
Martin Oswald: «Lokaljournalismus lässt sich nicht automatisieren.»
Das 319. Fragebogeninterview, heute mit Martin Oswald, Leiter Regionalmedien und digitale Unternehmensentwicklung bei Galledia. Er sagt, Nachrichten seien heute «nur noch eine Ware, journalistisch uninteressant, weil bereits überall verbreitet und bekannt». Umso wichtiger sei «die Einordnungsleistung und Analyse. Fakten prüfen, Zusammenhänge erklären, Hintergründe aufzeigen – dazu braucht es guten Journalismus». Die Qualität der journalistischen Arbeit sei in den letzten Jahren «mit Sicherheit nicht schlechter» geworden: «Journalistinnen und Journalisten sind gut ausgebildet und die Redaktionen machen sich heute viele Gedanken über Leserbedürfnisse und attraktives Storytelling». Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hätten sich aber deutlich verschlechtert: «Ich sehe einen grossen Teil der heutigen medialen Strukturen aufgrund der sinkenden Einnahmen vom Aussterben bedroht.» In einer direkten Demokratie sei es «unabdingbar», dass «möglichst viele Menschen gut informierte Entscheidungen» treffen. Gerade News-Deprivierte «beklagen sich über ‹Die Medien›, denen man doch nicht mehr glauben könne». Meist hätten sie aber «seit Ewigkeiten keinen Zeitungsbericht mehr gelesen». Eine grosse Chance sieht er im Lokaljournalismus: «Um unser Alleinstellungsmerkmal zu stärken, müssen wir also näher ran. Raus gehen, mit den Leuten reden, schauen, schmecken, zuhören.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Beim Frühstück mit Tochter Emilie versuche ich meinem Drang nach News-Konsum zu widerstehen. Leider aber ist das meine schlechte Angewohnheit in den ersten Minuten nach dem Aufwachen. Kurz nachschauen, was auf der Welt so läuft – ich glaube, das ist ein journalistischer Impuls, den krieg ich nicht weg.
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Da ich seit bald zwanzig Jahren an verschiedenen Fachhochschulen das Thema «Social Media Strategie» unterrichte, habe ich es mir zur Pflicht gemacht, all die Plattformen im Auge zu behalten und Neue stets aktiv zu testen. Was mich inzwischen aber langweilt, ist neben all der Werbung auch die Uniformität der Plattformen. Es gibt kaum noch formale Unterschiede. Zu gerne erinnere ich mich an das alte Twitter, als es dort noch keine Videos, dafür inspirierende Debatten gab.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
News haben an Wert verloren. Ich erinnere mich beispielsweise an den Tod von Michael Jackson im Juni 2009. Beim Radio galt die klare Devise, die Meldung doppelt bestätigt zu wissen, bevor wir sie über den Sender verkünden. Das brauchte Geduld, schaffte aber Glaubwürdigkeit. Heute ist News nur noch eine Ware, journalistisch uninteressant, weil bereits überall verbreitet und bekannt. Umso wichtiger ist heute die Einordnungsleistung und Analyse. Fakten prüfen, Zusammenhänge erklären, Hintergründe aufzeigen – dazu braucht es guten Journalismus.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Die Qualität der journalistischen Arbeit ist mit Sicherheit nicht schlechter geworden. Journalistinnen und Journalisten sind gut ausgebildet und die Redaktionen machen sich heute viele Gedanken über Leserbedürfnisse und attraktives Storytelling. Deutlich schlechter sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geworden. Ich sehe einen grossen Teil der heutigen medialen Strukturen aufgrund der sinkenden Einnahmen vom Aussterben bedroht.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Selbstverständlich. Text ist die Reduktion auf das Wesentliche und genau darum so wertvoll. Wir werden heute auf allen Kanälen mit Bewegtbildinhalten überflutet und weil dadurch Dopamin ausgeschüttet wird, haben wir ein vermeintlich gutes Gefühl, je mehr wie uns davon anschauen. Aber macht es uns auch tatsächlich zufriedener?
Was soll man heute unbedingt lesen?
Ein Gang durch die Buchhandlung löst bei mir gerne mal ein Gefühl von «Fomo» aus. So viele Bücher, die ich gerne noch lesen würde. Oft reagiere ich auf persönliche Empfehlungen aus meinem Umfeld. So bin ich beispielsweise auf «Zwischen Welten» von Julie Zeh oder «Every» von Dave Eggers gestossen. Aktuell lese ich gerade «Moralische Ambition» von Rutger Bregman.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Ich bin ungeduldig und lege Bücher, die mich nicht packen, schnell beiseite.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Irgendwo zwischen LinkedIn und dem Abendessen mit Freunden.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Als teures Premium-Produkt vermutlich noch sehr lange. Sofern die Abonnentinnen und Abonnenten bereit sind, einen angemessenen Preis dafür zu bezahlen, dass ihnen die journalistische Arbeit einer ganzen Redaktion auf Papier gedruckt und nach Hause geliefert wird. Der «Rheintaler», den ich verantworte, kostet pro Tag 1.80 Franken. Nicht gerade viel, wenn Sie das mit einem Kaffee vergleichen.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Lange hielt ich Fake News für eine Chance für Qualitätsmedien, da diese mit sauberen Recherchen in der Lage sind, Lügen aufzudecken und den Wert von Journalismus so immer wieder von Neuem unter Beweis zu stellen. Ich fürchte aber, im Zuge der Entwicklung rund um Künstliche Intelligenz wird der Kampf gegen Fake Videos kaum zu gewinnen sein. Schon jetzt lösen künstlich produzierte, aber täuschend echt wirkende Videos Millionen von Reaktionen in den Sozialen Medien aus. Wichtig wäre eine automatische Kennzeichnung, aber so wie Musk und Zuckerberg unterwegs sind, haben sie gar kein Interesse daran.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ich habe zehn Jahre bei Radio SRF 3 gearbeitet, eine unvergesslich schöne und spannende Zeit mit einem wunderbaren Team. Dort habe ich meine ersten journalistischen Erfahrungen gemacht, viel ausprobieren dürfen und gelernt, welche Kraft im Medium Audio liegt. Radio ist das persönlichste Medium, weil die Stimme so viel Nähe schaffen kann. Heute konsumiere ich nur noch Live-Sport tatsächlich linear.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Da ich viel unterwegs bin, höre ich rund fünf Stunden Podcast pro Woche. Am liebsten mag ich Gesprächsformate über Politik, Gesellschaft oder gern auch mal über Fussball. Zu meinen Favoriten gehören «Focus» von SRF 3, «Lanz & Precht», «’Ne gute Stunde» mit Eva Schulz, «Alles gesagt» von «Zeit Online». Und als mein guilty pleasure «Roger gegen Markus». Das Gehabe der beiden nervt mich unglaublich. Aber dennoch hilft mir ihr Streitgespräch, mir selbst eine Meinung zu bilden.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Das ist auf jeden Fall alarmierend, weil in einer direkten Demokratie unabdingbar ist, dass möglichst viele Menschen gut informierte Entscheidungen treffen. Was mich allerdings stört: Es wird kein Unterschied zwischen Journalismus und irgendwelchen Social-Media-Inhalten gemacht. Viele News-Deprivierte beklagen sich über «Die Medien», denen man doch nicht mehr glauben könne. Meist haben sie aber seit Ewigkeiten keinen Zeitungsbericht mehr gelesen, sondern bilden sich ihre Meinung nur noch über den Instagram-Feed.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Ich wäre froh, Pietro Supino würde sich Kraft seines Amtes dafür einsetzen, dass bei Tamedia weiterhin Geld in den Journalismus investiert wird. Aber zur Frage: Was Donald Trump im Amt als US-Präsident macht, darüber kann auch die KI schreiben, und zwar deshalb, weil es jede Menge Informationen und Quellen gibt. Dass bei uns im Rheintal junge Mütter ihre Kinder ins Vorarlbergische bringen, um sie dort in einer Kinderkrippe günstiger betreuen zu lassen, für diese Geschichte brauchte es unsere Redaktion. Diese Art Lokaljournalismus lässt sich nicht automatisieren. Um unser Alleinstellungsmerkmal zu stärken, müssen wir also näher ran. Raus gehen, mit den Leuten reden, schauen, schmecken, zuhören.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Weder noch.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Ja. Allein im letzten Jahr sind 600 Stellen verloren gegangen, Titel werden eingestellt, Regionen verlieren ihre letzte Tageszeitung. Wir erleben ein Marktversagen im grossen Stil. Es werden mehr Medieninhalte konsumiert als jemals zuvor, aber die Einnahmen durch Printabos und Werbung brechen rasend schnell weg. Ich denke die Politik hat inzwischen verstanden, dass diese Entwicklung gefährlich ist. Doch der Weg bis zu einem griffigen und zeitgemässen Mediengesetz ist noch weit.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
So selten, dass ich bereits über mein Schriftbild erschrecke, wenn ich mal wieder einen Brief von Hand schreibe.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Schlecht für die Gesellschaft. Donald Trump sendet in meinen Augen ein verheerendes Signal aus. Er schaffte es mit Lügen, mit Hass und Hetze, mit Diffamierungen und Unwissen in das höchste politische Amt. Was schafft das für Vorbilder? Was die Welt bräuchte, wären Leader, die durch Weisheit und Grösse agieren, die die Gesellschaft einen, statt zu spalten. Leider sehen wir ähnliche politische Tendenzen in Europa. Wir bewegen uns gerade in die falsche Richtung.
Wem glaubst Du?
Gut belegten Fakten und der eigenen Intuition.
Dein letztes Wort?
Gründe, sich Sorgen zu machen, gibt es momentan deren viele. Aber Optimismus ist auch eine Entscheidung. Das habe ich von Dirk von Gehlen gelernt, der Gast in meinem Podcast «Chance Maker» war. Optimismus und persönliches Engagement, dann können wir was zum Positiven bewegen.
Martin Oswald
Seit der Jahrtausendwende im Journalismus hat Martin Oswald vom Radioreporter bis zum Verlagsleiter unzählige unterschiedliche Rollen bekleidet. Zuerst zwölf Jahre bei Schweizer Radio und Fernsehen, dann sieben Jahre bei CH Media war Oswald meist für das Digitale Angebot verantwortlich. Seit zwei Jahren leitet er die Regionalmedien von Galledia. Daneben doziert er an Fachhochschulen und hat 2024 mit «Change Maker» ein eigenes Podcast-Format lanciert.
www.martinoswald.ch
Basel, 05.02.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Michel Canonica
Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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Ein Kommentar zu "Martin Oswald: «Lokaljournalismus lässt sich nicht automatisieren.»"
Ein Interview mit vielen substanziell sehr interessanten Statements. – Meine Vision ist ein reflektierter Journalismus, der zur Reflexion anregt. Beispielsweise im Sinne von Friedrich Dürrenmatt, der 1985 geschrieben hat: „Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.“