Linda Koponen: «Die Berichterstattung hier im Norden ist direkter, vielleicht auch ehrlicher»
Das 292. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Linda Koponen, Korrespondentin bei der «NZZ» für Nordeuropa und das Baltikum. Sie sagt, auf Twitter gehe sie, wenn sie müde werde: «Dort finde ich garantiert immer etwas, worüber ich mich aufregen kann und bin dann schnell wieder wach.» Instagram dagegen sei «für gute Laune». Im Vergleich mit skandinavischen Zeitungen seien die Medien in der Schweiz sehr geschliffen. Ein Beispiel dafür sei die Berichterstattung über den Krieg in Gaza: «Wenn man die nordischen Medien verfolgt, bekommt man ein ganz anderes Bild von den Ereignissen vermittelt als im deutschsprachigen Raum.» Sie findet, gedruckte Tageszeitungen könnte man «sofort abschaffen. Digital first!» Medien müssten aber zugänglicher sein für junge Menschen. Sie selbst stolpere immer wieder «über Artikel, die ich nicht verstehe und die mir nichts geben». Wenn es ihr nach einem Hochschulstudium und vielen Jahren Berufserfahrung so gehe, frage sie sich, «wie eine 16-Jährige da durchblicken soll. Und wieso sie für so etwas Geld ausgeben sollte.» Allergisch ist sie auf schlechten Journalismus, wenn «nur noch die eigene Ideologie zählt – Fakten hin oder her. Dieser Scheuklappen-Journalismus nimmt überall – auch in der Schweiz – zu.» Sie empfiehlt deshalb dringend, Zeitung zu lesen: «Unwissenheit ist bequem, aber ich glaube, die Zeit für Bequemlichkeit ist vorbei.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Als erstes scrolle ich immer durch die finnische Zeitung «Helsingin Sanomat» und bleibe meist bei irgendeiner Geschichte hängen. Dann folgen «Politiken», «Dagens Nyheter» und die skandinavischen, litauischen, lettischen und estnischen Onlineportale im Schnelldurchlauf. Wenn danach noch Zeit bleibt, geht’s zum Zürich-Teil der «NZZ» und dem Inlandteil des «Tages-Anzeiger».
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram, LinkedIn, YouTube, TikTok und BeReal?
Facebook und LinkedIn sind nützlich für Recherchen. Wenn ich nachmittags müde werde, gehe ich auf Twitter. Dort finde ich garantiert immer etwas, worüber ich mich aufregen kann und bin dann schnell wieder wach. Instagram dagegen ist für gute Laune. Dort schaue ich Hundevideos und folge Leuten aus dem Reality-TV. Für TikTok und BeReal fühle ich mich zu alt.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Ich lese viel mehr. Und verstehe mittlerweile auch, was ich lese.
Wenn Du an die Medien in Deinem Berichtsgebiet denkst – welche Unterschiede fallen Dir im Vergleich zu den Medien in der Schweiz auf?
Die Berichterstattung hier im Norden ist direkter, vielleicht auch ehrlicher. Schweizer Zeitungen kommen im Vergleich sehr geschliffen daher. Ein Beispiel: «Helsingin Sanomat» schrieb in einem Porträt der finnischen Finanzministerin Riikka Purra, dass sie als Kind vom «Todesröcheln ihrer Mutter» geweckt wurde. Eine Schweizer Zeitung würde einen solchen Ausdruck wohl kaum drucken, man würde dafür eine hübsche Umschreibung suchen – auch wenn die Frau geröchelt hat und dann gestorben ist. Ein anderes Beispiel ist die Berichterstattung über den Krieg in Gaza. Wenn man die nordischen Medien verfolgt, bekommt man ein ganz anderes Bild von den Ereignissen vermittelt als im deutschsprachigen Raum.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Natürlich.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Eine Zeitung. Was gerade auf der Welt geschieht, geht uns alle etwas an – auch wenn wir alle wohl lieber Hundevideos auf Instagram schauen würden. Unwissenheit ist bequem, aber ich glaube, die Zeit für Bequemlichkeit ist vorbei. Falls Du mich nach einem Büchertipp fragst, dann kann ich die Krimis der finnischen Autorin Satu Rämö empfehlen. Sie spielen in Island und wurden kürzlich auch ins Deutsche übersetzt.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Schwierig. Meistens kämpfe ich sehr lange.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Bei der Arbeit. Oder auf Instagram. Der Algorithmus schlägt mir oft schräge Sachen vor. Eine Zeit lang bekam ich immer Videos von Reitunfällen gezeigt. Verrückt, was ein Mensch alles überleben kann. Und wofür man seine Zeit verplempert. Ich will gar nicht wissen, wie lange ich mich damit beschäftigt habe.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Meinetwegen können wir sie sofort abschaffen. Digital first!
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Kommt auf das Medium und die Medienschaffenden drauf an. Fake News können eine Chance sein, wenn man sie aufdeckt, einordnet und so einen Mehrwert liefert. Dafür braucht es gute Journalisten und Journalistinnen, genügend Ressourcen und ein freies Umfeld. Sind schlechte Journalisten am Werk, wird es gefährlich, weil dann nur noch die eigene Ideologie zählt – Fakten hin oder her. Dieser Scheuklappen-Journalismus nimmt überall – auch in der Schweiz – zu.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Radio im Auto. Fernsehen bei der Eishockey-WM und bei Wahlen.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Jeden Tag. Beim Duschen, Zähneputzen, Aufräumen, im Flugzeug. Meine Lieblingspodcasts sind alle finnisch. Den «NZZ-Akzent» finde ich aber auch gut. Da erfährt man Hintergründe zu einem aktuellen Thema. Wer nicht lesen mag, kann sich auch so über die wichtigsten Dinge informieren. Das klingt jetzt nach Eigenwerbung, oder?
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Für die Medien bedeutet es, dass wir besser recherchieren, besser schreiben, besser erklären und besser redigieren müssen. Ich werde dafür bezahlt, jeden Tag durch acht bis zehn Zeitungen zu scrollen. Dabei stolpere ich immer wieder über Artikel, die ich nicht verstehe und die mir nichts geben. Wenn es mir nach einem Hochschulstudium und sieben Jahren Berufserfahrung so geht, frage ich mich, wie eine 16-Jährige da durchblicken soll. Und wieso sie für so etwas Geld ausgeben sollte.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Vorschlag: Der Tagi könnte stattdessen Supino durch einen Roboter ersetzen.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Digitalisierung ist das Beste, was der Branche passieren konnte. Sie bietet unendliche Möglichkeiten für Recherche, Storytelling und für Abo-Modelle.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Dazu kann ich keine qualifizierte Aussage machen, da ich mich nicht mit dem Thema befasst habe.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Jeden Tag.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Trump bringt Klicks, und Klicks bringen Geld. Das ist gut, denn dank Leuten wie ihm, haben Leute wie ich einen Job. Ich bin allerdings froh, dass ich mich als Nordeuropa-Korrespondentin nicht vertieft mit ihm beschäftigen muss. Es gibt interessantere Geschichten als das Handicap von Trump (oder Biden).
Wem glaubst Du?
Betroffenen. Und meinen eigenen Augen. Deshalb gehe ich am liebsten raus zu den Menschen, schaue mir die Dinge an und höre zu. Hake nach, hinterfrage. Achte auf die Details. Am Ende höre ich immer auf mein Bauchgefühl.
Dein letztes Wort?
Schluss mit dem Scheuklappen-Journalismus!
Linda Koponen
Linda Koponen arbeitet als Korrespondentin bei der «NZZ» und ist für Nordeuropa und das Baltikum zuständig. Sie hat an der Universität Zürich Publizistik und Soziologie studiert und absolvierte danach ein Praktikum bei der «Zürichsee-Zeitung». Nach zwei Jahren als Lokalredaktorin machte sie ein Volontariat bei der «NZZ» und erhielt danach eine Festanstellung im Zürich-Ressort derselben Zeitung. Seit Mai 2023 ist sie Teil des Auslandsressorts.
https://www.nzz.ch/international
Basel, 31. Juli 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Seit Ende 2018 sind über 290 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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Ein Kommentar zu "Linda Koponen: «Die Berichterstattung hier im Norden ist direkter, vielleicht auch ehrlicher»"
Viele verbildete Menschen können oder wollen die Welt nicht wirklich so sehen, wie sie in Tat und Wahrheit ist. Und vor allem wollen sie nicht wissen, was – aktiv oder passiv – ihr eigner Anteil daran ist, wenn und wo es schief läuft. Sie brauchen den Scheuklappen-Journalismus, der ihnen – möglichst ohne dass sie es merken – eine Welt vormacht, wo sie mit dem, was nicht gut läuft, nichts zu tun haben.