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Die fünf besten Sachbücher 2023

Publiziert am 21. Dezember 2023 von Matthias Zehnder

Ich empfehle Ihnen jede Woche ein Sachbuch zur Lektüre. Es sind Bücher aus einem breiten Themenbereich zwischen Geschichte und Philosophie, Kunstgeschichte und Psychologie, Politik und Technologie, von denen ich davon ausgehe, dass sie dabei helfen, die Welt und ihre Entwicklung zu verstehen. Damit begonnen habe ich vor vielen Jahren, nachdem ich das Buch «Die Aufmerksamkeitsfalle» geschrieben habe: Wir lassen uns von aufmerksamkeitsheischendenn Schlagzeilen zu sehr vom Wesentlichen ablenken und surfen auf den Schaumwellen der medialen Empörung, statt tiefer einzutauchen und zu versuchen, wesentliche Entwicklungen zu verstehen. 50 Bücher habe ich Ihnen dieses Jahr zu Lektüre empfohlen. Zum Jahresende bin ich die Liste noch einmal durchgegangen und habe jene fünf Titel herausgesucht, die für mich zu den besten des Jahres gehören. Zu den besten deshalb, weil sie besonders gut geschrieben sind, oder weil sie eine für das Jahr 2023 besonders wichtige Entwicklung gut erklären.

#1: Die Geschichte der Kunst

Das erste Buch auf der Liste ist nach dieser Einleitung vielleicht eine kleine Überraschung: Was soll uns eine Geschichte der Kunst dabei helfen, unsere Welt besser zu verstehen? Spannend am Buch von  Charlotte Mullins ist, dass sie in ihrer Kunstgeschichte den Blick auf zwei Seiten ausweitet: Sie beschränkt sich nicht nur auf die Geschichte der westeuropäischen Kunst, sondern bezieht auch (süd-)amerikanische, afrikanische und asiatische Kunstentwicklungen mit ein und zeigt auf diese Weise, dass die westeuropäische Kunst oft auf Entwicklungen in anderen Weltgegenden reagiert hat. Ich habe zum ersten Mal umfassend von den Benin-Bronzen gelesen, die keinen Zweifel daran offen lassen, dass sich auch in Afrika, völlig unabhängig vom Westen, ein hohes Niveau an künstlerischem Können entwickelt hatte. «Die Benin-Bronzen sind die Meisterwerke dieses Kontinents – und die Europäer haben sie ihm gestohlen», schreibt Mullins unmissverständlich. Afrikanische Kunst brachte «das Wesen ihres Gegenstandes zum Ausdruck, sie strebte keine mimetische Ähnlichkeit an», schreibt Mullins zur geschnitzten, afrikanischen Masken. Das hat europäische Künstler nachhaltig beeinflusst. Allerdings kümmerten sie sich dabei nicht um den Kontext: «Matisse und Picasso interessierten sich hauptsächlich für die Formensprache der nichtwestlichen Kunst, ihre ursprüngliche kulturelle Bedeutung zogen sie kaum in Betracht. Zum anderen weitet sie den Blick aus auf die Frauen: Ich habe noch nie von so vielen Künstlerinnen gelesen. Von Sofonisba Anguissola (1532–1625) zum Beispiel, die grosses Talent darin besass, flüchtige Emotionen festzuhalten. Oder Lavinia Fontana (1552–1614), die an der Universität von Bologna lange Zeit die Ausbildung von Frauen gefördert hat. Oder Rachel Ruysch (1664–1750), die zur «führenden Blumenmalerin ihrer Generation» avancierte. Schon dieser Frauenportraits wegen lohnt sich die Lektüre dieser neuen Kunstgeschichte.

2345 Charlotte Mullins: Die Geschichte der Kunst. C.H. Beck Verlag, 464 Seiten, 51.50 Franken; ISBN 978-3-406-80622-3

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/die-geschichte-der-kunst/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406806223

#2: Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt

In einem ganz anderen Sinne lehrreich und aktuell ist das Buch von Serhii Plokhy über Russlands Krieg gegen die Ukraine. Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des dortigen Ukrainian Research Institute. Er stammt aus Saporischschja und hat mehrere Bücher zur osteuropäischen Geschichte geschrieben. Schon vor dem russischen Überfall sagte er voraus, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen und Widerstand leisten werden. Das Ausmass des Widerstands, ja des ganzen Krieges, das «überstieg meine damalige Vorstellungskraft», schreibt Plokhy: «Die Invasion, die Putin als ‹Militäroperation› bezeichnete und die nur ein paar Tage oder höchstens ein paar Wochen dauern sollte, wurde zum grössten konventionellen Krieg in Europa seit 1945.» Mit seinem Buch möchte Serhii Plokhy diesen Krieg erklären. Dafür blättert er zurück in der Geschichte Russlands. Auch wenn der Grossangriff auf die Ukraine im Februar 2022 dramatisch und schockierend für uns alle war, «werde ich nicht der Versuchung erliegen, den 24. Februar 2022 als sein Anfangsdatum zu bezeichnen», schreibt Plokhy. Dies deshalb, weil der Krieg schon genau acht Jahre zuvor begonnen hat, am 27. Februar 2014, als russische Truppen das Parlamentsgebäude der Krim besetzten. Danach schwelte der Konflikt sieben Jahre lang als «unerklärter Krieg mit Granatfeuer und Schüssen über die Demarkationslinie in der ukrainischen Donbas-Region weiter». Mehr als 14’000 Ukrainer kostete der Konflikt in dieser Phase das Leben. Trotzdem erregte der schwelende Krieg kaum internationale Aufmerksamkeit. Und dann marschierte Russland im Februar 2022 in die Ukraine ein.

In seinem Buch beschäftigt sich Plokhy mit den Ursprüngen dieses Konflikts: dem Zerfall der Sowjetunion. Der Auslöser dafür findet sich in der Ukraine: Der Zerfall der Sowjetunion wurde am 1. Dezember 1991 unumkehrbar, «als die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, der zweitgrössten Unionsrepublik nach Russland, an den Wahlurnen für die Unabhängigkeit ihres Landes votierten», schreibt Plokhy. «Die Wahlbeteiligung lag bei über 84 Prozent der Wahlberechtigten, und mehr als 92 Prozent von ihnen entschieden sich für die Unabhängigkeit.» Auch die Bewohner des Donbas, der Krim und von Sewastopol sprachen sich deutlich für die Unabhängigkeit der Ukraine aus. Diesen Schock hat Russland bis heute nicht überwunden. Das Buch trägt wesentlich dazu bei, Russlands Krieg gegen die Ukraine besser zu verstehen. Gerade wenn Sie genug haben von Kriegsnachrichten, sollten Sie das Buch von Serhii Plokhy lesen.

Serhii Plokhy: Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt. Hoffmann und Campe, 496 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-455-01588-1

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/der-angriff/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455015881

#3: Wir Datensklaven. Wege aus der digitalen Ausbeutung

Ist der Ukrainekrieg die aktuell grösste Herausforderung der Menschheit? Oder ist es der Klimawandel? Der aktuelle Bericht an den Club of Rome über den Zustand des Planeten gibt eine weitere Antwort: Die Wissenschaftler sehen das grösste Menschheitsproblem in der datengestützten Desinformation. Früher hätten die Massenmedien Falschinformationen weitgehend eingedämmt. Mittlerweile hätten die sozialen Medien eine «Industrie der Falsch- und Desinformation» entstehen lassen. Johannes Caspar schreibt deshalb: «Die ökologische Krise der Menschheit wird durch eine epistemische Krise verdrängt.» Offenbar bewirken mehr Kommunikation und Information das Gegenteil von mehr Kooperation und mehr Vernunft. Caspar fragt deshalb: «Wie soll es uns künftig gelingen, unsere kleinen und grossen Probleme zu lösen, wenn schon eine Verständigung darüber scheitert?» Über die Ursachen dieser babylonischen Verwirrung der Neuzeit hat Caspar dieses Buch geschrieben. Es dreht sich um die digitalen Weltermächtigungsmodelle und die digitale Ausbeutung der Individualität. Wer die Daten kontrolliert, sieht die Zukunft nicht nur, sondern kann sie auch verändern.

Johannes Caspar: Wir Datensklaven. Wege aus der digitalen Ausbeutung. Econ, 352 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-430-21081-2

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/wir-datensklaven/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783430210812

#4: Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht

Wie weit darf die Freiheit des Einzelnen gehen? Was ist Solidarität? Was sagt das über unsere Gesellschaft, wenn wir selbst in der Krise nicht zu einer Gemeinschaft werden? Und welche Rolle soll (oder darf) der Staat dabei spielen? Das sind die zentralen Fragen dieses Buches. Nicht nur die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir um Antworten auf diese Fragen zunehmend verlegen sind. Skudlarek sagt, dass sich der gesunde Individualismus in einer «individualistischen Schieflage» befinde. Er meint damit Menschen, die sich in aller Selbstverständlichkeit verhalten, als wären sie allein auf der Welt. Er fragt, woher die Selbstgewissheit komme, «dass es in Ordnung ist, mit den eigenen Bedürfnissen die Interessen anderer zu überschreiben? Wie kommt es, dass ich meinen Körper nicht als einen Körper unter vielen verstehe, sondern als den einzigen, auf den es wirklich ankommt?»

Das Prinzip wäre: Meine Freiheit endet dort, wo deine beginnt. «Das wäre im besten Sinne liberal», schreibt Skudlarek. Doch viele Menschen verstehen unter Freiheit ausschliesslich ihre grenzenlose Ich-Freiheit. Das Problem ist: Wenn jeder nur an sich denkt, ist eben nicht an alle gedacht. «Stattdessen entsteht ein soziales Vakuum», schreibt Skudlarek. Ein Vakuum, das eigentlich untypisch ist für den Menschen, denn Menschen sind nicht nur soziale Wesen, sie haben immer auch nur in Überlebensgemeinschaften überlebt. In seinem Buch tritt er den Weg von diesem radikalen Ich zum Wir an: Er versucht, die Vorstellung, dass es in einem Leben in erster Linie um einen selbst geht, «mit der Vorstellung in Einklang zu bringen, dass dieses Ich nur im Sozialkollektiv stattfindet». Bei der Lektüre des Buches musste ich mich immer wieder beherrschten, nicht laut «Ja! Genau!» zu rufen. Selten habe ich in einem Buch so viele Sätze unterstrichen. Sätze wie diesen: «Unsere zukünftige Freiheit scheint paradoxerweise gerade deshalb in Gefahr, weil wir aus egoistischen Gründen nichts zu ihrem Schutz unternehmen – da wir uns zu sehr um die gegenwärtige Freiheit sorgen.»

Jan Skudlarek: Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht. Streitschrift für ein neues Wir. Tropen, 240 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-608-50178-0

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/wenn-jeder-an-sich-denkt/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608501780

#5: Kopf voll, Hirn leer. Konzentriert und leistungsfähig bleiben trotz permanenter Reizüberflutung

Von «Brainfog» sprechen Fachleute, wenn klares Denken schwerfällt, wir uns nicht konzentrieren können, die einfachsten Sachen vergessen, unsere Gedanken ständig abschweifen und wir uns wie betäubt fühlen: Das Gehirn ist vernebelt. Was sich anhört wie ein Kater, ist häufig die Folge von Reizüberflutung und Aufgaben-Hopping: Je voller der Kopf, desto leerer das Gehirn. Es ist ein Warnsignal, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Cordula Nussbaum sagt, dieses Problem habe eine lange Vorgeschichte. Bereits im Mittelalter klagten Mönche über Aufmerksamkeitsprobleme und geistige Erschöpfung. Das Phänomen hat sich in der vernetzten Gesellschaft massiv verschärft: «Tempo, Taktung und Erreichbarkeit haben in unserer Hochleistungsgesellschaft angezogen. Immer schneller sind Aufgaben zu erledigen, immer enger werden Zeitpläne, immer kürzer können wir fokussiert bei einer Aufgabe bleiben», schreibt Nussbaum. Sie muss es wissen: Als Wirtschaftspsychologin coacht und berät sie seit vielen Jahren Menschen zu Fragen rund um Zeitmanagement. In ihrem neuen Buch führt sie zunächst gut verständlich ein in die neurowissenschaftlichen Grundlagen, das Ultrakurzzeitgedächtnis, Dopamin und das Belohnungssystem im Kopf.

In ihrem Buch erklärt Cordula Nussbaum nicht nur die grundlegenden Mechanismen, sie zeigt auch, wie wir Infojunkies aus den Fallen, die uns unsere Gehirne stellen, wieder herausfinden. Sie macht das mit ganz konkreten Tipps, die sie «Brainhacks» nennt. Es sind sofort umsetzbare «Mikrogewohnheiten», mit denen wir unsere müden Gehirne vor der Reizüberflutung und der Vernebelung schützen können. Damit Betroffene wirklich damit arbeiten können, lassen sich die «Brainhacks» als separates Arbeitsbuch in PDF-Form herunterladen. Die konkreten Tipps machen aus dem spannenden Buch einen nützlichen Ratgeber. Jetzt müssen Betroffene nur noch die Ruhe finden, das Buch zu lesen …

Cordula Nussbaum: Kopf voll, Hirn leer. Konzentriert und leistungsfähig bleiben trotz permanenter Reizüberflutung. Gräfe & Unzer, 224 Seiten, 25.90 Franken; ISBN 978-3-8338-9007-9

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/kopf-voll-hirn-leer/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783833890079

Basel, 21. Dezember 2023, Matthias Zehnder

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