Marc Bodmer: «Woher haben die Roboter ihr Futter?»
Das 299. Fragebogeninterview, heute mit Marc Bodmer, Cyberculturist, Videogame-Experte und Jurist. Er sagt, er mache einen Bogen um die Angebote von Meta. «Die Vielfalt von YouTube finde ich grandios, während ich die algorithmische Verengung von TikTok, um nicht zu sagen Radikalisierung auf bestimmte Themen meide.» Er findet es wichtig, «möglichst viele verschiedene Dinge von möglichst verschiedenen Menschen auf möglichst verschiedenen Kanälen» zu lesen, zu hören und zu sehen. «Wenn wir uns nicht bewusst dagegen wehren, wird die Bubble, die uns umgibt, immer enger. Damit schwindet auch unsere Toleranz gegenüber allem und jedem.» Dass viele junge Menschen keine klassischen News mehr konsumieren, kann er verstehen: «Stimmungserhellend ist die Barrage von Krieg, Katastrophen und politischer Inkompetenz ja nicht.» Die quantitative Betrachtung greife ihm aber zu kurz: «Weniger ist mehr», sagt er deshalb. «Lieber auf fundierten Portalen vorbeischauen, statt im Bullshit untergehen.» Vor der Automatisierung hat er keine Angst: «Journalismus beschränkt sich zum Glück nicht auf das Wiederkäuen von Unfällen und Verbrechen. Es ist ein People-Business. Noch sehe ich keinen Roboter rausgehen und mit Fachleuten sprechen oder Politikerinnen interviewen.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Das Medium Cappucino und auf meinem iPad mini die NZZ.
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, Twitter/X, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Gegenüber (a-)sozialen Netzwerken bin ich skeptisch eingestellt, da mir in den meisten Fällen deren Nutzen nicht ersichtlich ist. Ich mache um Metas Angebote einen grossen Bogen, weil mir Mark Zuckerbergs Entscheidungen in der Vergangenheit zuwider sind. Aber WhatsApp werde ich einfach nicht los. Auf X bin ich primär beobachtend unterwegs, weil ich überzeugt bin, dass – wenn man etwas ändern will – dies nur von innen möglich ist. Rege nutze ich LinkedIn, da ich hier auch einen Zweck sehe. Die Vielfalt von YouTube finde ich grandios, während ich die algorithmische Verengung von TikTok, um nicht zu sagen Radikalisierung auf bestimmte Themen – seien es Frauen mit pneumatischen Brüsten und Bleistiftnasen oder tanzende Teenies oder Hass absondernde Prediger oder Nudelsuppen-Zubereitungen – meide.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Wollen wir an dieser Stelle wirklich 40 Jahre Revue passieren lassen?! Ein Wort: Drastisch.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Der Nostalgiker in mir denkt an die absurden und fetten 90er-Jahre zurück. Der Realist sagt mir: That’s the way the cookie crumbles.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Aber sicher.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Möglichst viele verschiedene Dinge von möglichst verschiedenen Menschen auf möglichst verschiedenen Kanälen. Wenn wir uns nicht bewusst dagegen wehren, wird die Bubble, die uns umgibt, immer enger. Damit schwindet auch unsere Toleranz gegenüber allem und jedem. Deshalb mag ich insbesondere TikTok nicht, weil dort ganz gezielt der Horizont verengt wird.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Ich kann problemlos schlechte Bücher, Filme, Games oder Gespräche jederzeit beenden.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
The unknown unknown … Ich habe The Economist und Wired abonniert. Dort treffe ich immer wieder auf Themen, die nicht auf meinem Radar waren. Ich höre sehr gerne gescheiten Leuten zu und liebe darum die Podcasts von Lex Fridman und dessen Long-Podcast-Format. Das sind richtige Master Classes in mir oft nicht bekannten Bereichen. Witzig finde ich auch «You are not so smart». In kleinen Dosen «Huberman Lab», denn die Streberhaftigkeit und die Abwesenheit von Humor mag ich nicht. Ganz anders «What now?», in dem Trevor Noah mit der Unverblümtheit eines Hofnarrs die richtigen Fragen stellt.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Hoffentlich nicht mehr lange. Das Papier ist zu wertvoll, um mit News bedruckt zu werden, die gestern online waren. Wochenformate und Magazine, die grössere Zusammenhänge aufzeigen, Hintergründe aufarbeiten und mit ansprechenden Layouts arbeiten, wünsche ich mir noch für einige Jahre.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Eine interessante Frage, die aber voraussetzt, dass man die Wichtigkeit der Medien in einem demokratischen Kontext erkennt. Schaut man, wie sich Falschmeldungen im Vergleich zu Tatsachen online verbreiten, so sind sie definitiv eine Gefahr. Aber: Es wäre schön, wenn sie eine Chance für die Medien wären.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Was ist das?
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Yep. Siehe oben. Lange war es Lex Fridman, aber er ist einfach zu nett zu allen. Diese Kritiklosigkeit finde ich schwierig einzuordnen, darum bin ich etwas am Suchen.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Ich kann eigentlich alle verstehen, die sich den Nachrichten entziehen. Stimmungserhellend ist die Barrage von Krieg, Katastrophen und politischer Inkompetenz ja nicht. Es hat aber auch mich nachdenklich gestimmt, dass wir seit einigen Jahren mehr Streaming-Abos als Zeitungs-Abos in Schweizer Haushalten haben. Die quantitative Betrachtung greift mir aber zu kurz. Was nützt es mir, wenn ich weiss, dass im Roten Meer ein verwöhnter Hai eine Touristin in die Hand gebissen hat, weil sie keinen Fisch dabeihatte oder Kampagnen gegen diese (oft Jugendliche) oder jene Gruppe gefahren werden und zu deren Verstärkung Nachrichten aus aller Welt in die Schlagzeilen gerückt werden, die dann eine verzerrte Wahrnehmung der lokalen Tatsachen nach sich ziehen? Bei sozialen Medien, die oft als News-Quelle angeben werden, finde ich nicht zuletzt auch deshalb weniger ist mehr. Und hier schliesst sich der Kreis zur Fake-News-Frage: Lieber auf fundierten Portalen vorbeischauen, statt im Bullshit untergehen.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Sport-Journalismus eigentlich schon heute. Doch woher haben die Roboter ihr Futter? Journalismus beschränkt sich zum Glück nicht auf das Wiederkäuen von Unfällen und Verbrechen. Es ist ein People-Business. Noch sehe ich keinen Roboter rausgehen und mit Fachleuten sprechen oder Politikerinnen interviewen. Wenn wir dann so weit sind, dann kann sich mein digitaler Zwilling die News gönnen.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Das ist ein sehr grosser Allgemeinplatz. Das über viele Jahre praktizierte Business-Modell – alles, was online ist, ist gratis – ist der Tod von ganz vielem. Ich halte es – on- und offline – lieber nach dem Motto «Was nichts kostet, ist nichts wert». Qualität hat ihren Preis. Wie dieser bezahlt wird, ist wiederum eine andere Frage. Und: Die «Befreiung» hat bereits stattgefunden. Jeder Idiot hat heute die Möglichkeit, ein Millionenpublikum zu erreichen.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Schaden würde es kaum.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Jeden Tag. Ich liebe meine Füllfedern. Ich zeichne auch meine Mind-Maps von Hand. Das hilft mir beim Denken.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Er ist ein gefundenes Fressen für Medien und Comedians, aber ich würde ihn – wäre er mit seinem Einfluss und seiner für mich nach wie vor unerklärlichen Macht über die republikanische Partei nicht so brandgefährlich – wohl als Junk-Food einstufen, denn seine Präsenz und Äusserungen sind schwer verdaulich.
Wem glaubst Du?
Meinem Hund, aber nicht, wenn es ums Fressen geht.
Dein letztes Wort?
Danke.
Marc Bodmer
Marc Bodmer ist von Haus aus Jurist, fühlt sich aber zeitlebens zu sozio-kulturellen Themen hingezogen. Er setzt sich beruflich seit über 30 Jahren mit Games und digitalen Medien auseinander. Er gilt international als Experte in Sachen Videogames, leitete an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften das Projekt «Medienkompetenzförderung» und war für die inhaltliche Umsetzung des 1. Nationalen Tags der Medienkompetenz verantwortlich. Er hält Gast-Vorlesungen an Hochschulen und Universitäten und veranstalte Videospiel-Workshops für Kinderärzte, Lehrer, Eltern und andere Multiplikatoren. Als Cyberculturist sieht er sich in der Rolle eines Mediators zwischen den medialen Welten der Jugendlichen und der Erwachsenen, zwischen der digitalen und der analogen Welt. Marc ist seit 40 Jahren Freelancer und sucht ab November einen neuen Job. Er ist glücklich verheiratet, stolzer Vater eines erwachsenen Sohns und gerne unterwegs mit seinem Foxterrier.
https://marcbodmer.com/
Basel, 18.09.2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Seit Ende 2018 sind über 290 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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