Das Glück zu Hause
Es ist wunderbar, Ferien in einem schönen Haus in einem anderen Land zu verbringen. Zum Beispiel in einem frisch renovierten, denkmalgeschützten Gebäude. Oder in einem neu entworfenen, modernen Loft. Drei Dinge sind mir dabei wichtig: Die Schönheit des Raumes, die Aussicht auf eine weite Landschaft und die Ruhe. Ich träume immer wieder davon, länger an einem solchen Ort zu bleiben, um zu schreiben. In einem Haus an einem See oder am Meer, in einer Wohnung mit Aussicht in den Bergen. Ein Tisch am Fenster, der Blick schweift über das Wasser, es riecht nach Gischt. Das Haus ist aufgeräumt, ja leer. Auf dem Sideboard, dem Küchentisch und dem Schreibpult hat kein Alltag seine Spuren hinterlassen. Da liegen keine Todolisten, keine zu öffnenden Briefe und schon gar keine unbezahlten Rechnungen. Der Raum in einem Ferienhaus ist ganz für die Menschen da.
Und doch ist es immer wieder schön, nach Hause zu kommen. Auch wenn da ein Stapel Briefe und Rechnungen wartet, der Garten nach Pflege schreit und die Räume alles andere als leer sind. Warum eigentlich?
Zunächst ist es ein Glück, überhaupt ein sicheres Zuhause zu haben. Gemäss UNHCR waren 2023 weltweit 117.3 Millionen Menschen auf der Flucht vor Kriegen, Umweltkatastrophen und Gewalt. Auch in der Schweiz sind viele Menschen von Überschwemmungen und Erdrutschen betroffen. Ein Zuhause zu haben ist keine Selbstverständlichkeit. Aber was macht es aus, dieses Zuhause? Was hebt es ab von den Schöner-Wohnen-Häusern im Urlaub, die doch so viel grossartiger sind?
Das Zuhause ist die gewohnte Umgebung. Das macht die Ferienhäuser ja so faszinierend: dass sie ungewohnt sind. Dafür müssen sie noch nicht einmal ungewöhnlich sein. Andere Teller, andere Gabeln, andere Messer, andere Stühle, eine anderer Tisch, ein anderes Bett. Das belebt. Bis man in der Nacht mit Rückenschmerzen erwacht, weil die Matratze ungewohnt hart ist. Oder sich beim Aufstehen den Schädel an der Mauer neben dem Bett anschlägt, da, wo es zu Hause keine Wand hat.
Zu Hause ist da, wo die Gewohnheiten sind. Das gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und es spart Energie. Es ist spannend, anregend und belebend, in einem anderen Land in einem fremden Supermarkt einzukaufen, neue Produkte auszuprobieren, neue Rezepte zu testen. Aber es kann auch anstrengend werden. Zu Hause kann ich auf Autopilot umschalten und meinen Gedanken freien Lauf lassen.
Zu Hause ist da, wo meine Gegenstände sind. Vor allem meine Bücher, aber auch meine Schreibsachen, die Notizhefte, meine Bilder, Erinnerungsstücke, Fotos. Es ist die gegenständliche Spur, die mein Leben hinterlässt. Natürlich brauchen wir das alles nicht wirklich. Reden wir uns wenigstens ein. Aber der Stein aus der Bretagne auf meiner Fensterbank, der kleine Zinn-Schweizergardist auf meinem Pult, der Holzschnitt an der Wand in meinem Arbeitszimmer – sie machen mein Zuhause aus. Sie schaffen jene Vertrautheit, wie ich sie von meinem Lieblingspullover kenne. Die Mischung aus Gemütlichkeit, Geborgenheit und Erinnerung.
Theoretisch könnte ich das alles einpacken und wegziehen. In ein Haus am Meer oder in den Bergen. Ich wäre sofort wieder zu Hause. Das ist auch der Unterschied zwischen Heimat und Zuhause: Heimat kann man nicht einpacken. Heimat ist das Um-das-zu-Hause-herum. Heimat stellt sich mit der Zeit ein, indem wir uns an unsere Umgebung, die Kultur und die Menschen gewöhnen. Ein Zuhause dagegen richten wir uns ein.
Zu Hause fühle ich mich auch an meinem Computer, mit meiner persönlichen Tastatur, in meinen Programmen. Beim Mobiltelefon reden wir sogar vom «Home Screen», also vom «zu Hause-Bildschirm». Digitalen Nomaden genügt ein Laptop und ein Rucksack, damit sie sich zu Hause fühlen. Ich gebe zu, dass ich gerne etwas mehr Zuhause um mich herum habe.
Es ist herrlich, in die Ferien fahren zu können, Abstand zu gewinnen, in ungewohnte Welten und fremde Kulturen einzutauchen. Aber was für ein Glück, ein Zuhause zu haben und nach Hause kommen zu können.
Mit diesen Zeilen grüsse ich Sie ein letztes Mal herzlich aus meinen Sommerferien. Mehr Wochenkommentar gibt es heute nicht. Dafür weise ich Sie gerne auf meine Sommerserien hin. In der dritten Folge meiner Sommer-Buchtipps entführe ich Sie in die Provence. Bereits zum elften Mal schickt Cay Rademacher seinen Gendarmen Roger Blanc auf die Piste. Diesmal dreht sich die Geschichte rund um den Weinbau in der Provence. In den Fragebogeninterviews geben Auslandskorrespondenten Auskunft über ihre Arbeit. In der dritten Folge lesen Sie, was Simona Caminada, TV-Korrespondentin für Italien von SRF, über die Medien in unserem südlichen Nachbarland sagt.
Ich bedanke mich bei allen Unterstützerinnen und Unterstützern herzlich für Ihre Beiträge – Sie machen den Wochenkommentar weiterhin möglich.
Jetzt wünsche ich Ihnen viel Glück – auch und gerade zu Hause.
Basel, 19. Juli 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch