Seraina Tarnutzer: «Journalismus ist heute hochgradig visualisiert.»

Publiziert am 1. Januar 2025 von Matthias Zehnder

Das 314. Fragebogeninterview, heute mit Seraina Tarnutzer, Oberassistentin am Institut für digitale Kommunikation und Medieninnovation (IDCMI) der Université de Fribourg. Sie sagt, dass «das Zusammenspiel unterschiedlicher Kommunikationsmodalitäten immer zentraler» werde. Insbesondere das Visuelle und Multimodale werde «noch stärker werden, als dies im Medienkontext ohnehin schon der Fall ist.» Trotzdem glaubt sie, dass es gedruckte Tageszeitungen noch eine ganze Weile geben wird: «Manche Medien spüren wir einfach gerne materiell zwischen den Fingern – so auch Tageszeitungen!» Sie findet es wichtig, dass Kantone und Medien neuartige Massnahmen ausprobieren, um junge Menschen an journalistische Medien heranzuführen und denkt dabei an «Gratis-Abos in den Kantonen Freiburg/Fribourg und Genf». Dazu «forschen wir ganz aktuell im Rahmen eines Projekts an der Universität Fribourg». Ganz grundsätzlich findet sie, dass man in Sachen Medien und Digitalisierung nicht nur über Risiken und Herausforderungen, sondern auch «über Chancen und Möglichkeiten sprechen» sollte. «Dabei kommt insbesondere der visuellen Kommunikation eine zentrale Rolle zu».

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Zum Frühstück gibt’s keine Medien, resp. keine News! … dafür ab und an Netflix als Begleitmedium. News entweder schon vor dem Frühstück oder dann im Zug zur oder von der Arbeit über die SRF-, RTS- oder RSI-News-App.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Ich habe Profile für den privaten Gebrauch auf Facebook und Instagram, sowie auf X und LinkedIn für den beruflichen Gebrauch (überlege aber, mein X-Profil auf Bluesky auszulagern). Allerdings bin ich auf Facebook und Instagram wenig aktiv, das heisst, ich poste nichts und verbringe immer weniger Zeit auf den Plattformen selbst. LinkedIn dafür immer mehr, da es für mich beruflich gewinnbringend ist, zu sehen, an was andere Kolleg:innen in- und ausserhalb der Wissenschaft arbeiten – früher war die Wissenschafts-Community auf Twitter, heute ist sie auf LinkedIn und immer mehr auch auf Bluesky. Allerdings finde ich es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass soziale Medien nicht einfach per se verteufelt werden dürfen, wie das oft in gesellschaftlichen Diskussionen der Fall ist, sondern – gerade auch bei jüngeren Menschen – zentrale Mittel und Räume der sozialen Vernetzung und Aushandlung darstellen.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Ich lese definitiv mehr News und bin viel mehr auf LinkedIn.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

… where to even begin?

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Auf jeden Fall! Allerdings denke ich, dass das Zusammenspiel unterschiedlicher Kommunikationsmodalitäten immer zentraler wird; das (Audio)Visuelle, resp. Multimodale, wird meiner Meinung nach noch stärker werden, als dies im Medienkontext ohnehin schon der Fall ist.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Datenschutzerklärungen, also, was (soziale) Medien sagen, was sie mit unseren persönlichen Daten tun. Ein «Must Read»!

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Generell: weglegen! Ausser bei Krimis; die kann ich nicht weglegen, auch wenn sie schlecht sind – ich muss wissen, wie diese Geschichten ausgehen!

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In Gesprächen, sowie an wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Noch eine ganze Weile, wage ich zu behaupten. Schöne Beispiele, die eine solche Ansicht unterstreichen, sind beispielsweise, dass wir uns auch immer noch Fotos ausdrucken und an die Wand hängen oder auch analoge Fotobücher erstellen, die wir mit Freund:innen und Familie durchblättern – auch wenn wir diese Bilder oftmals auf unseren digitalen Geräten immer und überall dabei haben. Manche Medien spüren wir einfach gerne materiell zwischen den Fingern – so auch Tageszeitungen!

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News sind sicher eine Herausforderung für publizistische Medien, gerade auch vor dem Hintergrund sich rasch entwickelnder generativer KI-Technologien, die vieles können. Gerade auch im visuellen Bereich; denken wir zum Beispiel an die Papst-Bilder in Balenciaga-Pufferjacke und wie schnell die um die Welt sind! Entsprechende Medienkompetenzen zu entwickeln und zu vermitteln, wird immer wichtiger.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ganz, ganz selten Radio, wenn ich mal Auto fahre. Lineares Fernsehen schon sehr lange nicht mehr.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Nicht ganz regelmässig, aber immer wieder. Mein Lieblingspodcast ist «Geschichten aus der Geschichte» von Daniel Meßner und Richard Hemmer. Jede Woche bereitet einer der beiden Historiker eine Geschichte zu vergessenen Ereignissen, aussergewöhnlichen Persönlichkeiten und wunderlichen Zusammenhängen auf, und darüber wird dann diskutiert. Jede Folge bringt Schmunzeln, Staunen und Nachlesen!

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

…, dass Wege gefunden werden müssen, um diese Zielgruppen besser zu erreichen (zum Beispiel die Form, wie News vermittelt werden), Kantone und Medien neuartige Massnahmen ausprobieren sollen, wie zum Beispiel Gratis-Abos in den Kantonen Freiburg/Fribourg und Genf (dazu forschen wir ganz aktuell im Rahmen eines Projekts an der Universität Fribourg), dass die Schweizer Medienlandschaft und ihre Veränderungen Teil der schulischen Grundausbildung sein sollten, dass Schweizer Medien Sprachregionen-übergreifend kooperieren sollten, etc. – ich könnte da noch so Einiges nennen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

«Journalismus» an sich nicht, aber Teilaspekte davon bestimmt. Auf Seite der Medienproduktion, zum Beispiel, übernehmen KI-Technologien nicht erst seit gestern durchaus einige Aufgaben, etwa repetitive Prozesse, oder fungieren als Schreib- oder Formulierhilfen. Und auf der Nutzer:innen-Seite zeigen Studien, dass Akzeptanz von automatisierten Zeitungsartikeln besteht – insofern es «soft news» wie etwa Sportergebnisse oder Wettervorhersagen betrifft und keine «hard news» wie etwa politische News. Und auch da gäbe es noch viel mehr zu erzählen!

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Welche Digitalisierung und welche Medien?

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja! Gerade auch im Hinblick auf den Lokaljournalismus und unsere Mehrsprachigkeit in der Schweiz. Ob es «gut» ist, dass es das braucht, ist eine andere Frage.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Täglich und total gern! Mein Moleskine-Notizheft ist im Arbeitsalltag immer und überall mit dabei und meine private Agenda ist ebenfalls analog.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Ich würde meine Antwort mal so formulieren: Donald Trump ist für die Medien ein gefundenes Fressen und bietet stets neuen Lesestoff.

Wem glaubst Du?

In Sachen Medien: immer mit Vorsicht geniessen und stets kritisch hinterfragen!

Dein letztes Wort?

Wir sollten immer über Risiken und Herausforderungen, aber eben auch über Chancen und Möglichkeiten sprechen, wenn es um Themen rund um Medien, Digitalisierung und Transformation geht. Dabei kommt insbesondere der visuellen Kommunikation eine zentrale Rolle zu, denn Journalismus ist hochgradig visualisiert, das heisst: Visuelle Elemente sind nicht mehr wegzudenken aus der Medienlandschaft.


Seraina Tarnutzer
Seraina Tarnutzer hat an der Universität Basel Medienwissenschaft und Kunstgeschichte studiert, an der Università della Svizzera italiana (USI) in Lugano im Bereich visueller und interpersonaler Kommunikation in Kommunikationswissenschaften promoviert, und arbeitet nun als Oberassistentin/Postdoctoral Researcher am Institut für digitale Kommunikation und Medieninnovation (IDCMI) an der Université de Fribourg in Kooperation mit der FH Graubünden. Derzeit forscht und lehrt sie insbesondere in den Bereichen Visuelle Kommunikation und Journalismus. Sie ist Mittelbauvertreterin im IDCMI und Fachgruppensprecherin der Fachgruppe Visuelle Kommunikation der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK).
https://www.unifr.ch/idcmi/de/


Basel, 01.01.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Seraina Tarnutzer: «Journalismus ist heute hochgradig visualisiert.»"

  1. Hochbegabte Frau, hochspannendes Tätigungsfeld. Mal schauen, wohin die Medien-Reise geht. Ich habe da so meine Vorahnungen (nicht wissenschaftl. geprüft).
    Zudem: Schön, dass auch jüngere Menschen noch total gerne von Hand schreiben, und wenn es auch nur Notizen ins mir bis dato unbekannte „Moleskine-Notizheft“ sind (…doch ist dies nicht „Schleichwerbung“?)
    Auffallend: Bei der Frage „Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?“ kommt oft die Antwort „wenig“. Dies sagt viel. Oft kommt aber „wenn ich Auto fahre“. Und da wiederum „wenn ich mal Auto fahre“… denn niemand fährt ja viel Auto, was wiederum die Frage auslöst, wieso dann unsere Strassen so voll sind? …was ich als (viel-) Autofahrer bemerke.
    Niemand muss sich entschuldigen, Auto zu fahren (auch nicht die vielen „mal-Medienmenschen-Fahrenden“… denn, eine Reise im Flugzeug nach Hurghada (ca. 4 Std) verursacht gelich viel Emissionen wie zwei Jahre in der Schweiz Auto fahren – meldete vor einiger Zeit die „BZ-Zeitung“. Leider kenne ich viele, welche diesen Spass mehrmals im Jahr treiben. Dito Prishtina, dito Istambul, dito nach NewYork etc… und da dürfte es noch um einiges mehr sein.
    „Blueschtfahrten“ und „Entdeckungsreisen“, „Sonnenuntergänge“ (ohne ÖV-Takt) und „Landgasthofbesuche“ lass ich mir nicht nehmen…
    Aufs Radio jedoch verzichtete ich bis anhin freiwillig, und jetzt gezwungenermassen. Doch: Ohne Blabla+Gedudel-Rhythmus fährt es sich noch aufmerksamer, genussvoller und sicherer. Im Namen der Sicherheit und Konzentration ein Dank an die SRG mit ihrer besten Tat – denn bei mir im Auto tönts jetzt so – und es fehlt mir (gar) nichts dabei….

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