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Feuerprobe

Publiziert am 24. Juli 2024 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. Wie jeden Sommer entführe ich Sie in meiner literarischen Sommerserie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche führt die Reise nach Venedig. In der grandiosen Kulisse der Lagunenstadt ermittelt Commissario Guido Brunetti bereits zum dreiundreissigsten Mal. Diesmal hat Donna Leon fast ein Kammerspiel vorgelegt: Tragende Figuren der Handlung sind neben Brunetti nur gerade Kollegin Claudia Griffoni, die clevere Signorina Elettra und Bocchese, der technische Leiter des Polizeilabors. Alle anderen Figuren treten in den Hintergrund. Selbst Sergente Vianello, sonst ein loyaler Sidekick von Commissario Brunetti, taucht nicht auf. Vice-Questore Patta, Brunettis ewig-opportunistischer Chef,  scheint gar von akuter Altersmilde befallen zu sein. Anhand des Falls, mit dem sich Brunetti beschäftigt, führt uns Donna Leon in zwei grosse Themen ein. Da sind zum einen die Babygangs in Venedig, rivalisierende Teenagergruppen, die miteinander kämpfen und dabei randalieren. Zum anderen ist es der Anschlag von Nassiriya: Am 12. November 2003 griffen im Irak zwei Selbstmordattentäter eine italienische Militärbasis an. 28 Menschen verloren ihr Leben, darunter viele Carabinieri. Einer der Überlebenden ist der Vater eines Teenagers, der in einer Babygang mitmacht. Der Mann wurde bekannt als «Held von Nassirija». Aber war er das wirklich? In meinem 214. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise nach Venedig lohnt.

Am 1. Mai 2003 erklärte US-Präsident George W. Bush den Irak-Krieg für siegreich beendet: Gemeinsam mit einer «Koalition der Willigen» waren amerikanische Truppen in den Irak einmarschiert und hatten die Hauptstadt Bagdad erobert. Das hatte aber nicht zur Folge, dass im Irak der Friede einkehrte. Es folgte eine acht Jahre währende Besatzungszeit mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen und zahlreichen Terroranschlägen. Einer dieser Anschläge war ein Selbstmordattentat am 12. November 2003 auf das Hauptquartier der italienischen Carabinieri, der Multinational Specialized Unit MSU in Nasiriya, südlich von Bagdad. Ein mit Sprengstoff beladener Tanklastwagen fuhr in den von der Armee und den Carabinieri besetzten Stützpunkt Maestrale. 28 Menschen verloren dabei ihr Leben, darunter 19 italienische Carabinieri. Der Anschlag gilt als eines der schlimmsten Ereignisse in der italienischen Militärgeschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Commissario Guido Brunetti erinnert sich an diesen Anschlag , weil ein 15jähriger Junge nach der Festnahme einer Babygang in der Nacht nicht von der Polizeiwache abgeholt wird. Kollegin Claudia Griffoni, die in dieser Nacht Dienst hat, begleitet deshalb Orlando, so heisst der Junge, nach Hause. Als sie Brunetti am nächsten Tag von dem Vorfall erzählt, kommt ihm der Name von Orlandos Vater bekannt vor. Dario Monforte war 2003 der Held von Nasiriya. Als Angehöriger des 13. Carabinieri-Regiments «Friuli-Venezia Giulia» hatte er am Militäreinsatz im Irak teilgenommen. Nach dem Anschlag auf den Stützpunkt Maestrale in Nasiriya hatte er zwei Kameraden aus dem Inferno gerettet. Offenbar hatte er sich aus einem noch intakten Gebäudeteil in die Flammenhölle des Innenhofs gestürzt und zwei Kameraden in Sicherheit geschleppt, war dann aber selbst zusammengebrochen. Sechs Monate lag Dario Monforte danach in einem Verbrennungszentrum, zunächst in Barcelona, dann in Kopenhagen. Ein halbes Jahr nach dem Anschlag kehrte er zurück nach Venedig, fürs Leben gezeichnet und entstellt, aber als Held.

Die Frage ist: War Monforte wirklich der Held, als der er gefeiert wurde? Brunetti fallen eine ganze Reihe von Ungereimtheiten auf. Zunächst kam die Heldengeschichte den Carabinieri äusserst gelegen. Sie lenkte davon ab, dass der Tanklastwagen voller Sprengstoff niemals so einfach in den Stützpunkt hätte gelangen dürfen. Dann fragt sich Brunetti, ganz Polizist, wovon der einstige Held heute lebt. Offenbar arbeitet er als freiberuflicher Sicherheitsberater. Als Brunetti Monforte begegnet, blitzt an dessen Handgelenk Metall auf: eine Rolex Submariner. Das weckt die Aufmerksamkeit von Brunetti: Wie kann sich Monforte eine so teure Uhr leisten? Gemeinsam mit Signorina Elettra beginnt er, die Archive nach dem Einsatz der Carabinieri im Irak zu durchforsten – und stösst dabei auf eine Geschichte, die ganz und gar nichts Heldenhaftes an sich hat. Ähnlich wie etwa Francesca Melandri in ihren Romanen nutzt Donna Leon ihre Krimireihe, um uns mit einem düsteren Kapitel der italienischen Geschichte zu konfrontieren: das Engagement der italienischen Truppen im Irak, die Ausbeutung des besetzten Landes, Kunstraub und der schmutzige Handel mit Antiquitäten.

Und dann sind da die Babygangs von Venedig. Sie geben Brunetti Rätsel auf. Er kann nicht nachvollziehen, warum sich Jugendliche gegenseitig verprügeln, um in den sozialen Netzen Aufmerksamkeit und Likes zu sammeln:

An einem milden Dienstagabend im April brach in Mestre das Chaos aus, als zwei Gangs von Minderjährigen, eine aus Venedig und eine aus Mestre, sich kurz nach Mitternacht auf der Piazza Ferretto trafen, um …
Hätte man einen der herbeigerufenen Polizisten – oder die Eltern der Jungen oder gar die Jungen selbst – dazu aufgefordert, diesen Satz zu vervollständigen, sie hätten es nicht gekonnt, denn die Babygangs verfolgten kein Ziel mit dem, was sie einander antaten, zumindest kein Ziel, das sie einem Erwachsenen hätten erklären können.
In den sozialen Medien wurde geprahlt: «Wir sind stärker als sie.» – «Wir haben mehr Likes auf Instagram.» – «Die Jungs im Viertel schauen zu mir auf.» – «Wir beschützen einander.» Nein, sie wollten nichts stehlen. Nein, sie kannten keinen von den Jungs in der anderen Gang. Nein, sie hatten nichts gegen sie und wollten ihnen keinen Schaden zufügen. Doch sie wollten ihren Raum und die anderen nicht weniger, also musste das ausgefochten werden. Jeder hielt sich für den Stärkeren. Woran genau sich das messen ließ, konnte niemand erklären, doch alle beanspruchten die Überlegenheit für sich.
Brunetti kam da nicht mehr mit, und es machte ihm Angst. Die Gangs suchten emotionale Bestätigung: Furcht, Bewunderung, Respekt. Es ging ihnen weder um Profit noch um Besitz, diese beiden heiligen Kühe des Kapitalismus. Ihnen lag nichts daran, ihre Opfer zu berauben, Häuser zu plündern, Köpfe auf Lanzen zu spießen und auszustellen.
Sie filmten einfach nur ihre Schlägereien und posteten sie überall, rühmten sich der Zahl ihrer Follower, die nach jeder Schlacht mit einer rivalisierenden Gang sprungartig anstieg. Sie brüsteten sich mit ihrer Fähigkeit, Schmerz zuzufügen und als Sieger vom Platz zu gehen, was immer das heißen mochte. Ihr Lohn war ebenso vergänglich: Jemand klickte «Ja» oder «Like», lobte womöglich gar mit ein, zwei Worten ihren Kampf mit der anderen Gang, die gleichermaßen auf ihren Nachruhm bedacht war und auf Zustimmung hoffte. Eilten sie alle nach Hause, um die Kommentare im Internet zu lesen? (Seite 284f.)

Das Rätsel um die Babygangs kann auch Donna Leon nicht lösen. Sie konfrontiert die Jungs am Ende des Buchs in einem fulminanten Finale mit der brutalen Realität. Das ist die Feuerprobe, die dem Roman den Titel gibt.

Was bleibt von Commissario Brunettis dreiunddreissigstem Fall? Wie fast in jeder der vorangegangenen Folgen setzt Donna Leon auch mit diesem Roman der Schönheit von Venedig ein kleines Denkmal. Dabei preist sie nicht die ohnehin bekannten touristischen Hotspots, sondern huldigt der stillen und der historischen Schönheit der Stadt, etwa in dieser Szene, in der Brunetti und seine Frau Paola nach einem späten Abendessen bei den Faliers zusammen durch die Stadt nach Hause schlendern:

Draußen in der calle schlug Brunetti vor, den längeren Heimweg über die Accademia-Brücke zu nehmen. Die Kinder mussten sich von keinem Influencer einflüstern lassen, dass sie den kürzeren Weg bevorzugten, ohne die Kletterei über zwei Brücken, Accademia und Rialto. Eltern und Kinder trennten sich am Campo San Barnaba.
Brunetti und Paola schlenderten Richtung Accademia. Zu dieser Stunde fuhren die Vaporetti nach dem Nachtfahr-plan, doch sie schauten gar nicht, wann das nächste kam, viel schöner war es, Arm in Arm nach Hause zu spazieren.
Oben auf der Accademia-Brücke blieben sie in einträchtigem Schweigen stehen, mit freier Sicht auf den Mond. Beiden fehlten die Worte für die Vollkommenheit rundumher.
Brunetti witzelte bisweilen angesichts der übermäßigen Schönheit ihrer Stadt, doch an diesem Abend sagte er, vollkommen überwältigt, kein Wort, bis sie schließlich weitergingen. (Seite 51)

Blick von der Accademia-Brücke Richtung Santa Maria della Salute. (Bild: Adobe.com)

Man spürt aus den Beschreibungen von Venedig immer wieder, wie sehr Donna Leon selbst diese Stadt liebt und verehrt. In starkem Kontrast dazu steht ihre Kritik an der italienischen Politik, dem Filz zwischen Wirtschaft und Verwaltung, der Korruption. Immer wieder weist sie darauf hin, wie viel in Italien reine Fassade ist. Eine Fassade, die zuweilen tiefe Risse aufweist und bröckelt. Das ist die zweite Konstante in den Romanen rund um Guido Brunetti. Die dritte, das sind seine Beziehungen. In vielen Krimis sind die Kommissare und Ermittler selbst beschädigte Menschen mit dunklen Seiten. Bei Donna Leon ist das anders: Guido Brunetti ist ein glücklicher und, soweit wir das beurteilen können, gesunder Mann. Er liebt seine Frau Paola, seine beiden Kinder Raffi und Chiara und seine Schwiegereltern. Und seine Bücher. Vom Familienleben der Brunetti zu lesen, ist deshalb geradezu erholsam. Der Commissario ist älter geworden, sein Alter hat mit der Zahl der Krimis aber nicht Schritt gehalten.

Donna Leon ist jetzt 82 Jahre alt. Ich bin ihr einige Male persönlich begegnet und habe sie immer als eine humorvolle und energische Frau erlebt, die sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Dem Roman ist ihr Alter kaum anzumerken. Der Text strahlt mehr Gelassenheit aus als früher. Wenn es um die Touristenmassen und um die Scheinheiligkeit der italienischen Politik geht, schlägt die Gelassenheit manchmal in Resignation um, wenn es um den Helden und seine Verbrechen geht, wird daraus Versöhnlichkeit. Auch deshalb tut die Lektüre des Romans gut.

Donna Leon: Feuerprobe. Commissario Brunettis dreiunddreißigster Fall. Diogenes, 336 Seiten, 35 Franken; ISBN 978-3-257-07283-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072839

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 24. Juli 2024, Matthias Zehnder

Die weiteren Titel meiner Sommerserie:

«Unheilvolles Lançon» von Cay Rademacher
«Schatten über Monte Carasso» von Mascha Vassena
«Der blaue Salamander» von Luca Ventura

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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