Patrik Wülser: «Grossbritannien ist für einen Korrespondenten ein mediales Paradies.»

Publiziert am 24. Juli 2024 von Matthias Zehnder

Das 291. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Patrik Wülser, Radio-Korrespondent für Grossbritannien von SRF. Er sagt, Twitter sei für ihn zwar eine wichtige Informationsquelle. «Meinen eigenen Alltag in den sozialen Medien zu kuratieren, ist mir dagegen eher fremd.» Als besonders lehrreich empfindet er «Begegnungen mit anderen Menschen, die einen an ihrem Leben oder ihrem Wissen teilhaben lassen.» Als Korrespondent kann er in Grossbritannien auf eine Fülle von Zeitungen zurückgreifen: «Diese sind umfächelt von der Freude am Debattieren, an feinem Humor und der Umgang mit der Sprache.» Die BBC sei zudem «der tönende Beweis, dass Radio kein aussterbendes Medium ist.» Wülser glaubt nicht, dass sich Journalisten durch Roboter oder KI ersetzen lassen. «Ob man in zehn Jahren allenfalls den Tamedia-VR-Präsidenten mit einem Roboter ersetzen wird, kann ich nicht beurteilen. Ich bin dagegen überzeugt, dass gute Reportagen weiterhin von Journalist:innen aus Fleisch und Blut geschrieben werden.» Er sei «immer wieder fasziniert, welche multimediale Erzählformen Online-Journalist:innen entwickeln.» Die Digitalisierung habe seinen handwerklichen Alltag wesentlich vereinfacht. «Mehr Sorgen bereitet mir, was die Digitalisierung unter unserem Schädeldach anrichtet. Die durchschnittliche Verweildauer auf unseren Online-Beiträgen soll bei 17 Sekunden liegen. Damit nähern wir uns immer mehr den kognitiven Fähigkeiten eines Goldfisches.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

«Today» auf BBC Radio 4, «The Times» und die «Neue Zürcher Zeitung».

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram, LinkedIn, YouTube, TikTok und BeReal?

Twitter ist eine wichtige Informationsquelle. Oft auch ein «Seismograph» in welche Richtung sich Ereignisse entwickeln (zum Beispiel während der britischen Wahlen). In Afrika war Facebook ein wichtiges Hilfsmittel, um mit Politiker:innen oder Expert:innen auf dem ganzen Kontinent in Kontakt zu kommen. Meinen eigenen Alltag in den sozialen Medien zu kuratieren, ist mir dagegen eher fremd.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Meine journalistische Karriere hat vor dreissig Jahren als Reporter im Regionaljournal Bern angefangen. Mit der Vespa und dem «Nagra» unterwegs. Ein 11 Kilo schweres Tonband. Geschnitten wurden die Töne mit der Schere und Klebband. Ende 90er-Jahre wurde dieses Handwerk digitalisiert. In Afrika habe ich meine Beiträge auf Reisen nachts noch mit einer portablen Satellitenschüssel nach Bern überspielt. Heute ist mein «Radiostudio» eine App auf meinem iPhone. Mittlerweile mache ich längst nicht mehr nur Radio, sondern auch Podcasts. Ich fotografiere und schreibe Online-Beiträge, um meine Reportagen einem neuen Publikum zugänglich zu machen. Das Handwerk hat sich geändert, aber nicht der Beruf. Die Freude, mit grosser Neugier über Land und Leute zu berichten, ist die gleiche geblieben.

Wenn Du an die Medien in Deinem Berichtsgebiet denkst – welche Unterschiede fallen Dir im Vergleich zu den Medien in der Schweiz auf?

Grossbritannien ist für einen Korrespondenten ein mediales Paradies. Eine Fülle von Zeitungen. Diese sind umfächelt von der Freude am Debattieren, an feinem Humor und der Umgang mit der Sprache. Die BBC ist zudem der tönende Beweis, dass Radio kein aussterbendes Medium ist.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Unbedingt. «Am Anfang war das Wort» – und es wird uns wohl bis zum Ende begleiten.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Im Moment gerade die lesenswerte Biographie über den neuen Premierminister Keir Starmer von Tom Baldwin. Bücher benötigen keinen Strom, kein Update und man kann sie deshalb am Seeufer, in den Bergen oder unter dem Birnbaum lesen.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Als mein früherer Auslandchef mir einst sagte, dass er schlechte Bücher nach drei Seiten in hohem Bogen ins Altpapier werfe, war ich als bibliophiler Mensch entsetzt. Heute mache ich es ebenso. Vielleicht hat man mit abnehmender Restlebenszeit keine Zeit für schlechte Bücher (und insbesondere keinen Platz mehr im Büchergestell).

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Indem ich nicht immer die gleichen Zeitungen lese. Besonders lehrreich sind jedoch Begegnungen mit anderen Menschen, die einem an ihrem Leben oder ihrem Wissen teilhaben lassen. Heute war ich beispielsweise für eine Reportage in Bletchley Park. Ein Mathematiker hat mir dort die deutsche Verschlüsselungsmaschine «Enigma» erklärt. Die Summe solcher Begegnungen hilft mir buchstäblich über die Jahre mein Berichtsgebiet ein bisschen zu «entschlüsseln».

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich befürchte, Zeitungen aus Papier sind ein aussterbendes Medium. Rein ökologisch betrachtet wahrscheinlich durchaus eine nachhaltige Entwicklung. Die Vorstellung, am Sonntag keine Zeitung mehr auf dem Frühstückstisch zu haben, ist jedoch schmerzhaft.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Soweit ich das beurteilen kann, eine Gefahr für die Demokratie und das friedliche Zusammenleben. Aber eher ein guter Grund für gute Medien mit einer differenzierten und faktenbasierten Berichterstattung.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Mittlerweile höre ich die meisten Sendungen auch zeitverschoben. Die «Six O’Clock News» der BBC jedoch häufig immer noch linear. Mit dem Glockenschlag des «Big Ben» mein Tagwerk zu beenden, ist ganz schön. Meinen Fernseher habe ich bereits vor über 30 Jahren entsorgt.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Jeden Tag. «The Rest is Politics» von Rory Stewart und Alastair Campell.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Selbstverständlich macht mir diese Erhebung Sorgen. Und trotzdem fällt es mir gelegentlich schwer, in den Kultur-Pessimismus über die TikTok-Jugend einzustimmen. Ich begegne bei Schulbesuchen immer wieder vielen jungen Menschen, die erstaunlich gut informiert und interessiert sind. Selbst mit dem Risiko, mich zu blamieren, gebe ich gerne zu: Ich habe in meiner Jugend nie das «Echo der Zeit» gehört und selten die «NZZ» gelesen. Das Bedürfnis, das Weltgeschehen zu verfolgen und zu verstehen, entwickelte sich bei mir erst nach dem Studium.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ob man in zehn Jahren allenfalls den Tamedia-VR-Präsidenten mit einem Roboter ersetzen wird, kann ich nicht beurteilen. Ich bin dagegen überzeugt, dass gute Reportagen weiterhin von Journalist:innen aus Fleisch und Blut geschrieben werden. Roboter können Inhalte aus dem Internet filtern, ähnlich wie ein Kuhmagen enzymatisch verkleinern und wiederkäuen. Ein Roboter kann jedoch nicht beschreiben, wie es bei Sonnenaufgang im Ostkongo riecht oder welche Farbe der Himmel auf dem Gipfel des Kilimandscharos hat (der Himmel wird am Horizont immer heller und zerläuft mit den Wolken wie auf einem feuchten Aquarellblatt).

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Um den Journalismus mache ich mir weniger Sorgen. Ich bin immer wieder fasziniert, welche multimediale Erzählformen Online-Journalist:innen entwickeln. Die Digitalisierung vereinfachte meinen handwerklichen Alltag wesentlich. Mehr Sorgen bereitet mir, was die Digitalisierung unter unserem Schädeldach anrichtet. Die durchschnittliche Verweildauer auf unseren Online-Beiträgen soll bei 17 Sekunden liegen. Damit nähern wir uns immer mehr den kognitiven Fähigkeiten eines Goldfisches.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja. Weil Medien nicht einfach ein Geschäftsmodell sind, sondern – wie andere Infrastrukturen – zur Grundversorgung gehören, die das Land zusammenhalten.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Meine Beiträge beginnen meist mit einer handgeschriebenen Disposition, die nach Tinte riecht. Moderationsgespräche entwickeln sich entlang von farbigen Gedankenskizzen (Caran d’Ache «Bicolor»).

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Kann ich nicht beurteilen. Das können meine beiden Kolleg:innen in den USA besser einschätzen.

Wem glaubst Du?

Ein alter Afrikakorrespondent gab mit bei meiner Ankunft in Nairobi den Rat: «Berichte nur über die Dinge, die Du mit eigenen Augen gesehen hast». Selbstverständlich ist dies längst nicht immer möglich. Aber das Prinzip überzeugt mich bis heute.

Dein letztes Wort?

«I like to report on the news, rather than be the news.» (Michaela Wrong)


Patrik Wülser
Patrik Wülser berichtet seit 2020 für das Schweizer Radio (SRF) aus London über das Vereinigte Königreich. Zuvor leitete er die SRF-Auslandredaktion in Bern. Während sechs Jahren lebte und arbeitete er als Afrikakorrespondent in Nairobi (Kenia). Von 2007 bis 2011 Referent im persönlichen Stab des Vorstehers des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK).
https://www.srf.ch/news


Basel, 24. Juli 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 280 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/ 

Wenn Sie kein Fragebogeninterview verpassen möchten, abonnieren Sie einfach meinen Newsletter. Das kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen «Medienmenschen» sowie den aktuellen Wochenkommentar, einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman: www.matthiaszehnder.ch/abo/

Ein Kommentar zu "Patrik Wülser: «Grossbritannien ist für einen Korrespondenten ein mediales Paradies.»"

  1. Ich finde es schade, die Frage nach Medienförderung so intensiv und repetiv zu stellen. Die Halbwertszeit von Volksentscheiden scheint immer kürzer zu werden. Denn am 13. Februar 2022 sagte das Schweizer Volk mit 55 Prozent klar Nein zu höheren Subentionen für Medien.
    Da muss man sich fragen, nach wievielen Jahren kann ein Volksabstimmungsentscheid schon wieder angezweifelt und in Frage gestellt werden? Nach einem Jahr, nach einem halben Jahr, nach zwei Jahren oder wie Früher und der Anstand gebührt maximal erst nach zehn Jahren? Auch die Politiker können es nicht lassen: Gewisse Politiker gewisser Parteien wollen Medien schon wieder mit Geld unterstützen. Un dies, zur Wiederholung, nur gut zwei Jahre nach dem klaren Nein des Souveräns.
    Das ist unflätig, respektlos und führt zu Politikverdrossenheit und niedrigen Abstimmungsquoten. Man fühlt sich veräppelt, für was noch abstimmen? und „die machen ja eh was sie wollen“ gewinnt an Bedeutung.
    Reden wir in 7 Jahren wieder darüber, dann macht es auch Sinn, weil sich die Technik nochmals verändert, der Medienkonsum sich nochmals verlagert und es vielleicht was Verrücktes Neues gibt, das wir heut‘ noch gar nicht kennen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.