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Every

Publiziert am 14. Dezember 2021 von Matthias Zehnder

The Circle» ist Ihnen sicher ein Begriff – wenn nicht der Roman von Dave Eggers aus dem Jahr 2013, dann doch dessen Verfilmung mit Emma Watson und Tom Hanks. Circle ist eine fiktive Firma, die aus der Fusion des grössten sozialen Netzwerks mit der grössten Suchmaschine entstanden ist. «Geheimnisse sind Lügen» lautet das Motto, «Teilen ist heilen» und «Alles Private ist Diebstahl». Jetzt hat Dave Eggers eine Fortsetzung geschrieben. Circle hat auch noch den grössten E-Commerce-Händler der Welt übernommen und heisst jetzt Every. Und Every kümmert sich auch wirklich um jeden Lebensaspekt der Menschen. Hauptfigurd des Romans ist Delaney Wells. Sie will Every von innen zerstören. Ihre Taktik: Sie füttert die Everyones, also die Every-Mitarbeiter, denen Sie begegnet, mit absurden und überdrehten Ideen und will so das System zum Kollaps bringen. Das Resultat ist eine bitterböse Satire auf die Welt der Selbstoptimierung, eine Art Gullivers Reisen des 21. Jahrhunderts.

Hauptfigur von «The Circle» war Mae Holland, im Film von Emma Watson gespielt. Sie beginnt bei Circle im Kundendienst zu arbeiten und steigt rasch in der Firma auf. Sie wird zur Botschafterin für die Firma und verkörpert die Doktrin der totalen Transparenz. In der Fortsetzung «Every» ist Mae Holland zum CEO der Firma aufgestiegen. Als erste vollkommen transparente Mitarbeiterin hatte sie ihre Tage und Nächte gestreamt und war dem Unternehmen gegenüber vollkommen loyal. Sie hat zwar keine Ideen, weiss aber, wie sie sich durchsetzt.

Hauptfigur von Every ist wieder eine junge Frau. Diesmal heisst sie Delaney Wells. Anders als Mae Holland ist Delaney nicht eifrig, sondern wütend. Auch Delaney will bei der Firma Karriere machen, aber nicht, weil sie Every so gut findet, sondern weil sie Every von innen zerstören will. Eigentlich ist Delaney Wells eine Trog. So heissen die Technik-Skeptiker in der Every-Welt. Diese Lebensweise ist immer seltener und sehr viel teurer geworden. So sind die Versicherungsraten für Trog-Häuser höher. Es gibt Bestrebungen, Trog-Wohnungen ganz zu verbieten. Es ist ein Gesetz erlassen worden, nach dem Kinder grundsätzlich nicht mehr in Trog-Häusern wohnen dürfen. Kinder ohne Überwachung aufwachsen zu lassen, wird einfach als zu gefährlich empfunden. Nachbarn betrachten Trog misstrauisch: Warum lassen die keine Technik ins Haus? Was haben die zu verbergen? 

Während ihres Studiums hat Delaney Wells den Entschluss gefasst, gegen Every zu kämpfen. Und zwar von innen. Sie hat sich deshalb einen Lebenslauf verpasst, mit dem sie sich für Every empfiehlt. Sie hat bei einem Startup gearbeitet, von dem sie sich ausrechnen konnte, dass es einmal von Every aufgekauft wird. Das ist auch tatsächlich passiert. Delaney ist zwar nicht gleich mitübernommen worden, aber sie wird angestellt. Schon beim dritten Vorstellungsgespräch präsentiert sie Every 

eine Idee für eine neue App: Sie nennt sie «AuthentiFriend»: Mit Hilfe von KI und jeder Menge Sensoren untersucht die App, wie aufrichtig Freunde und Partner miteinander kommunizieren und ermittelt daraus einen Freundschaftswert. Delaney ist sicher, dass die Menschen die Absurdität der App erkennen werden. Doch die App wird ein riesiger Erfolg. Die Einführung führt zu Tausenden von Scheidungen – aber die Menschen haben endlich Zahlen, auf die sie sich in Beziehungen stützen können. Das ist viel präziser als nur so ein Gefühl.

Solche Apps hat Every viele. OwnSelf zum Beispiel. Das ist eine App, die den Menschen hilft, ihre eigenen Ziele zu erreichen. OwnSelf teilt den Tag ein und hält einen auf Trab, damit man die Ziele auch wirklich erreicht. Sämtliche OwnSelfs können miteinander kommunizieren. Damit gibt es keine Ausreden mehr. Die OwnSelfs packen das, was dringend erledigt werden muss, in den Zeitplan, und es wird erledigt. Die Menschen fühlen sich dabei nicht etwa versklavt oder herumdirigiert, nein: sie finden es beruhigend, dass sie die Planung einer App überlassen können. Denn wenn die Menschen mit etwas nicht umgehen können, dann ist es Freiheit.

Oder TruVoice. Ursprünglich war die App dafür entwickelt worden, die Online-Kommunikation nach Tabus zu durchsuchen – kränkenden, entmutigenden, empörenden, vulgären, falschen oder veralteten Wendungen. Tabusprache wird entfernt oder ausgetauscht. Ziel ist es, Nachrichten zu verschicken, die vor der Nachwelt Bestand haben. Schliesslich wird alles gespeichert und ist immer transparent. Die neue Version von TruVoice kümmert sich jetzt um die gesprochene Sprache. «Klinge wie du selbst», ist das Motto. Die überwältigende Mehrheit der User, über zwei Milliarden in 130 Sprachen, sieht es als ein Geschenk des Himmels. TruVoice analysiert, was man sagt, liefert jeden Abend eine Zusammenfassung des Wortgebrauchs und schlägt vor, wo man sich verbessern kann.

Weil es in der Kommunikation natürlich auf das Gegenüber ankommt, können Kolleginnen und Kollegen einen raten. Kiki, die Delaney bei Every einführt, erklärt ihr das so:

«AnonCom ermöglicht es Kollegen, Beschwerden einzureichen – also nicht direkt Beschwerden, eher Vorschläge, wie du dich verbessern kannst –, anonym. Die kommen in deinen Folder, zusammen mit allen Leistungsbewertungen, Partizipationspunkten, Smiles, ComAnons, Shams, Schrittzahlen, Schlafstunden, Frowns und so weiter. Sämtliche Werte sind für dich und alle Everyones einsehbar und werden zu einer Gesamtzahl zusammengefasst, und dann werden die Gesamtzahlen aller Everyones in aufsteigender Reihenfolge aufgeführt.»

Der Algorithmus entlässt alle drei Monate automatisch jene zehn Prozent der Mitarbeiter jeder Abteilung mit den tiefsten Werten. Wobei Every nicht von Entlassung spricht, sondern von Entschäftigung. Die Everyones sind deshalb ständig auf der Hut, sie versuchen, alles richtig zu machen, niemanden zu verletzen, niemanden zu beschämen – am allerwenigsten sich selbst. Delaney erkennt die Everyones am Zittern ihrer Pupillen. Viele machen alles perfekt. Nur eines haben sie nicht mehr: Ideen. Sie werden absolut phantasielos. Deshalb hat Delaney keine Mühe, ihnen ihre gefährlichen Ideen einzuflössen.

Und die Everyones schauen nicht nur zu sich, sondern auch zur Umwelt. Sie versuchen auch da, alles richtig zu machen. Auf dem Campus von Every ist deshalb Plastik verboten. Und natürlich Fleisch, Fisch und andere schädliche Nahrungsmittel. Es gibt weder Geschirr, noch Gläser oder Besteck. Man isst von Hand – es ist einfach unglaublich, wieviel Spülwasser man so sparen kann. Getränke werden in kleinen Bällchen serviert. Die Flüssigkeit wird von einer hauchdünnen Membran gehalten. Man steckt sich den Ball in den Mund und drückt zusammen. Die Membran platzt und man schluckt die Flüssigkeit herunter. 

Bei einem Essen erfindet Delaney den Hashtag Bananaskam: Sie beschwert sich, dass Bananen von viel zu weit herkommen und erst noch von unterbezahlten Arbeitern geerntet würden. Sofort steigen die anderen darauf ein und innert kürzester Zeit liegen auf den Tischen des Buffets nur noch regionale Produkte.

Reisen ist viel zu schädlich, Every hat deshalb die App «Stop and Look» entwickelt. Wobei sich die App trendig «Stop+Lük» schreibt. Damit die Menschen nicht selbst reisen müssen, bietet die App Führungen mit Kameras an: So kann man vom Sofa aus mit einem VR-Headset auf der Nase individuell nach Venedig, Paris, London, Shanghai und andere Orte reisen.

Every setzt sich für die Abschaffung der Papierpost ein. Mae Holland persönlich hat der Papierpost im Namen von Sicherheit und Anstand den Krieg erklärt. Das sei der letzte sichere Hafen für Terroristen und weisse Rassisten, sagte sie. Digitale Medien können durchsucht und Hassbotschaften entdeckt werden, erklärte die Chefin von Every. Papierpost hingegen ist undurchsichtig und daher das perfekte Mittel, um Hass zu verbreiten. Zwar gibt es keinerlei Beweise dafür, dass Terroranschläge per Post geplant werden, aber die Leute schlucken den Köder. Als Mae Holland die Abschaffung der Post vorschlägt, findet die Idee breite Unterstützung. 

Die Handlung im Buch von Dave Eggers ist eigentlich nebensächlich. So, wie Jonathan Swift 1726 Gulliver durch allerlei Länder reisen lässt, bietet Eggers seiner Heldin die Möglichkeit, allerlei Abteiliungen von Every kennenzulernen. Dabei stösst sie auf immer absurdere Segnungen der sozialen Überwachung – und versucht, die Menschen mit noch schlimmeren Vorschlägen endlich dazu zu bringen, die Augen zu öffnen. Von Anfang ist aber klar, dass ihr Kampf gegen Every scheitern muss.

Unterhaltsam und teils bitterböse sind die vielen Anwendungen, die Eggers für seine Geschichte erfunden hat. Etwa die App FictFix. Ziel der Anwendung ist es, alte Romane zu verbessern. Unsympathische Protagonisten werden sympathisch gemacht, indem Online-Beschwerden gesammelt und Empfehlungen umgesetzt werden. Schwierige und veraltete Terminologie wird an zeitgenössische Normen angepasst. Überflüssige Kapitel und Passagen sowie alles Weitschweifige wird entfernt. Bei E-Books können die Veränderungen auch lange nach dem Kauf noch vorgenommen werden. Eine Erweiterung von FictFix kümmert sich um Zeitungsartikel, ebenfalls rückwirkend vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. Ziel ist es, Beleidigungen zu vermeiden und grössere Klarheit herzustellen. Die Texte werden nach dem Wikiprinzip von Usern bearbeitet, sodass sie schnell und kontinuierlich verbessert wurden. Delaney erhofft sich davon Proteste der Menschen. Doch die Reaktion sind durchweg positiv. 

Beim Lesen dieser Absurditäten bleibt einem das Lachen im Hals stecken, wenn man sich daran erinnert, dass deutschsprachige Verlage in den letzten Jahren genau das mit Kinder- und Jugendliteratur gemacht haben.

Natürlich wiederholt sich das Prinzip mit der Zeit: Scheinbar vernünftige Argumentation wird übersteigert und führt zum Verlust von Freiheit und Selbstbestimmung. Etwa die Idee mit der Überwachung von Privathaushalten. Seit Every den öffentlichen Raum mit Kameras überwacht und die KI Verbrechen sofort an die Polizei meldet, ist die Zahl der Einbrüche, Diebstähle und Gewalttaten stark zurückgegangen. Also schlägt Delaney vor, auch Privatwohnungen zu überwachen. Die Logik: Die meisten Missbräuche erfolgen in der Familie. So, wie der Rauchmelder vor Kohlendioxid warnt, soll künftig der intelligente Lautsprecher von Every vor möglicher Gewalt in der Familie warnen und gleich die Polizei alarmieren. Die Menschen wehren sich nicht gegen die Überwachung, sondern akzeptieren sie zu Gunsten von mehr Sicherheit. Ja: Wer sich dagegen wehrt, kommt in den Verdacht, Kindsmissbrauch zu schützen.

Every ist eine klassische Dystopie, die in vielen Belangen stark an «Gullivers Reise» von Jonathan Swift erinnert. Wie bei Swift schimmert bei Eggers ab und zu die Verbitterung über die aktuellen Zustände durch. Für uns Leser bietet das Buch, trotz teilweise etwas vorhersehbarer Handlung, eine bitterböse Satire auf die Selbstoptimierung und den Verlust der Freiheit durch die digitale Überwachung. Das Lachen bleibt einem deshalb mehr als einmal im Hals stecken.

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462001129

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 14. Dezember 2021, Matthias Zehnder

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