der 30er-Jahre werden die Männer in den Basler Operationssälen zum Klumpenrisiko. Es droht eine Generalmobilmachung. Ein Spital voller männlicher Ärzte ist im Kriegsfall ein Problem. So kommt es, dass mit Marie Lüscher und Gret Gisler zwei Frauen Einzug halten in der Chirurgie des Basler Bürgerspitals. Beide können viel Erfahrung sammeln in den Kriegsjahren: Allein 1940 führt Marie Lüscher neben anderem über 70 Blinddarmoperationen durch. Etwa 500 Operationen sind es insgesamt, die sie in ihren zwei Jahren am Bürgerspital durchführt. Trotzdem bleibt die Chirurgie Männersache. 1942 wechselt Marie Lüscher deshalb an die Augenklinik.

1943 wechselt Marie Lüscher von dieser Männerwelt ins Gegenteil: an die «Pflegi» in Zürich, eine reine Frauenwelt. Endlich wird sie gefördert. Endlich ist ihr Geschlecht kein Nachteil mehr. Nach fünf Jahren an der «Pflegi» erhält sie im März 1948 ihr Diplom als «Spezialarzt Chirurgie» der FMH. Sie ist erst die zweite Frau überhaupt, der das gelingt. Nach einem Jahr am Universitätsspital Heidelberg, zwei Jahren am Kantonsspital Zürich und einem USA-Aufenthalt kehrt sie 1953 an die «Pflegi» zurück: als einzige Chefchirurgin der Schweiz.

Es ist eine faszinierende Lebensgeschichte, die viel erzählt über Basel und die Schweiz, über die Geschichte der Medizin und der Chirurgie und über die Stellung der Frau in der Wissenschaft. Marie Lüscher hat vielen anderen Frauen den Weg gebahnt. Wie lange Frauen in Wissenschaft und Medizin mehr oder weniger unerwüscht waren, ist dabei kaum zu glauben.

Denise Schmid: Fräulein Doktor. Das Leben der Chirurgin Marie Lüscher. Hier + Jetzt-Verlag, 320 Seiten, 39 Franken; ISBN 978-3-03919-564-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783039195640

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