Meret Baumann: «Mir fallen in Österreich die geringen Qualitätsstandards des Boulevards auf.»

Publiziert am 14. August 2024 von Matthias Zehnder

Das 294. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Meret Baumann, Korrespondentin für Österreich und Ostmitteleuropa der NZZ in Wien. Sie nutzt für ihre Arbeit häufig soziale Medien, vor allem Twitter: «Das ist für mich eine wichtige Informationsquelle.» Aber: «TikTok verweigere ich mich, auch wenn es als Quelle politisch nicht unwichtig ist mittlerweile.» Sie habe Nachrichten schon vor ihrem Berufseinstieg intensiv genutzt. «Seither achte ich mehr auf journalistische Umsetzung von Themen, redigiere manchmal ‹im Kopf› nach oder ärgere mich, dass mir eine Idee nicht selbst gekommen ist.» Gegenüber Onlineangeboten, die es Medienkonsumenten ermöglichen, nur auf ihre Interessen zugeschnittene News zu abonnieren, hat sie einen wichtigen Vorbehalt: «Man droht, viel zu verpassen, von dem man nicht gewusst hat, wie interessant es ist.» Sie findet, gerade online müsse man besser unterscheiden, «was Journalismus ist und was nicht. Nicht alles, was im Netz abgesondert wird, kann sich Journalismus nennen. Die Kompetenz, das richtig einzuschätzen, wird immer wichtiger.» Problematisch findet sie die starke mediale Polarisierung in den USA, die zu medialen Parallelwelten führe: «Wenn kein Grundkonsens mehr besteht, was richtig ist, wird das gefährlich.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Die NZZ, und allein für die reicht ein Frühstück ja nicht aus. Zu meinem Morgen gehören noch der «Tages-Anzeiger», die Ö1-Nachrichten (ORF Radio), «Der Standard», «Die Presse» und das «Echo der Zeit» als Podcast. Die FAZ schaue ich immer schon am Abend des Vortags an.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram, LinkedIn, YouTube, TikTok und BeReal?

Twitter nutze ich intensiv, es ist für mich eine wichtige Informationsquelle, wobei ich meine Timeline gezielt aussuche und nur diese Accounts lese, nicht was Twitter mir vorschlagen möchte. Facebook nutze ich nur, weil einige Politiker:innen in meinem Berichtsgebiet damit kommunizieren. Instagram schaue ich zur Unterhaltung an, für Lifestyle, Mode etc. TikTok verweigere ich mich, auch wenn es als Quelle politisch nicht unwichtig ist mittlerweile.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Ich habe schon davor intensiv Nachrichten konsumiert – das war ein Grund für meine Berufswahl. Seither achte ich mehr auf journalistische Umsetzung von Themen, redigiere manchmal «im Kopf» nach oder ärgere mich, dass mir eine Idee nicht selbst gekommen ist. Zudem kommen jeweils Medien dazu, die ich für mein Berichtsgebiet nutze.

Wenn Du an die Medien in Deinem Berichtsgebiet denkst – welche Unterschiede fallen Dir im Vergleich zu den Medien in der Schweiz auf?

In Österreich etwa der Fokus, der auf die Region bzw. die ehemaligen Kronländer* gelegt wird sowie die geringen Qualitätsstandards des Boulevards. In Ungarn die Regierungspropaganda der einen Medien und der verweigerte Zugang zur Regierung der anderen. In der Slowakei der Kampf um den öffentlich-rechtlichen Sender, der auch in Polen noch im Gang ist und in Ungarn vorläufig verloren scheint.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Unbedingt. Auf welchem Weg sie gelesen werden, ist eine andere Frage.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Wo soll ich anfangen? To name a few: Bücher von Anne Applebaum, Texte von David Frum, die Ukraine-Berichterstattung der NZZ und den Morgennewsletter von Axios.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Mein Problem ist eher, dass ich selbst für gute Bücher ewig brauche, weil so viel anderes zu lesen ist.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch mit Menschen sowie jeden Tag beim Durchblättern der Zeitungen oder beim Scrollen über Nachrichtenportale. Das ist auch mein Vorbehalt beim oft geäusserten Wunsch vieler Medienkonsument:innen, nur auf ihre Interessen zugeschnittene News abonnieren zu können. Man droht, viel zu verpassen, von dem man nicht gewusst hat, wie interessant es ist.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Tageszeitungen wird es noch lange geben, gedruckte sicher noch einige Jahre.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Auf jeden Fall beides.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Lineares Radio höre ich praktisch nie, allenfalls mal beim Mitfahren im Auto. Live am TV schaue ich vor allem Sport und Breaking-News-Ereignisse, immer wieder auch Nachrichten- und Diskussionssendungen.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja, und zwar so viele, dass ich alle mit 1,5-facher Geschwindigkeit höre. Einen Lieblingspodcast kann ich nicht nennen, ich mag alle, die ich regelmässig höre. Aber «The Daily» von der «New York Times» ist ein Klassiker und sehr vielfältig, «Inside Austria» von «Spiegel» und «Standard» gut gemacht, bei «Eine Stunde History» stosse ich immer wieder auf tolle Folgen und ich empfehle auch unseren «NZZ Akzent», bei dem unsere spannendsten Geschichten etwas anders und sehr zugänglich aufbereitet werden.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Das ist ein Alarmsignal und wir alle müssen uns Strategien überlegen, wie und auf welchem Weg wir diese Menschen erreichen können. Gerade in der Schweiz mit der direkten Demokratie ist ein gewisser Grad an Informiertheit unabdingbar.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ein Teil davon voraussichtlich schon, etwa klassische Nachrichtenthemen. Aber ich glaube, bei Analyse und Einordnung stösst die KI noch an Grenzen und erst recht bei Reportagen, für die es Anschauung und die Vermittlung von Gefühlen braucht.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Insgesamt zu einer Befreiung, wobei wir klar unterscheiden müssen, was Journalismus ist und was nicht. Nicht alles, was im Netz abgesondert wird, kann sich Journalismus nennen. Die Kompetenz, das richtig einzuschätzen, wird immer wichtiger.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Eher nein. Wir brauchen aber qualitativ gute öffentlich-rechtliche Medien in allen Landessprachen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, sogar recht viel. Neben Karten auch Notizen bei Medienkonferenzen und auf Recherchereisen.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

In Europa gut, weil er uns gezwungen hat, die USA differenzierter und in ihrer ganzen Vielfältigkeit zu betrachten. Für Amerika selbst wage ich dagegen keine Aussage. Viele Medien haben kommerziell profitiert, aber die Polarisierung, an der selbstverständlich nicht nur Trump Schuld trägt, hat auch medial Parallelwelten befördert. Wenn kein Grundkonsens mehr besteht, was richtig ist, wird das gefährlich.

Wem glaubst Du?

Qualitätsmedien und Journalist:innen, deren Arbeit und Expertise ich kenne, die Aussagen und immer wieder einmal ihre Vorgehensweise erklären oder belegen. Und meinem eigenen Urteilsvermögen.

Dein letztes Wort?

Egal, aber ich will es haben.


Meret Baumann
Meret Baumann hat in Zürich und Rom Rechtswissenschaften studiert und währenddessen mehrere Jahre in einer Zürcher Wirtschaftskanzlei gearbeitet. 2006 kam sie zur Auslandredaktion der NZZ, wo sie mehrere Jahre Blattmacherin war, bevor sie 2013 ein als Korrespondentin für Österreich und Ostmitteleuropa nach Wien entsandt wurde. 2019 kehrte sie als Fachredaktorin für die USA, Mitteleuropa und internationale Rechtsfragen nach Zürich zurück. Seit Januar ist sie wieder Korrespondentin in Wien.
https://www.nzz.ch/


Basel, 14. August 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

*Anmerkung: «Kronländer» meint die historischen Verwaltungsgebiete des Kaisertums Österreich-Ungarns, die bis zum Ende der Habsburgermonarchie im Jahr 1918 bestanden, darunter etwa Böhmen, Mähren, Galizien, Kroatien, Slawonien und Siebenbürgen. Siehe auch hier.

Seit Ende 2018 sind über 290 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

Wenn Sie kein Fragebogeninterview verpassen möchten,  abonnieren Sie einfach meinen Newsletter. Das kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen «Medienmenschen» sowie den aktuellen Wochenkommentar, einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman: www.matthiaszehnder.ch/abo/

Ein Kommentar zu "Meret Baumann: «Mir fallen in Österreich die geringen Qualitätsstandards des Boulevards auf.»"

  1. Meret Baumann: «Mir fallen in Österreich die geringen Qualitätsstandards des Boulevards auf.» heisst es im Titel.
    Kollegenschelte hoppala….
    Darf ich auch noch mein Empfinden äussern: «Mir fallen in der Schweiz die geringer werdenden Qualitätsstandards der NZZ auf.»

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.