Remo Vitelli: «Mehr Drive und Schmiss und Mut»

Publiziert am 4. September 2024 von Matthias Zehnder

Das 297. Fragebogeninterview, heute mit Remo Vitelli, Sammler und Journalist in Basel. Er sagt, er wisse nicht, wie lange es noch Tageszeitungen geben werde: «Ehrlich gesagt, ist es mir ziemlich egal. Es geht um Inhalte und gute Geschichten, die gefälligst gut erzählt werden. In welcher Form diese Geschichten zu den Menschen finden, finde ich nicht so wichtig.» Er selbst liebt gute Podcasts und hört querbeet, ausser «irgendwelche selbst ernannten ‹Journalisten› ohne jegliche Massstäbe.» Von den Profis wünschte er sich manchmal «mehr Drive und Schmiss und Mut. Innovative Erzählweise, etwas Humor und überraschende Themen stehen ja nicht per se im Widerspruch zu seriösem Qualitätsjournalismus.» Betrüblich sei zudem, dass «Gesprächs-Formate  immer mehr die multi-perspektivische Reportage und das Feature verdrängen.» Er findet es schade, dass Medien zur «künstlichen Skandalisierung» neigen. «Das ist schäbig – und oft auch lächerlich. Der gleiche Vorwurf geht selbstverständlich an die Politik. Kein Wunder, dass es den Menschen ablöscht – nicht nur den jungen.» Allerdings blase «jeder selbst ernannte ‹Journalist› oder ‹Experte› seinen Blödsinn in die Welt – und findet sein Publikum. Und sogar ‹Qualitätsmedien› verkommen zu ‹Klick-Generatoren›, die an Sensationsgier und die Lust auf Empörung appellieren», sagt er. Ihm sei «deswegen ständig etwas übel.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich frühstücke nicht. Währenddessen höre ich Radio.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, Twitter/X, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Vieles, was mir via Social Media zugetragen wird, empfinde ich als Belästigung. Aktiv nutze ich FB und Insta. Und hoffe, dass die Menschen meine Inhalte nicht als lästig empfinden.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Ich habe das «echte» Lesen verlernt! Das klingt dramatisch jämmerlich – und ist es auch. Tatsächlich lese ich kaum mehr etwas nur zum reinen Vergnügen. Ich sauge lediglich Informationen auf. Es ist eine Manie.
Richtig gute Geschichten, die richtig gut erzählt sind, packen mich aber immer. Immerhin.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Vieles hat sich in den letzten Jahren verändert. Manches zum Besseren. Vieles zum Schlechteren.
Aber ausgerechnet 2024 scheint sich als eine Art «Schicksalsjahr» zu erweisen. Die Abbaupläne bei SRF und TX liegen als Schatten über allem. Vielen Leuten, insbesondere in der Politik, ja sogar in der Branche selbst, scheint nicht bewusst zu sein, was da gerade passiert – und was es für das Land bedeuten kann.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Sicher.
Aber vielen Leuten mangelt es an Sprachgefühl, Spielfreude und Sorgfalt. Das gilt sogar für Journalistinnen und Journalisten – insbesondere im Online-Bereich. Und erst recht zeigt sich das in der alltäglichen Kommunikation auf allen möglichen Kanälen. Mich erfasst da öfter mal das kultur-pessimistische Gruseln.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Nichts muss. Hauptsache es ist echt. Und möglichst gut geschrieben soll es sein.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Die meisten Bücher dienen mir als Nachschlagewerke und Inspirationsquelle. Ich lese sie ohnehin nicht von vorne bis hinten, aber immer mal wieder kreuz und quer. Was sich nach einer Weile nicht als nützlich und inspirierend erweist, darf gehen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch mit Menschen. Durch Beobachtung im Alltag.
Aber besonders gerne lerne ich von Gegenständen. Von Dingen, die den Weg in meinen Laden und meine Werkstatt finden. Sei es eine Lampe, ein Möbel oder eine antike Blechdose.
Derzeit beschäftige ich mich ein wenig mit der Geschichte der Selenografie.* Anlass dazu ist mir ein seltener und wertvoller Mond-Atlas. Der Begriff «Selenografie» gehörte bisher übrigens nicht zu meinem aktiven Wortschatz. Das mag noch kein grosser intellektueller Gewinn sein. Aber der kleine Junge in mir freut sich.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Das weiss ich nicht. Und ehrlich gesagt ist es mir ziemlich egal. Es geht um Inhalte und gute Geschichten, die gefälligst gut erzählt werden. In welcher Form diese Geschichten zu den Menschen finden, finde ich nicht so wichtig.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News als Chance zu sehen, finde ich zynisch. Siehe dazu auch meine Antwort zur Frage nach Trump.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio lasse ich oft und gerne ein bisschen dudeln und erfreue mich an überraschenden Live-Momenten.
An solchen Momenten im Studio selber mit zu tun, kann übrigens sehr beglückend sein. Es geht dabei um gute Vorbereitung, etwas Inszenierung und viel Improvisation. Das mag ich sehr.
Zum linearen Fernsehen: Für aktuelle News-Sendungen und für Sport ist es unentbehrlich. Alles andere kommt besser zeitversetzt. Das gilt jedoch für viele Radio-Sendungen auch. Damit sind wir bei den Podcasts.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ein Bisschen. Das heisst täglich bis zu 10 Stunden. Wenn ich nicht gerade selber welche produziere.
Podcasts sind die ideale Begleitung für unterwegs, im Haushalt und in der Werkstatt. Und vielleicht sind sie ja tatsächlich die «Rettung des Radios».
Meine Hörgewohnheiten entsprechen ganz dem «Mainstream». Aber irgendwelche selbst ernannten «Journalisten» ohne jegliche Massstäbe brauche ich mir nicht anzuhören. Allerdings wünschte ich mir auch von den Profis manchmal mehr Drive und Schmiss und Mut. Innovative Erzählweise, etwas Humor und überraschende Themen stehen ja nicht per se im Widerspruch zu seriösem Qualitätsjournalismus.  Und echt betrüblich ist, dass Gesprächs-Formate  immer mehr die multi-perspektivische Reportage und das Feature verdrängen.

Erstmal ziehe ich mir die Infosendungen von SRF rein: «Echo», «Rendez-vous», «Tagesgespräch», «Kontext», mehrere Regionaljournale.
Hervorheben möchte ich «SRF News Plus». Was die Kolleginnen und Kollegen da täglich bolzen, geniesst meinen grossen Respekt.
«Die Zeit» hat mit ihren Podcasts im deutschsprachigen Raum Massstäbe gesetzt. Viele öffentliche Radiostationen hinken da hinterher. Man höre «Alles gesagt» (so kommt man gerne mal auf zehn Stunden täglich) oder «Servus, Grüezi, Hallo». Der Schweizer Kollege Matthias Daum ist zwar eine Nervensäge und hart an der Grenze zum Unsympath. Aber er will es eben so. Und manchmal hat er sogar recht.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Selbstverständlich gibt es darauf keine allgemeingültige Antwort. Erst recht nicht von mir. Ich kann hier lediglich ein paar Gedanken dazu festhalten.
Die Zahlen wirken durchaus dramatisch. Aber ich denke an meine Teenagerzeit zurück – und da war nur ein einziger meiner Kumpels, der regelmässig Zeitung las. Thomi galt allerdings nicht nur deswegen als sympathischer Exot.
Und noch ein Vergleich, der wohl ebenso hinkt: Wenn die «Nicht-News-Deprivierten» regelmässig abstimmen und wählen gingen, hätten wir in der Altersgruppe eine sehr geile Stimmbeteiligung von 44%.
So der oder so: Medienbildung, Staatskunde und Geschichtsunterricht sind sicher wichtiger denn je. Ausserdem sollten wir Medien-Leute vermehrt auch komplexere Themen so erzählen, dass sich auch junge Menschen angesprochen fühlen. Das heisst allerdings nicht, aus jeder Begebenheit einen «Skandal» zu basteln. Selbstverständlich sind wir da, um Probleme zu benennen. Aber Medien tendieren eben auch zur «künstlichen Skandalisierung». Das ist schäbig – und oft auch lächerlich. Der gleiche Vorwurf geht selbstverständlich an die Politik. Kein Wunder, dass es den Menschen ablöscht – nicht nur den jungen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Dazu ein Zitat:
«Kritiker werfen dem Unternehmen vor, trotz der stabilen finanziellen Lage auf Kostensenkungen durch Personalabbau zu setzen, anstatt in Innovationen oder die Weiterentwicklung der Mitarbeiter zu investieren. Diese Maßnahmen werden als ein Zeichen dafür gesehen, dass TX Media Schwierigkeiten hat, sich im zunehmend digitalen Medienumfeld zu behaupten, und dass die wirtschaftlichen Erfolge nicht ausreichen, um eine nachhaltige Strategie zu verfolgen. Der geplante Stellenabbau könnte sich langfristig negativ auf die Qualität der journalistischen Arbeit und die Innovationskraft des Unternehmens auswirken.»

Dieser «Artikel» kommt von einer KI, die ich soeben mit ein paar passenden Stichworten gefüttert habe. Herr Supino wäre wohl begeistert! Ich bin es nicht. Mir ist das zu schlecht geschrieben und inhaltlich nicht präzis genug.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Einerseits hat die Digitalisierung grossartige Möglichkeiten für die Recherche eröffnet. Und vor allem gibt es heute fantastische digitale Mittel, um Geschichten zu erzählen. Beispielsweise kann mit einem simplen Audio-Editor regelrechtes «akustisches Kopf-Kino» gelingen.
Andererseits bläst heute jeder selbst ernannte «Journalist» oder «Experte» seinen Blödsinn in die Welt – und findet sein Publikum. Und sogar «Qualitätsmedien» verkommen zu «Klick-Generatoren», die an Sensationsgier und die Lust auf Empörung appellieren. Mir ist deswegen ständig etwas übel.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja. Dazu gehören selbstverständlich auch Gebühren.
Manche Leute scheinen allerdings bemüht, sich und «ihre» Unternehmen für die Förderung selbst zu disqualifizieren. Warum sollte die Allgemeinheit für Missmanagement oder Roboter-Journalismus aufkommen?

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ziemlich oft. Meist aus ästhetischen Gründen. Das heisst allerdings nicht, dass meine Handschrift besonders schön wäre.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Trump ist gut für nichts und niemanden.
Solche Typen beanspruchen das Recht des Stärkeren, erheben sich über andere und sehen sich durch ihren vermeintlichen Erfolg bestätigt.
Selbstverständlich wecken Trump, Putin, der IS – oder etwa auch der vergleichsweise harmlose Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi – grosse Aufmerksamkeit. Verbrecher sind nun mal interessant.
Ob – und wie – die Medien daraus Kapital schlagen, ist allerdings eine Frage der Ethik und der Würde. Die Welt braucht klaren Bericht, Analyse  und bitte auch Satire. Aber «News», die jede Geste von Trump und seinesgleichen ins Rampenlicht stellen, verdienen jede Verachtung.

Wem glaubst Du?

Erst einmal allen – aber nicht alles.

Dein letztes Wort?

Mehr Licht!

Remo Vitelli
Remo Vitelli ist Sammler und Journalist. Er sammelt gute Geschichten, Fakten, unnützes Wissen und schöne alte Objekte. All dies hegt und pflegt er – und vermittelt es weiter. Der 48-jährige gebürtige Solothurner arbeitet seit mehr als 20 Jahren für Radio SRF, u.a. als Reporter, Redaktor und Produzent, insbesondere in den Bereichen Kultur und Wissenschaft. Nebenbei führt er in Basel «Ampère», den kleinen Antik- und Design-Laden mit eigener Werkstatt. Und ausserdem amtet Remo Vitelli als «administrativer Humor-Verwalter» für den Autoren und Kabarettisten Benedikt Meyer.
https://www.amperebasel.ch

*Selenografie ist das Mond-Äquivalent zu Geografie und meint die Kartierung des Mondes oder ganz allgemein die Mondkunde.

Basel, 4. September 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 290 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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Ein Kommentar zu "Remo Vitelli: «Mehr Drive und Schmiss und Mut»"

  1. Diesmal auf die geschätzten Fragen taffe, fesche ja freche Antworten: Medienförderung? „JA, dazu gehören selbstverständlich auch Gebühren…“
    Trump? „Trump ist gut für nichts und niemanden“ und so weiter und so fort….
    Man merkt, dieser Mann hat Profil. Sein Profil. Ego. Sein Ego. Kante. Seine Kante….
    Könnte man mit ihm wohl auch diskutieren? Themen wie die Corona-Massnahmen oder die EU-Schweiz-Koppelung kämen mir in den Sinn um die Debattenkultur, die (andere) Meinung-Grosszügikteit auszuloten. Oder ist „selbstverständlich“ ein Betonwort? Ist „für nichts und niemand“ bei ihm wohl (geistig) in Stein gemeisselt?
    Zum Schluss erfahre ich, dass Herr Vitelli (verwandt mit dem Grünen-Basler-Velo-Guru Vitelli?) bei der SRG/SRF arbeitet. Und irgendwie wird der Zusammenhang-Meccano, ohne dass ich dafür etwas kann, bei mir immer wie kräftiger – empfinde ich….

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