Stephanie Hess: «Ich habe schnell das Gefühl, dass ich meine Zeit vergeude.»

Publiziert am 23. Oktober 2024 von Matthias Zehnder

Das 304. Fragebogeninterview, heute mit Stephanie Hess, Leiterin des Reportage-Ressorts und Mitglied der Chefredaktion der «annabelle». Sie sagt, sie laufe «Gefahr, der Medienbranche der späten 1990er-Jahren nachzutrauern. Damals, als es noch keine Gratiszeitungen, kein Internet und mehrere konkurrierende Tageszeitungen pro Region gab.» Dass die Branche früher derart gebrummt habe, fühle sich heute surreal an. «Was inzwischen eindeutig besser ist: Man spricht über Sexismus auf Redaktionen und in den Chefetagen sitzen inzwischen auch ein paar Frauen.» Sie findet, der Kampf gegen Fake News wäre eine Chance für die Medien, «wenn nicht die allermeisten Medienunternehmen Stellen streichen würden». Es brauche nun einmal viel Wissen und Recherchezeit, um Fake News etwas entgegenzuhalten. Sie empfiehlt, «möglichst Verschiedenes zu lesen. Neben den gewohnten Zeitungen und Magazinen auch solche, die nicht ganz der eigenen Linie entsprechen. Wissenschaftspublikationen, Newsletter. Und immer wieder Literatur.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Da mein Morgen mit zwei kleinen Kindern eher turbulent ist, setze ich mich frühestens auf dem Arbeitsweg erstmals den News des Tages aus.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, Twitter/X, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Ich denke, ich sollte mich öfter mit den dort geposteten Inhalten auseinandersetzen und selbst intensiver teilnehmen. Gleichzeitig irritiert mich diese kuratierte Realität zutiefst. Ich habe schnell das Gefühl, dass ich meine Zeit vergeude.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Tatsächlich lese ich heute die Tageszeitungen und News ausschliesslich digital.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Ich laufe Gefahr, der Medienbranche der späten 1990er-Jahren nachzutrauern. Damals, als es noch keine Gratiszeitungen, kein Internet und mehrere konkurrierende Tageszeitungen pro Region gab. Die «annabelle» führte mehrere Untermarken wie eine Männer- oder eine Wohnausgabe. Ich habe diese fröhliche Blütezeit knapp verpasst, in meiner Anfangszeit waren bloss noch die Nachwehen zu spüren. Dass die Branche früher mal derart brummte, fühlt sich heute surreal an. Was inzwischen eindeutig besser ist: Man spricht über Sexismus auf Redaktionen und in den Chefetagen sitzen inzwischen auch ein paar Frauen.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Absolut. Nur schon deshalb, weil im Gegensatz zu Audio- und Videobeiträgen Geschriebenes ein eigenes Konsumtempo zulässt.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Am wichtigsten ist es, finde ich, möglichst Verschiedenes zu lesen. Neben den gewohnten Zeitungen und Magazinen auch solche, die nicht ganz der eigenen Linie entsprechen. Wissenschaftspublikationen, Newsletter. Und immer wieder Literatur.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Selbst wenn ich ein Buch unsäglich finde, muss ich die letzten Seiten lesen oder mindestens eine Zusammenfassung im Netz suchen, weil ich es schlecht aushalte, das Ende der Geschichte nicht zu kennen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Auf Wissenschaftsportalen wie science.org oder nature.com. Neue Welten haben mir auch öfter schon Arte-Dokumentationen eröffnet.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Aus nostalgischen Gründen würde gern antworten: noch ewig. Aber ich denken spätestens 2030 ist damit Schluss.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Es wäre eine Chance, wenn nicht die allermeisten Medienunternehmen Stellen streichen würden. Fake News etwas entgegenzuhalten, braucht viel Wissen, viel Recherchezeit, viel Geld.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Beim Fernsehen schaffe ich das nie. Die «Tagesschau» ist mir zu früh, das «10vor10» zu spät. Nur den «Tatort» schaue ich meistens in real time. Radio hingegen höre ich ausschliesslich live, nur das «Echo der Zeit» hole ich manchmal nach.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Aktuell höre ich keine Podcasts. Mein Audiokonsum beschränkt sich auf SRF 4 und Hörspiele.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Nichts Gutes. Ohne gut informierte Menschen leidet die Demokratie massiv. Es sind inzwischen schlicht zu wenigen Menschen bereit, Geld für guten Journalismus auszugeben – was meines Erachtens nicht an den Inhalten selbst liegt, sondern daran, dass sich die Menschen daran gewöhnt haben, diese Inhalte gratis zu bekommen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

In Teilen bestimmt, etwa unterstützend bei Recherchen, in der Textarbeit oder beim Faktencheck.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Es ist schlicht die Realität, der wir uns heute stellen müssen.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja!

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Einkaufszettel, Glückwunschkarten, Tagebucheinträge.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Er war wohl insofern gut, als dass die Probleme, die den Journalismus schon länger umspülten, an die Oberfläche kamen. Etwa, dass man über Social Media eigene Kanäle aufbauen, eigene Auslegungen einer Sache verbreiten kann und nicht mehr auf Leitmedien angewiesen ist.

Wem glaubst Du?

Unumwunden glaube ich niemandem. Auch nicht mir selbst.

Dein letztes Wort?

Keines.


Stephanie Hess
Stephanie Hess ist im Kanton Zug aufgewachsen und absolvierte die Fachhochschule für Journalismus und Kommunikation in Winterthur. Sie stieg als Redaktorin ein bei der «Neuen Zuger Zeitung», wechselte dann zur «annabelle», wo sie seit zehn Jahren in verschiedenen Funktionen und Pensen arbeitet und insbesondere über Nachhaltigkeit schreibt. Seit März 2024 ist sie Leiterin des Reportage-Ressorts und Mitglied der Chefredaktion.


Basel, 23.10.2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 290 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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