Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Beifang
Letzter Tipp: Feuerprobe

Dunkle Verbindungen

Publiziert am 30. Juli 2024 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. Wie jeden Sommer entführe ich Sie in meiner literarischen Sommerserie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche führt die Reise an die Südküste von Portugal. Hier, im malerischen Dorf Fuseta, ermittelt zum mittlerweile sechsten Mal Sub-Inspektor Leander Lost mit seinen Kolleginnen und Kollegen in Sachen Mord. Lost stammt aus Hamburg. Er ist nach einem europäischen Austauschprogramm in Portugal hängen geblieben. Vor allem aber: Lost ist Asperger-Autist. Er ist blitzgescheit, hat ein fotografisches Gedächtnis und eine brillante Kombinationsgabe, aber er sieht Gesichter nur als Einzelteile, kann Gefühle nicht lesen und versteht Ironie nicht. Und: Er kann nicht lügen. Was ihm zuweilen Probleme bereitet. Im neusten Fall geht es um eine Leiche im Teich eines noblen Golfplatzes und um einen brutalen Überfall auf einen Geldtransporter. Der Überfall und die dabei eingesetzten Maschinengewehre wecken böse Erinnerungen bei Graciana Rosado, der Chefin von Leander Lost. Bei einem ähnlichen Überfall ist ihr Bruder erschossen worden und ihr Vater sitzt seither im Rollstuhl. Sind die Verbrecher von damals zurückgekehrt? Und warum überfallen sie mit so grobem Geschütz einen kleinen Geldtransporter in der portugiesischen Provinz? In meinem 215. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise nach Portugal lohnt.

Gil Ribeiro ist ein Pseudonym. Dahinter steckt Holger Karsten Schmidt, ein deutscher Drehbuchautor und Schriftsteller. 1988 reiste er mit zwei Freunden und einem Interrailticket quer durch Europa. Weil sich einer seiner Mitreisenden eine Infektion einfing, strandeten die drei eher zufällig im portugiesischen Tavira. Portugal sei nie ihr Reiseziel gewesen, erzählt er in der ersten Folge seiner Krimis. Nach der ruppigen Art der Spanier sei aber die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Portugiesen eine Wohltat gewesen. So bereisten die drei Freunde die Algarve, zunächst bis nach Lagos und dann bis ans Ende der Welt an der Westspitze des Landes: Sagres. Portugal gefiel ihm und er kehrte immer wieder zurück und fand in Fuseta eine kleine Villa. 1989 weckte Dustin Hoffman mit «Rain Man» sein Interesse für Autisten, das Asperger-Syndrom und das Phänomen der Savants, der Inselbegabungen. So entstand über die Jahre die Geschichte rund um Leander Lost, einem Kommissar aus Hamburg mit Asperger-Syndrom, der im Rahmen eines europäischen Austauschprogramms an der Algarve landet.

Hier ermittelt er seither gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen der Polícia Judiciária, der portugiesischen Kriminalpolizei in Fuseta. Seine Vorgesetzte ist Graciana Rosado, Tochter respektive Schwester der beiden Polizisten, die 2011 bei dem schweren Raubüberfall beschossen worden sind. Sie ist die gute Seele der Kriminalpolizei, kann aber energisch und unerbittlich werden, wenn es gegen Menschen geht, die ihr lieb und teuer sind. Und da sind zwei Kollegen, die beiden Sub-Inspektoren Carlos Esteves und Miguel Duarte. Die beiden sind wie Hund und Katze. Carlos ist ein gemütlicher Portugiese mit Vollbart und halblangem Haar. Er trägt meist Shorts, ein kurzärmliges Hemd und Espadrilles und er ist ständig am Futtern. Miguel Duarte gibt allen sofort zu spüren, dass er eigentlich nicht in die portugiesische Provinz gehört. Er stammt aus Spanien, dem grossen Nachbarland, das sich immer ein wenig zu laut, immer ein wenig zu selbstherrlich, immer ein wenig zu abschätzig gegenüber den Portugiesen verhält und deren Bewohner am Wochenende die Strände an der Ostalgarve bevölkern, weil es dort billiger ist für sie. Graciana und Carlos nennen Miguel unter sich «O Pavão» – der Pfau, weil er peinlich genau auf sein Äusseres bedacht ist. Immer perfekt gekleidet, zieht er alle paar Minuten mit einem Kamm seinen Scheitel nach. Haltung geht ihm über alles. Eine Haltung, die ihm sein Vater von Kindesbeinen an eingeimpft hat. Sein Vater, Don Pablo Esteban Duarte, ist ein ehemaliger Matador, der in seinen aktiven Zeiten mit seiner Todesverachtung Spaniens Stierkampfarenen füllte.

Miguel findet, es sei ein Skandal, dass er Graciana Rosado unterstellt ist. Einer Frau. Und Leander Lost in seinem Team erdulden muss. Einen Autisten. Er findet wesentlich unfreundlichere Worte für den «Alemão», den Deutschen. Er hat deshalb einen Brief ans Innenministerium geschrieben, in dem er Leander Lost explizit als ungeeignet für den Polizeidienst bezeichnet. Und damit implizit die Führungsfähigkeiten von Graciana anzweifelt. Natürlich hat Graciana umgehend eine Kopie des Briefs erhalten. Noch neben dem Golfteich, aus dem gerade die Leiche einer deutschen Tourismusmitarbeiterin geborgen worden ist, stellt sie Miguel in den Senkel. Wie gesagt: Sie kann sehr rabiat werden, wenn es um Menschen geht, die ihr nahe stehen. Und Leander Lost steht ihr nahe. Nicht nur als Kollege, sondern auch, weil er mit ihrer Schwester Soraia verlobt ist.

Es ist deshalb Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet dieser Leander Lost, den Miguel Duarte so gerne aus dem Team mobben würde, ebendiesem Miguel das Leben rettet. Das Team wird zu einem brutalen Raubüberfall auf einen Geldtransporter gerufen, es kommt zu einer Schiesserei. Ein Querschläger trifft Miguel an der Stirne. Der heftige Schlag führt dazu, dass Miguel das Bewusstsein (und, wie sich später herausstellt, das Gedächtnis) verliert. Die Wunde blutet heftig. Nur weil Leander Lost kühl und überlegt handelt und vor Ort die Wunde versorgt, überlebt Miguel. Und macht, mindestens zu Beginn seiner Genesung, eine lustige Wandlung durch. Weil er vorübergehend das Gedächtnis verloren hat, hat er auch vergessen, dass er Leander Lost eigentlich gar nicht mag. Der nimmt den Stimmungsumschwung gelassen. Er kann gar nicht anders.

Als sie auf dem Rückweg von einer Befragung eines Zeugen den Ersatzwagen über die Autobahn jagt, schaut Graciana Rosado ihren deutschen Kollegen von der Seite an:

Leander Lost hatte seit seiner Ankunft an der Algarve drei Spitznamen verpasst bekommen. Der Alemão war recht naheliegend. Als sie begriffen, dass er ein fotografisches Gedächtnis hatte und es ihm eher Probleme bereitete, etwas zu vergessen, als sich daran zu erinnern, nannten sie ihn gerne heimlich «Senior Léxico» Das war ein Kosename.
Aber er war auch ein «Detector de mentiras», ein menschlicher Lügendetektor. Das klang überragender, als es war, denn Leander konnte sich «nur» darauf festlegen, ob ein Mensch log oder nicht. Aus welchem Motiv, das erschloss sich ihm nicht. Menschen logen aus Höflichkeit, Rücksicht, ja, Empathie und Zuneigung. Es gab eine Menge hehre Gründe für die Lüge. … Graciana betrachtete Leander kurz von der Seite, während sie den Dienstwagen auf die Überholspur dirigierte und drei Autos am Stück überholte. Bei nur 150 PS. Da der Mustang wegen der vielen Ein- und Durchschüsse beim Überfall nicht mehr zu fahren war, musste sie sich dringend um einen neuen zivilen Dienstwagen kümmern. Am besten, bevor Cristina Sobral aus Neuseeland zurückkam.
Leander schaute mit reglosem Gesichtsausdruck nach vorn.
Graciana war immer wieder erstaunt, wie stark der sinnliche Schwung seines Mundes und die langen, feinen Wimpern im Kontrast standen zu seinem nahezu faltenlosen Gesicht. Denn Leander bediente sich seiner Gesichtsmuskulatur nur im überschaubaren Maß. Meist wirkte seine Miene etwas eingefroren. Es sei denn, man hatte gelernt, sie zu lesen, so wie sie selbst und Carlos und natürlich Soraia. Denn sie war wie Da Costas Büro: von minimalistischer Überschaubarkeit. (Seite 108f.)

Es ist eine spannende Geschichte, die Gil Ribeiro alias Holger Karsten Schmidt in der sechsten Folge der «Lost in Fuseta»-Serie erzählt. Und natürlich sind es das fotografische Gedächtnis und die Kombinationsgabe von Leander Lost, die das Team auf die richtige Spur bringen. Vom Kriminalfall abgesehen vermitteln die Bücher rund um den sympathischen Autisten aber auch viel Wissenswertes über Portugal im Allgemeinen und die Ostalgarve im Besonderen. Der westliche Teil der Algarve, also der Südküste zwischen Sagres und Faro, ist von Touristen überflutet. Der östliche Teil zwischen Faro und der spanischen Grenze ist dagegen noch eher ursprünglich. Hier ist noch das echte Portugal anzutreffen. Graciana, Carlos und ihre Kollegen sind überzeugt, dass nirgendwo sonst das Azur am Abend so schön ist. Vor allem zeichnet Gil Ribeiro von den Menschen, die hier leben, ein sympathisches Bild. Im ersten Band der Krimis sagt Leander Lost, es sei das «Trotzdem», das die Menschen hier auszeichne:

Sie sind traurig, ja, aber sie verlieren nie den Mut. Sie sind melancholisch und machen daraus eine eigene Musikrichtung. Wenn Ronaldo beim EM-Finale gegen Frankreich nach einem wirklich harten Foul ausfällt und alles verloren scheint, weil das ganze Spiel der Portugiesen auf diesen Mann ausgerichtet ist und er auf dem Rasen sitzt und weint, nehmen die Fans an seinem Leid teil, indem sie sich etwas davon selbst aufbürden. Und es ist doch sehr bezeichnend, wie Menschen mit Leid umgehen und mit Schicksalsschlägen. Die Portugiesen schweißt beides zusammen, und sie begegnen diesen Dingen aufrecht. Sie weichen nicht. So wie Senhor Esteves das eben gemacht hat. Er weiß, dass die Situation so ist, wie sie ist, aber er macht das Beste daraus. Und das mit Würde. Genau wie die portugiesische Nationalmannschaft – allen war klar, dass sie nur verlieren konnten. Auch den Fans. Und was haben sie aus diesem Nichts gemacht? Genau: Sie haben Frankreich geschlagen. Sie haben sich aufgebäumt und nicht gehadert, sie haben das Unmögliche erreicht. Und selbst wenn nicht – sie hätten ihre Würde bewahrt. (Quelle: Gil Ribeiro, Lost in Fuseta: Ein Portugal-Krimi. Leander Lost ermittelt 1; S.283. Kiepenheuer & Witsch)

Und dann zitiert Leander Lost den portugiesischen Nationaldichter Fernando Pessoa: «Da wir dem Leben keine Schönheit abzuringen vermögen, sollten wir zumindest versuchen, unserem Unvermögen Schönheit abzuringen.» Dass der autistischer Alemão den portugiesischen Dichter und Nationalheiligen Pessoa aus der Hüfte zitieren kann, das hinterlässt bei den Einheimischen wirklich Eindruck.

Mir hat der Krimi rund um den autistischen Kommissar in Portugal sehr gut gefallen. Ich kenne die Küste ein bisschen und finde, die Eigenheiten der Menschen sind sehr gut getroffen. Vor allem ihre Freundlichkeit und Zugewandtheit. Das gilt insbesondere für die Familie Rosado, also die beiden Schwestern Graciana und Soraia, aber auch für Vater Antonio, den ehemaligen Polizisten, der jetzt im Rollstuhl sitzt, und für Mutter Raquel, die wie kaum jemand es versteht, Petiscos zuzubereiten. Das sind kleine Häppchen. Deren spanische Entsprechungen, die Tapas, sind höchstwahrscheinlich von den Petiscos «inspiriert» und aus Sicht der Portugiesen wie jede Kopie natürlich nur ein blasser Abklatsch des Originals.

Graciana und Soraia, Kollege Carlos und viele andere Portugiesen, denen Leander Lost an der Algarve begegnet, sind, im wahren Sinn des Wortes, warmherzige Menschen. Von ihnen zu lesen macht einem warm ums Herz. Und das tut, gerade heute, gut.

Gil Ribeiro: Dunkle Verbindungen. Lost in Fuseta. Ein Portugal-Krimi. Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 19.50 Franken; ISBN 978-3-462-00656-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462006568

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 30. Juli 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/