Das Glück der Realität
Wirklich? Ist das wirklich wahr? Wenn meine Kinder diese Frage stellten, nachdem ich ihnen eine Geschichte erzählt hatte, brachten sie mich manchmal ins Rudern. Ist «Pippi Langstrumpf» wahr? Ist Lukas der Lokomotivführer wirklich? Ich habe jeweils gesagt, dass es eine wahre Geschichte sei und nicht alle Geschichten wirklich sein müssen, um wahr zu sein.
Heute stehen Kinder und Jugendliche noch vor ganz anderen Fragen der Wahrheit und der Wirklichkeit. Ist der «Freund» auf Facebook Wirklichkeit? Ist seine Geschichte wahr? Ein Foto ist doch ein Abbild der Wirklichkeit – sind also all die Stories auf Instagram wirklich? Und was für ein Bild entsteht im Kopf derer, die all die Fotos und Videos auf Insta, TikTok und Snapchat anschauen? Was für eine Welt entsteht im Kopf von Jugendlichen heute?
Mit diesen Fragen hat sich der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt auseinandergesetzt. Ich empfehle Ihnen sein Buch diese Woche in meinem Sachbuchtipp. Er sagt, dass Kinder und Jugendliche heute in der realen Welt überbehütet sind und zu wenig Erfahrungen machen können. In der virtuellen Welt dagegen sind sie unterbehütet. Eltern und Erzieher überlassen sie schutzlos den Algorithmen der sozialen Netzwerke. Die grossen Onlinedienste saugen die Aufmerksamkeit der Kinder auf und absorbieren sie. Statt auf Bäume zu klettern (und herunterzufallen) und reale Menschen zu treffen, verbringen Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit online in den sozialen Netzen. Sie verpassen auf diese Weise jene Erfahrungen, Erlebnisse, Erfolge und Enttäuschungen, die eine Kindheit und Adoleszenz ausmachen.
Das grosse Problem dabei ist, dass unser Gehirn bis zu einem gewissen Grad kaum einen Unterschied macht zwischen realer Wirklichkeit und medial vermittelter Wirklichkeit. Die Welt da draussen, die Steine, das Wasser, das vor Hitze glühende Wellblechdach, der Eiswürfel im Glas, der Sand auf der Hand, das sind objektive Gegebenheiten. Es ist eine empirisch überprüfbare Realität. Vor allem ist sie allen unseren Sinnen zugänglich – und zwar allen Menschen. Das Problem ist, dass jeder Mensch aus seinen Sinneseindrücken eine subjektive Wirklichkeit konstruiert. Basis dafür sind die individuellen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Interpretationen der Realität. Deshalb hat jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit, die durch seine kulturellen, sozialen und psychologischen Hintergründe geprägt ist. Diese Wirklichkeit hängt in starke Mass auch von sozialer Interaktion ab: Durch Kommunikation und gemeinsame Bedeutungsgebung erschaffen Menschen sich eine gemeinsame Wirklichkeit, die ständig neu ausgehandelt wird.
Wir leben also nicht einfach in der Realität, wir leben in einer Wirklichkeit, die wir auf der Basis der Realität und der Interaktion mit anderen Menschen konstruieren. Paul Watzlawick betont, dass unsere Wahrnehmung der Realität durch unsere subjektiven Wirklichkeiten gefiltert wird. Das bedeutet, dass wir nie eine «reine» Realität erleben, sondern immer nur unsere subjektiv konstruierte Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist stark von unseren mentalen Modellen, Überzeugungen und der Art und Weise, wie wir kommunizieren, beeinflusst.
Das Problem ist, dass unsere Eindrücke immer häufiger nicht mehr aus der Realität stammen, sondern aus Medien. Ganz besonders gilt das für Kinder und Jugendliche. Ein Achtzehnjähriger hat heute eine ganz andere Wirklichkeit im Kopf als ich das in seinem Alter hatte. Zum einen kommt ein Jugendlicher heute weniger mit realen Sinneseindrücken in Kontakt, zum anderen konstruiert er daraus, weil er mit Smartphone und sozialen Netzwerken aufgewachsen ist, eine andere Wirklichkeit. Für sich genommen ist das weder gut noch schlecht. Jonathan Haidt zeigt mit seiner Forschung aber, welche verheerenden Folgen es für die Sozialisierung und die Adoleszenz haben kann.
Gerade in den Ferien fällt mir immer wieder auf, wie beglückend es ist, die Sinne der Realität zu öffnen. Regen auf dem Gesicht, Moos in der Hand, der Geruch nach Zimt und Hefeteig in einer Bäckerei, das Knirschen von Kieselsteinen unter den Füssen, das Rauschen des Meers und der Geruch nach Salz in der Luft.
Schon vor vielen Jahren habe ich an Kindergärten und Schulen Vorträge über Medien gehalten. Damals ging es oft um den Fernseher im Kinderzimmer und um das schrankenlose Surfen und Gamen. Meine Forderung damals war immer: «Meh Dräck». Ermöglicht es den Kindern, schmutzige Hände zu kriegen.
Heute möchte ich ergänzen: Ermöglicht es allen Menschen. Die Bildschirmauflösung kann noch so hoch sein, der Sound noch so surround – nichts übertrifft die Realität. Und das macht glücklich. Nicht nur in den Ferien.
Mit diesen Zeilen grüsse ich Sie herzlich aus meinen Sommerferien. Mehr Wochenkommentar gibt es heute nicht. Dafür weise ich Sie gerne auf meine Sommerserien hin. In der zweiten Folge meiner Sommer-Buchtipps entführe ich Sie ins Tessin. Die Hauptrolle in den Krimis von Mascha Vassena spielt eine Übersetzerin, die nicht nur sprachlich zwischen den Tessinern und den Deutschen steht. In den Fragebogeninterviews geben Auslandskorrespondenten Auskunft über ihre Arbeit. In der zweiten Folge lesen Sie, was Roman Fillinger, Osteuropakorrespondent für SRF mit Sitz in Warschau, über die Medien im Osten Europas sagt.
Ich bedanke mich bei allen Unterstützerinnen und Unterstützern herzlich für Ihre Beiträge – Sie machen den Wochenkommentar weiterhin möglich.
Jetzt wünsche ich Ihnen viele reale Momente, die Sie glücklich machen.
3 Kommentare zu "Das Glück der Realität"
Immer mehr Kinder scheinen zu verblöden. Aus ihnen können verblödete Erwachsene werden. Möglicherweise umso mehr, je höher ihr Schulabschluss. Perfekt und vollkommen Verblödete werden von der Masse wie Königinnen oder Könige verehrt. Joe Biden wie ein Kaiser: und Donald Trump macht ihm den Thron streitig. In der Welt der Verblödeten ist Streit allpräsent und normal. Es braucht dafür einen Gegner und ein Objekt. Das ist beispielsweise bei der alten Politik nicht viel anders als beispielsweise beim Fussball.
Guete Morge Herr Keller,
scheinbar haben Sie Herrn Zehnders Wochenkommentar mit Ihnen „scheinbar“ nah gelegener, einfacher Sicht gelesen.
Es „scheint“ mir, dass Sie, wie schon zu anderen vorgehenden Kommentaren, Sie oftmals am eigentlichen Kern der Botschaften von Herrn Zehnder vorbei reagieren.
Mit „scheinen“ und „können“ entziehen Sie sich die Verantwortung für Ihre titulierte, eventuell viel verblödeten Erwachsenen zu übernehmen, von Kindern gar nicht zu reden.
Als einer, welchem der Geruch von Salz- und Bergluft, von Moos und Sand zwischen Fingern nicht fremd ist, aber auch in weniger als 20 Jahren über 100 Jahre alt seiend, gerne noch am Computer Herr Zehnder begleite, erwarten Sie, wie auf Ihre Zeilen man reagieren soll?
Weder grosser Fussballfan (wegen überdimensionierten Gagen) zu sein noch der hohen Politik zugewandt, fühle ich mich nicht “ verblödet“,
im Gegenteil, war ich noch nie in meinem Leben vorher, wie durch die „heutige Zeit“ so aufgeweckt und und wach fühlend.
Lassen Sie uns gemeinsam zur Versöhnung Herrn Zehnder „schöne, erholsame Sommerferien“ wünschen, mögen unendlich viele Sandkörnli nachdenkend, durch seine Finger rieseln.
Ruedi Kitzmüller
Guten Tag Herr Kitzmüller
Gerne schliesse ich mich Ihren guten Wünschen für Herrn Zehnder an.