Jann Jenatsch: «Vielleicht muss man die Jungen einfach jung sein lassen.»
Das 315. Fragebogeninterview, heute mit Jann Jenatsch, Mitglied der Geschäftsleitung von Keystone-SDA. Er erinnert sich an den ersten Bildcomputer, der «war 1990 mehr analog als digital, die Übermittlung eines Farbfotos dauerte über 20 Minuten – in der Nachrichtenwelt eine Ewigkeit». In der heutigen digitalen Welt habe sich die Orientierung grundlegend verändert: «Das Smartphone ist zur Welt geworden.» Das sei weder besser noch schlechter, «aber vermutlich herausfordernder». Die mit der Digitalisierung verbundene «radikale Transformation» der Medien habe «neue Formate und attraktive Erzählformen» hervorgebracht, «das Storytelling hat sich von Grund auf erneuert». Der Journalismus habe sich verändert und werde sich weiter verändern. «Sollte die Krise nicht als eine Art Aufbruch verstanden werden?» Eines der medialen Grossereignisse sei Donald Trump: «Trump ist unterhaltend, faszinierend und abstossend zugleich.» Die mediale Berichterstattung erinnere aber manchmal eher «an eine Schockstarre vor einer Schlange als an sachliche journalistische Einordnung». Die aktuelle gesellschaftliche Veränderung sei «so gewaltig, dass die Medien oft selbst nicht zu erfassen scheinen, was auf uns zukommt».
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Die NZZ und alles was ich sonst an Informationen brauche, um mich im Zug, auf meinem Arbeitsweg, auf den neusten Stand zu bringen.
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Meine Präsenz in diesen Kanälen hat stark abgenommen.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Während des Studiums bin in der Welt der Bilder hängengeblieben, mein erster Arbeitgeber, die Bildagentur Keystone, war ein Fenster zur Welt. Der erste Bildcomputer war 1990 mehr analog als digital, die Übermittlung eines Farbfotos dauerte über 20 Minuten – in der Nachrichtenwelt eine Ewigkeit. Heute fängt der Tag mit der «Morgenlage» an, am Abend begleitet mich das «Echo der Zeit». Zuhause reisse ich dann aus der gedruckten Zeitung jene Artikel raus, die ich noch lesen muss.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
In der heutigen digitalen Welt hat sich die Orientierung – auch meine – grundlegend verändert, das Smartphone ist zur Welt geworden. Mediale Information, persönliche Kommunikation, Fahrplanstörung und Terminplanung, alles in einem. Hier werde ich jederzeit über nahezu alles benachrichtigt und informiert – auch über Dinge, die mich nicht wirklich interessieren. Das ist weder besser noch schlechter, aber vermutlich herausfordernder.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Ja, nicht nur Worte, ganze Sätze – und mit ihnen hoffentlich auch die Grammatik.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Bücher.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Schlechte Bücher gehören weggelegt, weit weg.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Durch Zuhören, im Gespräch mit anderen Menschen. Aber natürlich auch aus Büchern, aus den Medien, aus Hinweisen von Freunden oder im beruflichen Alltag.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Hat man die gedruckte Tageszeitung nicht schon vor Jahren beerdigt? Es wird sie so lange geben, wie dafür eine Nachfrage besteht.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Für die Glaubwürdigkeit der Medien sind Fake News keine Bedrohung, sonst haben sie ihren Job nicht richtig gemacht. Fake News sind vielmehr eine Bedrohung für Menschen, die sich von den Medien abgewendet haben.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ich höre regelmässig Informationssendungen am Radio, fernsehen hingegen tue ich praktisch nie.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Gute Podcasts mag ich sehr. Etwas vom besten: «The Jazz Loft Radio Series» (New York Public Radio).
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Waren wir nicht auch so? Wir haben uns gegen alles gewehrt, das Establishment war nicht unser Ding. Zwischen 16 und 29 habe ich mich kaum für Medien interessiert. Vielleicht muss man die Jungen einfach jung sein lassen.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Ja, Teile des Journalismus werden und können automatisiert werden. Was die Automatisierung aber beispielsweise nicht leisten kann, ist die Recherche vor Ort. So steht am Anfang ein Mensch – und auch am Schluss: Menschliche Eigenschaften wie Wahrnehmung und Perspektive bleiben vor allem in journalistischen, sozialen und ethischen Bereichen unersetzlich.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Für die traditionellen Medien hat die Digitalisierung zu einer radikalen Transformation geführt. Die Digitalisierung hat zudem eine Vielzahl von neuen, journalistischen Plattformen hervorgebracht. Neue Formate und attraktive Erzählformen sind entstanden, das Storytelling hat sich von Grund auf erneuert. Einhergehend hat sich der Journalismus verändert und wird sich weiter verändern, um die ihm zugeschriebene Rolle auch in Zukunft erfüllen zu können. Sollte die Krise nicht als eine Art Aufbruch verstanden werden?
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Eine gut funktionierende Demokratie setzt voraus, dass ihre Bürger fähig sind, sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Förderung von Journalismus, von einer unabhängigen Grundversorgung mit Nachrichten, schafft die Voraussetzung für eine mündige Gesellschaft. Nur so kann sich die Demokratie in einem föderalen, mehrsprachigen Land wie der Schweiz entwickeln.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ja, ich pflege Beziehungen, in denen ich mich (fast) ausschliesslich mit von Hand geschriebenen Briefen austausche.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Trump ist ein mediales Grossereignis, Entertainment pur. Trump ist unterhaltend, faszinierend und abstossend zugleich. Doch die mediale Berichterstattung erinnert manchmal eher an eine Schockstarre vor einer Schlange als an sachliche journalistische Einordnung. Die aktuelle gesellschaftliche Veränderung ist so gewaltig, dass die Medien oft selbst nicht zu erfassen scheinen, was auf uns zukommt.
Wem glaubst Du?
Ich bemühe mich um Fakten, verlasse mich auf meine Intuition und beziehe andere Menschen mit ein, weil sie Perspektiven bieten, die ich allein vielleicht nicht berücksichtigen würde.
Dein letztes Wort?
Viva 2025!
Jann Jenatsch
Jann Jenatsch ist seit über 30 Jahren im Nachrichtenagentur-Geschäft tätig. Er ist Mitglied der Geschäftsleitung von Keystone-SDA. Vor der Fusion der Schweizerischen Depeschenagentur mit Keystone hat er die Bildagentur während zehn Jahren als deren Geschäftsführer geleitet. Heute ist er stellvertretender CEO und als Chief Revenue Officer für die Bereiche Förderung, Produktmanagement und Marketing verantwortlich.
https://www.keystone-sda.ch
Basel, 08.01.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: KEYSTONE/Alessandro della Valle
Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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Ein Kommentar zu "Jann Jenatsch: «Vielleicht muss man die Jungen einfach jung sein lassen.»"
Es kann – vor allem, weil ich es in einem sogenannt normalen Rahmen eher selten erlebe – gut tun, meine eigene Sichtweise in mir wichtigen Punkten bestätigt zu sehen.