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Unheilvolles Lançon
Sommer, Ferien, Reisezeit. Wie jeden Sommer entführe ich Sie in meiner literarischen Sommerserie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche führt die Reise in die Provence. Hier ermittelt seit vielen Jahren Capitaine Roger Blanc mit seiner Equipe der Polizeiwache von Gadet in Sachen Mord. Diesmal fehlt ihm allerdings etwas ganz Wesentliches für eine Ermittlung: Es gibt keine Leiche. Blanc wird von der Besitzerin von Château Richelme zu deren Weingut gerufen. Madame Merlin hat auf Videoaufnahmen einer ihrer Drohnen eine leblose Frau entdeckt. Die Drohnen fliegen die Weinberge ab, um kranke Rebstöcke so früh wie möglich zu erkennen. Das ist nötig, weil das veränderte Klima die Reben stark belastet. Auf einem Kletterfelsen im Weinberg hat die Drohne die Frau erfasst. Als Capitaine Blanc und seine Mitarbeiter den Felsen untersuchen, finden sie aber keine Spur einer Leiche. Trotzdem nehmen sie das Schloss, seine Besitzer und die Angestellten genauer unter die Lupe. Und finden heraus, dass hinter der noblen Fassade des Château längst nicht alles zum Besten steht. Dabei ist es längst nicht nur der Klimawandel, der die Existenz der Weinbauern bedroht. In meinem 213. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise in die Provence lohnt.
Kaum jemand versteht es so gut, eine fiktive Geschichte mit realen Informationen über eine Region zu verknüpfen wie Cay Rademacher. Er hat lange als Journalist und Historiker in Hamburg gearbeitet. Da spielen auch drei historische Kriminalromane, die in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs angesiedelt sind. 2013 zog Rademacher mit seiner Familie in die Provence. Hier, im fiktiven Städtchen Gadet, spielen seine Romane rund um den französischen Gendarmen Capitaine Roger Blanc. Im neuen Roman schickt Rademacher seinen Capitaine bereits zum elften Mal auf die Piste. Diesmal geht es in die Welt der Weine. Auf einem Kletterfelsen in den Weinbergen des noblen Château Richelme entdeckt die Besitzerin des Weinguts auf Drohnenbildern den Körper einer leblosen Frau. Als Blanc und seine Mitarbeiterin, Sous-Lieutenant Fabienne Souillard, auf dem Felsen eintreffen, finden sie da aber keine Spur eines menschlichen Körpers. Ausser einem schweren Motorrad, das in der Ferne knattert, ist auch nichts zu hören. Eine Befragung der Angestellten des Château ergibt auch nichts. Roger Blanc hätte eigentlich keinen Grund, der Sache weiter nachzugehen, wäre da nicht sein Bauchgefühl.
Er informiert sich über das noble Weingut, auf dessen Land der Kletterfelsen steht. Château Richelme heisst nicht nur so, es ist tatsächlich ein Schloss. Es ist im 19. Jahrhundert erbaut worden, offenbar von jemandem, der eine Art Loire-Schloss in der Provence haben wollte: ein kleines Palais, gelb verputzt, gepflegt, eine Platanenreihe schützte die südliche Fassade vor der Sonne. Seitlich ist ein Glockenturm angebaut, schlank, hoch, mit einem geschwungenen Dachfirst, wie bei den Kirchtürmen in den Dörfern der Haute Provence. Blanc findet, dass das dem prachtvollen Gebäude eine religiöse Aura verleihe und er fragt sich, ob dieser Effekt gewollt war oder bloss das Resultat davon, dass jemand unbekümmert verschiedene alte Architekturformen für ein Traumhaus vermischt hatte.
Das Château und seine Weinberge gehören dem preisgekrönten Oenologen Francis Merlin. Er hat das Weingut vor vielen Jahren gekauft. Das Schloss war damals eine Ruine, die Reben in schlechtem Zustand und verwildert. Francis hat, wie man so schön sagt, Wein im Blut. Er hat in jahrelanger Arbeit das Schloss und seine Weinberge wieder aufgebaut. Seine Frau Alice erzählt Roger Blanc, dass alles, was mit dem Wein zu tun hat, vom Pflanzen der ersten Setzlinge bis zum Abfüllen der Flaschen, das Werk von Francis Merlin sei. Er sei die Seele von Château Richelme. Sie, Alice, sei bloss die Kassiererin.
«Francis sorgt dafür, dass der Wein in die Welt geht. Ich sorge dafür, dass das Geld der Welt zu uns hereinkommt. Management und Verkauf, das ist das, was ich gelernt habe – und was ich mag. Und ich liebe das Produkt. Seien wir ehrlich: Ein Auto ist letztlich eine Kiste mit vier Rädern. Dafür brennt man nicht. Aber Wein … Nach fünf Jahren trägt ein Rebstock erstmals Trauben, nach zehn Jahren sind die Früchte endlich wirklich gut. Du musst den Weinstock hegen und pflegen, und das dürfen Sie ruhig wörtlich nehmen. Das ist, nun, schwer in Worte zu fassen, aber selbst für Management und Marketing ist das wichtig. Wein ist lebendig, verstehen Sie?»
«Und Wein ist wertvoll», ergänzte Blanc. Bevor ihn ein gewisser Staatssekretär im Innenministerium versetzt hatte, war er Korruptionsermittler in Paris gewesen. Wann immer es um viel Geld ging, wurde er hellhörig.
«Deshalb verkaufen wir unseren Wein auch über unseren Webshop in die ganze Welt. Deshalb trage ich ein Halstuch von Hermès und Rouge auf den Wangen, auch wenn ich zwischen den Rebstöcken stehe – damit ich mich von einer Sekunde auf die nächste in einer Zoom-Konferenz sehen lassen kann. Deshalb präsentieren wir sogar Filme auf TikTok.»
«Auf TikTok sind Minderjährige unterwegs. Die dürfen gar keinen Wein kaufen», brummte Blanc.
«Sollen sie auch nicht. Wir erklären den Wein- und Olivenanbau. Uralte Kulturtechniken. Wenn man die Kinder da nicht früh genug heranführt, dann stirbt dieses Wissen irgendwann aus. Und wir präsentieren den Felsen.» Alice Merlin deutete aus dem Fenster auf die Landschaft. «Wir zeigen Filme von Freeclimbern. Das ist gut fürs Image und macht unseren Namen bekannter.» (Seite 31f.)
Hinter der schönen Fassade von Château Richelme, unter dem Halstuch von Hermès und dem Rouge auf den Wangen, sieht es anders aus. Francis Merlin ist todkrank. Er hat Pankreas-Krebs im Endstadium und liegt seit drei Monaten im Hôpital Nord in Marseille. Justin Merlin, der einzige Sohn des Ehepaars, wird nicht in der Lage sein, in die Fussstapfen seines Vaters zu treten. Er hat seine Ausbildung abgebrochen und lebt ganz seine Rolle als verwöhnter Sohn aus. Dafür umkreist ein britischer Makler das Schloss und seine Besitzerin wie ein Geier die sterbende Beute: Adam Lloyd ist sehr daran interessiert, das Château einem Käufer zu vermitteln. Ausländische Investoren sind bereit, riesige Summen in französische Weingüter zu stecken. Dem Makler winkt bei Erfolg eine Provision in Millionenhöhe. Doch Roger Blanc findet heraus, dass das Château nicht nur seiner Besitzer wegen Probleme hat. Im Gespräch mit einem befreundeten Journalisten findet er heraus, dass die Weinerzeuger in der Provence unter Druck stehen.
«Ich möchte zurzeit kein Weingut haben», erwiderte der alte Journalist schließlich nachdenklich. Blanc nickte. «Die Trockenheit, der Klimawandel …» «Sie haben Covid vergessen, mon Capitaine. Wenn Sie sich ordentlich um die Reben kümmern, ist in normalen Jahren bereits ein einziger Hektar gut für 3500 Flaschen. Die muss man aber erst einmal verkauft kriegen. Die Merlins haben, wie die meisten Winzer der Region, zahllose Restaurants in der Provence beliefert. Die waren während der Pandemie jedoch für Monate geschlossen. Touristen gab es auch nicht. Wohin nun mit den Tausenden Flaschen? Man kann Rosé und Weißwein nicht ewig lagern. Kurz: Auf Château Richelme sind die Merlins in den Covid-Jahren auf einem erheblichen Teil ihrer Lese sitzengeblieben. Nun sind die Restaurants wieder geöffnet, die Touristen strömen in Scharen in den Süden, jeder will es sich gut gehen lassen –ausgerechnet jetzt aber reifen in der Dürre so wenige Trauben wie nie zuvor. Keine Chance, die Verluste der Vorjahre wettzumachen, im Gegenteil, vermutlich zahlen die Winzer schon wieder drauf.» (Seite 105f.)
Das ist der ebenso spannende wie reale Hintergrund, vor dem die Geschichte in Cay Rademachers neuem Roman spielt: Der Klimawandel setzt den Weinbauern zu. Das ist in ganz Europa ein Thema. Plötzlich wird Wein in Ländern angebaut, wo bisher nie Trauben wuchsen: Norwegen baut inzwischen Riesling an und England Chardonnay. In der Schweiz und in Deutschland erobern die Reben immer höhere Lagen. Die klassischen Weingebiete dagegen kommen unter Druck. Die Trockenheit macht den Reben zu schaffen. Die Weinlese hat sich um einen Monat nach vorne verschoben. Statt Mitte Oktober beginnt sie in vielen Gebieten schon Mitte September. Der Klimawandel bringt nicht nur mehr Wärme, sondern auch mehr Hagel, Stürme und Starkregen. Darüber hinaus machen neue Schädlinge und Spinnenarten den Reben zu schaffen. Experten rechnen damit, dass in den nächsten Jahren viele traditionellen Weinbaugebiete verschwinden werden. Da, wo die Reben noch gedeihen, entstehen Trauben mit mehr Süsse und deshalb Wein mit mehr Alkohol und weniger Säure.
All diese Probleme sind real, wir lernen sie in der Geschichte von Cay Rademacher aus der Perspektive eines betroffenen Winzers kennen. Die eigentliche Ermittlung erweist sich dagegen als eher zäh. Was kann die Polizei schon machen ohne eine Leiche. Roger Blanc und seine Leute müssen sich zurückhalten – bis sich die Ereignisse doch noch überschlagen.
Château Richelme ist, wie das Städtchen Gadet, ein fiktiver Ort. Das Schloss hat aber ein reales Vorbild: Es heisst Château Virant und hat tatsächlich einen Kletterfelsen auf seinem Land. Wie das Schloss im Buch verkauft Château Virant einen formidablen Rosé, einen Weisswein und einen Rotwein, aber auch selbst produziertes Olivenöl und mancherlei provenzalische Spezialitäten. Anders als im Buch sind die Besitzer von Château Virant, Robert und Noëlle Cheylan, aber wohlauf und haben nicht vor, ihr Weingut zu verkaufen.
Cay Rademacher: Unheilvolles Lançon. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. DuMont Buchverlag, 400 Seiten, 26.5 Franken; ISBN 978-3-8321-6821-6
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783832168216
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 18. Juli 2024, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
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