Thomas Merz: «Wir befassen uns zu häufig mit dem, was interessant ist – und zu wenig mit dem, was wichtig ist.»
Das 305. Fragebogeninterview, heute mit Thomas Merz, Prorektor für Forschung und Wissensmanagement an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Er geht davon aus, dass in den nächsten Jahren noch einige Tageszeitungen verschwinden werden. «Wenn die Zeitungen teurer – und gleichzeitig dünner werden, sind ihre Tage gezählt», sagt er. «Zudem richten sich viele Zeitungen in ihren Inhalten immer stärker nach der Online-Klickrate und unterliegen dabei einem Trugschluss. Sie gewichten emotional stimulierende Artikel stärker – was zugleich ihre Reputation als tragfähige Informationsmedien schwächt.» Man bezahle aber nicht mehrere hundert Franken für ein Medium, das keine Alternative zur kostenlosen Emotionalisierung online biete. «Man bezahlt, wenn die Zeitung eine wirkliche Alternative ist. Eine Alternative, die man sonst nicht findet.» Eine Demokratie könne nur funktionieren, wenn die Bürgerinnen und Bürger informiert seien. Die grosse Schwierigkeit sei: «Wir begegnen in unserem Medienalltag auf Schritt und Tritt Informationen. Deswegen sind wir allerdings noch lange nicht informiert.» Qualitätsjournalismus sei für die Gesellschaft unverzichtbar, deshalb müssten wir uns überlegen, wie wir ihn finanzieren. «Wir könnten uns keine moderne Gesellschaft ohne Schule vorstellen. Genau dieselbe Selbstverständlichkeit müssen Qualitätsmedien haben.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Mein Frühstück besteht in der Regel aus einem Kaffee – und dazu gehört nach wie vor die «Thurgauer Zeitung» – auf Papier. Hier informiere ich mich insbesondere über die aktuellen Themen aus Region und Kanton.
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, Twitter/X, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Ich nutze Social Media seit der ersten Stunde, intensiv und gern. Dabei achte ich sehr auf einen konstruktiven Umgang mit anderen Meinungen auf meinem Profil. Social Media sind für mich in vielerlei Hinsicht – für persönlichen Austausch wie auch für fachliche Diskussionen – ein Gewinn. Sie ermöglichen Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichsten Lebenssituationen und mit unterschiedlichen Haltungen.
Allerdings halte ich die Verbreitung von Falschnachrichten, von Manipulation und Hass für ein grosses Problem. Wenn wir möchten, dass unsere westlichen, freiheitlichen Demokratien überleben, müssen wir gewährleisten, dass nur verifizierte Accounts zugelassen werden. Andernfalls werden wir – mit zunehmenden Möglichkeiten durch Künstliche Intelligenz – die tragfähigen Informationen unter den vielen Falschnachrichten kaum mehr finden.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Ich erlebte Digitalisierung in allen Bereichen. Im Büro habe ich noch ein Umdruckgerät, mit dem ich in einem Sommerlager immerhin ca. 80 Kopien pro Vorlage machen konnte. Mein erstes Buch schrieb ich noch mit der Schreibmaschine. Für meine Radiosendungen schnitt ich richtige Tonbänder und klebte sie zusammen. Nach Veranstaltungen entwickelte ich meine Fotos selbst und schickte sie per Post den Zeitungen, für die ich berichtete. Und für Recherche gab es Post, Telefon und Bibliotheken. Den markantesten Wechsel brachte dann natürlich das Internet.
Heute geniesse ich mit meinem Smartphone, eine Medienzentrale mit mir herumzutragen, sämtliche Informationen jederzeit greifbar zu haben – und mit andern Menschen auf vielfältige Weise in lebendigem Austausch stehen zu können.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Grundsätzlich schätze ich die Entwicklung der Medien mit den vielfältigen Möglichkeiten sehr. Das zentrale Problem sehe ich darin, dass die gesellschaftliche Entwicklung der technologischen immer etwas hinterher hinkt. Wir haben als Gesellschaft noch keinen konstruktiven Umgang mit den vielfältigen Möglichkeiten gefunden. Als Medienpädagoge sehe ich, wie hilflos Eltern angesichts der Medienfülle heute oft sind. Und ich sehe, auf welch tiefem Niveau politische Diskussionen rund um Mediennutzung, Mediensysteme und Medienförderung häufig erfolgen.
Je schneller sich die Medienwelt verändert, umso mehr müssten wir auch investieren in unsere Bildung, um all diese Möglichkeiten auch wirklich sinnvoll und konstruktiv zu nutzen.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Unbedingt. Ein geschriebener Text hat einen Anfang, einen logischen Aufbau, führt schrittweise durch die Gedankenwelt hin zu konkreten Aussagen. Sprache zwingt zu Genauigkeit. Das wiederum zwingt zum Denken – beim Schreiben genauso wie beim Lesen. Darin steckt dann aber auch eine Qualität. Will ich mich mit einem Sachverhalt in aller Ruhe vertraut machen, lohnt sich das Lesen unbedingt auch heute noch.
Klar, auch Bild, Ton, Mimik, Gestik usw. haben ihre Qualität. Aber sie ersetzen das geschriebene Wort nicht, sondern ergänzen es und bringen ihre eigene Qualität ein.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Persönlich war ich schon immer ein Sachtext-Liebhaber. Ich liebe es, mehr zu erfahren über unsere Welt, über Menschen, über unsere Gesellschaft, über Technologie, über Naturwissenschaft, Ernährung, Gesundheit, über philosophische und ethische Fragen, über wirtschaftliche Zusammenhänge usw. Nach wie vor halte ich das Lesen von längeren Texten, namentlich von Büchern für eine vertiefte Auseinandersetzung mit all diesen Themen für unverzichtbar. All das bereichert mein Leben, meine Gespräche, mein Denken …
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Meine Lebenszeit ist mir zu schade, um sie bewusst mit etwas Sinnlosem zu verbringen. Daher lese ich sehr gern – aber nur, was sich tatsächlich auch zu lesen lohnt.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Einerseits begegne ich diesen Themen im direkten Gespräch mit Freundinnen und Freunden, auf Social Media, auf medialen Plattformen. Anderseits natürlich im linearen Radio oder TV.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Ich gehe davon aus, dass in den nächsten Jahren noch etliche Titel verschwinden werden. Denn entscheidend ist nicht, ob wir gern eine Zeitung in der Hand halten, um sie zu lesen. Sondern entscheidend ist, ob sich so eine Zeitung auch finanzieren lässt. Wenn die Zeitungen teurer – und gleichzeitig dünner werden, sind ihre Tage gezählt.
Zudem richten sich viele Zeitungen in ihren Inhalten immer stärker nach der Online-Klickrate und unterliegen dabei einem Trugschluss. Sie gewichten emotional stimulierende Artikel stärker – was zugleich ihre Reputation als tragfähige Informationsmedien schwächt. Man bezahlt aber nicht mehrere hundert Franken für ein Medium, das keine Alternative zur kostenlosen Emotionalisierung online bietet. Man bezahlt, wenn die Zeitung eine wirkliche Alternative ist. Eine Alternative, die man sonst nicht findet.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Fake News sind aus meiner Sicht in erster Linie eine Gefahr für unsere Gesellschaft. Gerade in der Schweiz sind wir auf Gedeih und Verderben darauf angewiesen, dass sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger fundiert über die zur Diskussion stehenden Themen informieren. Wer nicht oder falsch informiert ist, fällt falsche Entscheidungen.
Für Medien könnten sie eine Chance sein, wenn sie eine hochwertige Informationsqualität als Alternative bieten. Dazu ist aber das Vertrauen in ein Medium zwingend notwendig. Wenn Medien – siehe oben – emotionalisieren und sich nach Klickraten ausrichten, gewinnen sie zwar momentane Aufmerksamkeit, verlieren aber an Glaubwürdigkeit.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
TV nutze ich sehr oft am Abend, parallel zur Mail-Bearbeitung, Radio teilweise unterwegs. Gerade das lineare Angebot hat auch den Vorteil, dass man immer wieder mit Themen konfrontiert wird, die man gar nicht bewusst wählen bzw. suchen würde.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Durchaus. Sie sind für mich aber eher Ergänzung im ganzen Medienmix. Neben aktuellen SRF-Podcasts wie «Echo der Zeit» oder «International» gehören beispielsweise «Beziehungskosmos» oder «Die Tagesanzeigerin» dazu – oder (ganz neu entdeckt) «Beziehungen verstehen» von Guy Bodenmann.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Persönlich sehe ich hier eine der ganz grossen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Sämtliche Entscheidungen, die wir fällen, fällen wir auf der Basis unserer Informationen. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Bürgerinnen und Bürger informiert sind. Eine grosse Schwierigkeit ist heute: Wir begegnen in unserem Medienalltag auf Schritt und Tritt Informationen. Deswegen sind wir allerdings noch lange nicht informiert.
Es muss uns als Gesellschaft also sehr interessieren, wie es gelingt, dass sich Bürgerinnen und Bürger wirklich informieren. Im übrigen betrifft dies natürlich nicht nur die Jungen, sondern Menschen in jedem Lebensalter.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Selbstverständlich lässt sich Journalismus automatisieren.
Die andere Frage ist aber: Warum soll ich für solchen automatisch erstellten Content etwas bezahlen? Wenn es um reine Sachinformationen geht, mag das funktionieren. Sobald es aber darum geht, sich vertieft mit einem Thema zu befassen, etwas in einen Zusammenhang zu stellen, zu gewichten im Kontext unserer Lebensrealität, dann halte ich (zumindest die heutige) KI in keiner Weise tauglich. Und dazu: Wenn KI den Artikel im «Tages-Anzeiger» schreiben kann, dann brauche ich auch keinen «Tages-Anzeiger» dazu … Von einer Tageszeitung erwarte ich mehr.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Digitalisierung bringt gegenüber früher unvergleichliche Chancen, zu publizieren. Noch ist aber der Königsweg nicht gefunden, wie wir gewährleisten können, dass der für die Gesellschaft unverzichtbare Qualitätsjournalismus auch finanzierbar ist. Soll Qualitätsjournalismus auf Dauer gewährleistet werden, ist aber eine tragfähige Finanzierung unverzichtbar. Und diese Frage müsste uns alle beschäftigen. Wir könnten uns keine moderne Gesellschaft ohne Schule vorstellen. Genau dieselbe Selbstverständlichkeit müssen Qualitätsmedien haben.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Aus meiner Sicht werden wir nicht umhinkommen, Qualitätsjournalismus zu finanzieren. Traditionelle Finanzierungsquellen sind seit vielen Jahren am Versiegen, neue können diese nicht im Ansatz ersetzen. Wie bereits erwähnt: Ob Menschen informiert sind, betrifft sie nicht nur selbst, sondern die ganze Gesellschaft. Darum muss uns auch als ganze Gesellschaft interessieren, ob sich Qualitätsjournalismus finanzieren kann oder nicht.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Klar. Sehr viele Notizen im Alltag mache ich in mein Notizbuch. Was ich von Hand geschrieben habe, bleibt auch intensiv im Gedächtnis. Und im Keller habe ich übrigens noch eine richtige Wandtafel. Die Kinder in unserem Quartier liebten sie – und das Schreiben auf Wandtafel hat für mich noch eine ganz andere Qualität als mit einem Computer oder auf anderem Material.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Ich halte es vor allem für die Gesellschaft für hoch problematisch, dass ein Mensch, der nachweislich in tausenden von Fällen die Öffentlichkeit belogen hat, überhaupt noch als Kandidat für das Präsidium der mächtigsten Nation ernsthaft in Frage kommt. Aus meiner Sicht müssten wir insbesondere in westlichen Demokratien andere ethische Ansprüche haben. Dass unzählige Wählerinnen und Wähler locker sagen: «Ich weiss schon, dass er lügt – aber find ihn trotzdem gut», hat mich nachhaltig schockiert.
Für viele Medien ist er sicher insofern eine Belastung, als er ganz grundsätzlich mit seinem Einfluss die Glaubwürdigkeit von Medien schwächt, die nicht seine politische Haltung teilen.
Wem glaubst Du?
Als Prorektor für Forschung an einer Hochschule ist für mich klar, dass wissenschaftliche Grundlagen nach wie vor zum gesichertsten Wissen gehören, das wir in unserer Gesellschaft haben. Die Arbeit mit wissenschaftlichen Methoden gewährleistet hohe Verlässlichkeit.
Die Frage, wem ich glaube, zielt aber auf Menschen. Und da kann ich durchaus sagen: Ganz grundsätzlich vertraue ich den Menschen, denen ich begegne. Und mit ganz ganz wenigen Ausnahmen fühle ich mich in dieser Grundhaltung auch im Leben sehr bestätigt.
Dein letztes Wort?
Zwei Anliegen sind mir hier wichtig. Zunächst: Eines meiner zentralen Anliegen in der Medienpädagogik ist die Unterscheidung zwischen interessant und wichtig. Wir befassen uns zu häufig mit dem, was interessant ist – und zu wenig mit dem, was wichtig ist. Denn in unserer heutigen Medienfülle finden wir jederzeit überall Beiträge, die für uns im Moment gerade interessant sind. Aber wir können heute problemlos den ganzen Tag von einem zum andern «interessanten» Beitrag switchen, ohne uns mit einem Thema zu befassen, das für uns wirklich wichtig ist.
Das zweite: Gerade die rasche Entwicklung im Bereich künstlicher Intelligenz fordert uns ultimativ dazu heraus, über unser Menschsein nachzudenken: Was macht uns zutiefst menschlich? Nur wenn wir diese Qualität kennen, werden wir durch Künstliche Intelligenz nicht ersetzt werden können.
Thomas Merz
Thomas Merz, Prof. Dr. phil., lic. theol., ist Prorektor für Forschung und Wissensmanagement an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Als Medienpädagoge hat er das Thema an Pädagogischen Hochschulen etabliert und am Lehrplan 21 im Bereich Medien und Informatik mitgearbeitet. Er ist vielseitig publizistisch sowie als Speaker tätig. Zuvor arbeitete er als Print- und Radiojournalist sowie als Primarlehrer.
www.phtg.ch/thomas.merz
Basel, 30.10.2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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3 Kommentare zu "Thomas Merz: «Wir befassen uns zu häufig mit dem, was interessant ist – und zu wenig mit dem, was wichtig ist.»"
An den Antworten dieses Fragebogens erkennt man, das Podcasts immer massgebender werden. Oft ist die Liste der Lieblingspodcaste länger als die der Zeitungen, Radios oder TVs. Auch heute wieder: «Beziehungskosmos», «Die Tagesanzeigerin» oder (ganz neu entdeckt) «Beziehungen verstehen» verkündet Th. Merz.
Dazu passt, dass sogar der neue Präsident der USA wegen Podcasts gewählt werden könnte, welche langsam gewichiger werden als die offiz. Medien.
„Donald Trump bei Joe Rogan: Per Podcasts zum Sieg bei der US-Wahl?“ fragt z.B. die Frankfurter Rundschau (im Internet nach zu lesen). Und ja, bei Joe Rogan konnte D. Trump Antworten geben, er konnte Ausreden, wurde nicht unterbrochen und hatte Zeit für Formulierungen und zeigte beachtlichen 40 Millionen Aufrufenden (Stand 30.10.24) dass er locker 3 Stunden am Stück frei Reden und Antworten kann, respektabel bei einem rund 80jährigen Herren (bei K. Harris gehen alle Gespräche max. 20 Min, dann – so scheint es, ist ihr Latein am Ende).
Ich glaube, die „Frankfruter“ hat recht: 40 Millionen Aufrunfende ist etwas Massgebendes und nicht Nichts…
Auf eine gute und faire US-Wahl – ohne aber vor allem MIT dem neuen Medium „Podcasts“…
Gefällt mir sehr, was Prof März da sagt, danke!
Dankeschön, das freut mich!