Nadia Kohler: «Wir sollten endlich Online als seriösen Ausspielkanal anerkennen.»

Publiziert am 4. Dezember 2024 von Matthias Zehnder

Das 310. Fragebogeninterview, heute mit Nadia Kohler, Head AI Lab bei Tamedia. Sie beginnt ihren Tag mit Instagram und der «Tagi»-App, sagt aber auch: «Haptik ist Old-School und hat deshalb Zukunft und wird noch lange ‹In› sein.» Die letzte Druckmaschine werde nicht so schnell abgeschafft, auch wenn die eine oder andere langsam stillgelegt wird. «Schliesslich haben wir auch immer noch Vinyl-Platten, die nach wie vor verkauft werden.» Trotz des grossen Drucks, unter dem die Medienbranche leide, findet sie, «dass heute die Berichterstattung und die Themenvielfalt besser ist». Neue Technologien und Zugänge zu einer Unmenge an Daten machen es möglich, «über eine Vielzahl an Themen zu berichten, die früher schlicht nicht zugänglich gewesen wären. KI werde die Menschen im Journalismus nicht ersetzen, «aber wir können unsere Geschichten mit Hilfe von KI mit einem überschaubaren Aufwand in verschiedene Formate giessen». Print sei «nach wie vor ein wichtiger Kanal», aber online sei mittlerweile «genau so wichtig für die Demokratie, wie dies Journalismus in gedruckter Form ist».

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Tatsächlich öffne ich als erstes Instagram und klick mich durch einen Mix aus privaten Stories und News-Postings. Danach ist sogleich die «Tagi»-App an der Reihe und ich scrolle und lese ich mich durch unsere neusten Geschichten und Meldungen.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, Twitter/X, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Ich trau mich gar nicht meine Instagram-Zeit auf meinem Handy zu analysieren … sie dürfte überproportional hoch sein. LinkedIn hat für mich X schon längst als Branchennews-Plattform abgelöst. YouTube nutze ich ausschliesslich für DYI-Videos und TikTok habe ich – unglaublich, aber wahr – erst zweimal in meinem Leben geöffnet. Mir fehlt schlicht und ergreifend die Zeit für eine weitere Plattform.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Ich verbringe noch viel mehr Zeit auf Social-Media-Plattformen und nutze gleichzeitig bewusster Apps und Websites von bekannten Medienmarken. Gerade mein beruflicher Werdegang von der Radio- und Online-Journalistin zur Product Managerin hat meinen Medienkonsum insofern stark beeinflusst, als ich nicht nur auf die inhaltlichen Schwerpunkte achte, sondern auch auf die Art und Weise, wie die Inhalte präsentiert werden. Das heisst, dass ich stets auch die Nutzer:innen-Führung mitbeurteile und auf der Suche nach tollen Ideen für das Erleben von News-Inhalten bin. Früher war ich mehr darauf bedacht, ob ein Konkurrenzmedium eine Geschichte vor uns publik gemacht hat.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Trotz des grossen Drucks, der auf der Medienbranche liegt, würde ich dennoch sagen, dass heute die Berichterstattung und die Themenvielfalt besser ist. Neue Technologien und Zugänge zu einer Unmenge an Daten haben es uns ermöglicht, über eine Vielzahl an Themen zu berichten, die früher schlicht nicht zugänglich gewesen wären.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ganz bestimmt – Text ermöglicht den Konsum von Information in dem Tempo, die der jeweiligen Person entspricht. Man hat mehr Kontrolle als bei Audio und Video über die Art und Weise, wie man die Information konsumiert. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass das geschriebene Wort noch lange Bestand haben wird.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Für mich ist es weniger das «Was», sondern vielmehr das «überhaupt lesen». Auch wenn ich nicht alle Publikationen gleichermassen toll finde, bin ich grundsätzlich froh, wenn seriöse Medien genutzt werden und Inhalte nicht ausschliesslich über Influencer oder gar nicht mehr konsumiert werden.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Es kann auch mal ein Jahr dauern, aber ich muss sie fertig lesen. Hier schwingt wohl der Erziehungsstil meiner Mutter mit, die stets betonte, dass man Dinge zu Ende macht.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch mit Kolleg:innen und der Familie.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Haptik ist Old-School und hat deshalb Zukunft und wird noch lange «In» sein. Die letzte Druckmaschine wird nicht so schnell abgeschafft, auch wenn die eine oder andere langsam stillgelegt wird. Schliesslich haben wir auch immer noch Vinyl-Platten, die nach wie vor verkauft werden.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Garantiert eine Chance: damit können wir, wenn wir selbst nicht auf Qualitätskontrollen verzichten, zu DER Plattform werden, die die eine Mehrheit der Gesellschaft als vertrauenswürdig taxiert.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Als ehemalige Nachrichtensprecherin und Reporterin beim Radio tut es mir fast weh zu sagen, dass ich nur noch beim Autofahren Radio höre. Lineares Fernsehen gibt es nur noch, wenn ich geschäftlich in einem Hotel übernachte.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Praktisch täglich. Aktuell bin ich ein grosser Fan von Tortoise Investigative. Tortoise Media überzeugt nicht nur mit ihren einzigartigen Recherchen, sondern das Medienhaus versteht es ausgezeichnet Eigenmarketing zu machen. Und natürlich bin ich ein grosser Fan unseres neuen Medienfrauen-Podcast, welchen ich kürzlich hosten durfte. Dieser wird neu alle zwei Monate eine spannende Frau aus der Schweizer Medienbranche porträtieren.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Das wir als Medienbranche unsere Themensetzung und Aufbereitung endlich hinterfragen müssen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Nein, Geschichten erzählen lässt sich nicht vollständig automatisieren und genau dieser Umstand wird der Grund sein, weshalb es auch weiterhin Personen geben wird, die für unseren Journalismus bezahlen werden. Aber wir können unsere Geschichten mit Hilfe von KI mit einem überschaubaren Aufwand in verschiedene Formate giessen und damit sicherstellen, dass unter anderem auch News Deprivierte Informationen konsumieren.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Diese Frage ist mir zu philosophisch. Grundsätzlich ermöglicht uns die Digitalisierung Inhalte nicht nur einer breiteren Masse zugänglich zu machen, sondern die ganze Klaviatur zu nutzen, um Themen zugänglich zu machen.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja, und wir sollten endlich Online als seriösen Ausspielkanal anerkennen. Print ist nach wie vor ein wichtiger Kanal, aber online einen Inhalt richtig aufzubereiten, ist eine Liga für sich und genau so wichtig für die Demokratie, wie dies Journalismus in gedruckter Form ist.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Leider viel zu selten und ich nerve mich dann immer, wie unsauber meine Handschrift ist.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Hier muss ich wohl zwischen der Medienlandschaft in den USA und jener in Europa/Schweiz unterscheiden. Die neusten Pläne bzw. Personen, die gewisse Ämter bekleiden sollen, dürften die US-Medienlandschaft nicht zwangsläufig zum besseren verändern. In Europa profitieren wir von Trump insofern, als das Artikel über ihn gerne und häufig gelesen und damit Umsätze generiert werden. Trump hat zudem einer breiten Masse den Begriff «Fake News» überhaupt zugänglich gemacht. Ohne seine «Alternative Facts» hätte es womöglich keine so fassbaren Beispiele für die Problematik der «Fake News» gegeben.

Wem glaubst Du?

Grundsätzlich allen und niemandem zu gleich. Realität ist eine subjektive Materie – was für jemanden richtig ist und was nicht, hängt sehr stark mit der eigenen Lebensrealität zusammen. Sich vielfältig zu informieren, ist deshalb nicht eine Floskel für mich, sondern hilft dabei, sich selbst eine Meinung zu bilden.

Dein letztes Wort?

Ich darf seit über 13 Jahren unterschiedliche Positionen in der Medienbranche bekleiden. So schwer die Zeiten auch sind, die Branche war und ist nach wie vor spannend und bietet eine Vielzahl an interessanten Aufgabengebieten.


Nadia Kohler
Nadia Kohler hat an der Universität Zürich Publizistik- und Kommunikationswissenschaften und an der Universität Leipzig New Media Journalism studiert und dann das Handwerk On-The-Job bei Radio Grischa als Nachrichtensprecherin, Reporterin und CVD sowie als Chefredaktorin Online bei suedostschweiz.ch gelernt. Vor über fünf Jahren hat sie Tastatur und Mikrofon in die Schublade versorgt und sich bei Tamedia «ins Product Management verliebt», wie sie sagt. Seit einem Jahr führt sie das AI Lab von Tamedia, das sich mit der Anwendung und Implementierung von Künstlicher Intelligenz im Journalismus auseinandersetzt. Daneben ist sie Co-Präsidentin der Medienfrauen Schweiz, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Schweizer Medienfrauen miteinander zu vernetzen und sichtbar zu machen.


Basel, 04.12.2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Nadia Kohler: «Wir sollten endlich Online als seriösen Ausspielkanal anerkennen.»"

  1. Eine Antwort Nadja Kohlers lautet: „Trotz des grossen Drucks, der auf der Medienbranche liegt, würde ich dennoch sagen…“
    Der „Druck“ in den Branchen kann verschiedenartig sein. Oft ist aber der finanz. Druck der stärkste. Gerade hier leiden (nicht alle, aber viele) Medien darunter. Im Gespräch mit Lukas Hässig (von „Inside Paradeplatz“) warf Medien-, Journalisten-, Werbe-Bestenskenner Matthias Ackeret ein Argument in die Runde, welches ich bis anhin vergass aber sicher relevant ist: In gDeutschland dürfen 80% der Lebensmittel nicht mehr beworben werden, weil sie angeblich zu viel Zucker haben, weil sie zu dick machen, weil sie wurstig, zu fett usw. sind… dazu kommt noch das Verbot für Bier, Wein, Likör usw…, dann noch das Verbot für Raucherwerbung…. wenn man bedenkt, dass dies früher alles erlaubt war und reichlich Geld in die Kassen spülte (und für diese Produkte wurde viel Werbung geschaltet) und dies jetzt alles wegfällt sind diese Verbote ein weiterer Puzzlestein für weniger Einnahmen wie M. Ackeret sagte. Man könne in der Schweiz durchaus von einem gesamthaft werbefeindlichen Umfeld sprechen, welche so alle trifft, bis zu den Plakatierverboten in (linken) Städten, sagte er.
    ((Klammer: Nebenher ist Ackeret auch noch ein sehr erfolgreicher Schriftsteller und veröffentlichte letzte Woche seinen neuen Roman „Der Magier von Hiva Oa“ mit einer Vernissage vor vollem Hause mit 600 Gästen.))
    Den Medienprofis Lukas Hässig und M. Ackeret in voller fachlicher Fahrt zu Medien und Miseren und ihrem Feuerwerk an Medienfinanzierungs-Ideen hier ab 55:07 zuzuhören – welch ein konstruktiver Genuss….
    (Leider schlechte Tonqualität. Journalist Hässig braucht endlich mal ein richtiges Mikrofon – aber eben auch da wohl „der fianzielle Druck“….)

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