Video-Buchtipp
Nächster Tipp: Schatten über Monte Carasso
Letzter Tipp: Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit
Der blaue Salamander
Sommer, Ferien, Reisezeit. Wie jeden Sommer entführe ich Sie in meiner literarischen Sommerserie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Meine Sommerserie beginnt auf Capri, dem Traum einer Insel in der Bucht von Neapel. Hier arbeiten die beiden Inselpolizisten Enrico Rizzi und Antonia Cirillo. Natürlich sind sie der Polizei in Neapel unterstellt. Wenn auf der Insel etwas Ernsthaftes passiert, rücken die Profis aus der Stadt an. Bloss haben die keine Ahnung vom Leben auf der Insel. So ermitteln Enrico Rizzi und Antonia Cirillo auf eigene Faust. Diesmal geht es um den Mord an Rosalinda Fervidi. Sie wird eines morgens erwürgt im Beichtstuhl der Dorfkirche von Capri gefunden. Die Neapolitaner verhaften fast sofort den geistig etwas beschränkten Strassenkehrer Salvatore. Aber Rizzi und seine Kollegin – und natürlich wir Leser – wissen es besser: Er kann es nicht gewesen sein. In meinem 211. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise nach Capri lohnt.
Auf der Insel Capri sieht es eigentlich immer aus, wie in den Ferien. Die Insel aus Kalkstein im Tyrrhenischen Meer, südlich der Bucht von Neapel, ist von fast schon kitschiger Schönheit. Schon seit dem 19. Jahrhundert lebt die Insel vom Tourismus. Wie auf Sylt, in Venedig oder Zermatt hat das mittlerweile dramatische Folgen für die Einheimischen, die auf Capri leben und arbeiten. Sie haben immer mehr Schwierigkeiten, inmitten der Luxustouristen ein normales Leben zu führen. Wie in anderen Ferienregionen leiden sie zum Beispiel unter den hohen Immobilienpreisen. Immer mehr Hotelangestellte pendeln deshalb mit der Fähre vom Festland aus auf die Insel.
Im Zentrum der Romane von Luca Ventura steht mit Inselpolizist Enrico Rizzi ein Einheimischer. Er ist auf einem kleinen Hof aufgewachsen und hilft seinen Eltern bis heute in den Obst- und Gemüsegärten. Seine Mutter ist mit einem alten Fiat Cinquecento unterwegs, sein Vater mit einer Ape, einem dieser dreirädrigen Kleintransporter mit Zweitaktmotor. Rizzi selbst benutzt eine Vespa. Schon die Motorisierung der Familie Rizzi zeigt: Die Einheimischen können sich auf Capri keinen Luxus leisten.
Sie versuchen deshalb, sich mit guten Ideen und Geschäftssinn über Wasser zu halten. Das gilt auch für Rosalinda Fervidi, die Frau, die ermordet im Beichtstuhl gefunden worden ist. Blumenhändler Giuseppe Ruffini sagt beim morgendlichen Espresso mit Cornetto, Rosalinda habe nie auf der Sonnenseite des Lebens gestanden. Ihre Eltern haben sich getrennt, als sie noch ein kleines Mädchen war, sie wuchs dann zu einer rebellischen jungen Frau heran, die sich von niemandem etwas sagen liess. Zusammen mit einer anderen jungen Frau, mit Alessandra Nobile, hat sie eine kleine Firma für Lederaccessoires geführt: Gürtel, Taschen, Schlüsselanhänger und ähnliches. Rosalinda war die Kreative im Bund: Sie hat die verrücktesten Taschen und Gürtel kreiert – und Alessandra hat sie verkauft. Zusammen waren sie erfolgreich: Die Touristen haben sich auf ihre Accessoires gestürzt. Der Traum von Rosalinda war es, eine Tasche aus dem Leder des blauen Salamanders zu kreieren.
Der blaue Salamander war ein Mythos, wie er entstand, wenn eine Geschichte von Generation zu Generation weitererzählt wurde, ohne dass irgendjemand noch mit Bestimmtheit sagen konnte, ob das, was erzählt wurde, überhaupt stimmte. Rizzi berichtete Cirillo davon, als sie sich auf den Weg zurück nach Capri-Stadt machten. Sie nahmen nicht den direkten Weg, sondern gingen über Montegiardino und Matermania. Rizzi hatte darauf bestanden, damit sie an den Faraglioni-Felsen vorbeikamen.
Als sie nebeneinander auf der Via Pizzolungo gingen, sprach Rizzi über die lucertola azzurra, die Eidechse, die oft, wahrscheinlich, weil es einfach schöner klang, Salamander genannt wurde. Das Besondere und Einzigartige war die spezielle Pigmentierung von Haut und Schuppen, die anders als bei anderen Eidechsen keine grüne bis bräunliche Färbung aufwies, sondern bläulich war. Vor rund hundertfünfzig Jahren von einem deutschen Zoologen entdeckt, war die lucertola azzurra bisher nur vor der Küste von Capri auf den Faraglioni-Felsen gesichtet worden. Die blaue Körperoberfläche erklärten sich die Wissenschaftler durch eine Mutation und schrittweise Anpassung an den felsigen Untergrund, auf dem nichts Grünes wuchs, und diente der Tarnung gegen tierische Fressfeinde, in erster Linie den Greifvögeln.
»Und worin besteht das Geheimnis?«, fragte Cirillo.
Das Meer lag jetzt vor ihnen wie ein blauer, sanft gewellter Teppich, der sich bis zum Horizont ausbreitete. Segelboote kreuzten vor dem Arco della Stella, und eine Jacht hielt auf die Faraglioni-Felsen zu, die gestochen scharf in den Himmel ragten.
Das Geheimnis der lucertola azzurra, erklärte Rizzi, bestehe in ihrem rätselhaften Verhalten, das sich in jenen raren Nächten entfaltet, wenn die Faraglioni-Felsen bläulich zu schimmern beginnen, weil das Mondlicht in einem bestimmten Winkel auf die Felsen und die Wasseroberfläche trifft. Dann gehe mit der lucertola azzurra eine seltsame Veränderung vor sich. Kein Forscher der Welt hat für das Verhalten bisher eine Erklärung gefunden. Die lucertola azzurra, hieß es, schaut in diesen Nächten wie gebannt ins helle Mondlicht, ist dabei völlig unbeweglich, wie erstarrt. In diesen Minuten sei es spielend einfach, sie zu fangen und wie eine blaue, im Mondlicht flirrende Blume von den Felsen zu pflücken. Nur die erfahrenen und verwegenen Fischer wüssten, wo es einen Zugang zu den Faraglioni gab, und riskierten beim Besteigen der Felswand ihr Leben. (S. 170f.)
Diese blaue Eidechse ist keine Erfindung. Es gibt sie wirklich. Sie ist zu einem Symbol für Capri geworden: Sie lebt tatsächlich auf den Faraglioni-Felsen der Insel, und hat diesen bläulichen Farbton angenommen, der sie von allen anderen Eidechsen unterscheidet. Die Festlandpolizei weiss davon natürlich nichts. Und so sind es wieder Enrico Rizzi und Antonia Cirillo, die dem Mörder auf die Spur kommen, weil sie mit den Einheimischen auf der Insel sprechen – und sie ernst nehmen.
Die einzigen, die sich vom Mord auf der Trauminsel nicht aus dem Konzept bringen lassen, sind die Touristen. Die wollen sich ihren Urlaub nicht durch eine solche Bagatelle vermiesen lassen. Auch das gibt Rizzi und Cirillo zu denken:
Sie überquerten die Piazzetta. Am frühen Abend gab es hier keine Besucherströme mehr. Stattdessen flanierten Damen in luftigen Kleidern und Herren im Leinenanzug. Eilig hatten es nur die Leute, die bis jetzt gearbeitet hatten und das nächste aliscafo aufs Festland kriegen wollten. Wie die Leute sich unterhielten, ihre Aperitifs tranken, Nüsse und Oliven aßen und dabei ihre Blicke schweifen ließen – das hatte etwas so Entspanntes, dass Rizzi einerseits erleichtert war zu sehen, wie wenig die Menschen der Mord tangierte, der wenige Meter entfernt begangen worden war. Und andererseits machte ihn genau das fassungslos und beinahe wütend. Als hätte hier, wenige Meter entfernt, nie ein Verbrechen stattgefunden. Doch man musste es wohl so sehen: Die Gleichgültigkeit der Leute war wieder mal der Beweis für die unsichtbare Mauer, die die Welt der Besucher von der Welt der Einheimischen trennte. (Seite 58f.)
Im Normalfall befinden wir uns als Touristen auf der anderen Seite dieser unsichtbaren Mauer, die die Welt der Besucher von der Welt der Einheimischen trennt. Luca Ventura ermöglicht es uns mit seinen Büchern, diese unsichtbare Mauer auf Capri zu überwinden und die Probleme und Nöte der Einheimischen kennenzulernen. Und das erst noch auf ebenso spannende wie unterhaltende Weise.
Luca Ventura: Der blaue Salamander. Diogenes, 336 Seiten, 24 Franken; ISBN 978-3-257-30099-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257300994
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 3. Juli 2024, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/