Linards Udris: «Der Journalismus in der Schweiz hat ein Reichweitenproblem.»

Publiziert am 22. Januar 2025 von Matthias Zehnder

Das 317. Fragebogeninterview, heute mit Linards Udris, Oberassistent am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ). Er greift zum Frühstück gerne zum «Tagi» – «mit ihm wurde ich zuhause von den Eltern am Küchentisch sozialisiert». Das Schöne an seinem Beruf sei, dass er «als Kommunikationswissenschaftler, der sich mit der Qualität der Medienberichterstattung beschäftigt, News-Junkie sein darf und muss». Die Qualität der Medien sei in den letzten zehn Jahren «nach unseren Messungen zwar relativ stabil geblieben». Es gebe aber «auf der Ebene des Mediensystems» Probleme: Weil «Medien ihre Redaktionen zusammenlegen und Beiträge untereinander austauschen», gebe es immer mehr «inhaltliche Medienkonzentration». Die Vielfalt nehme also «auf der Ebene des Mediensystems ab». Zudem werde «unsere Medien-Infrastruktur immer mehr von Plattformen dominiert», auf denen «moralisch-emotionale Inhalte dominieren und ein seriöser Journalismus einen schweren Stand» habe. Auf die Frage, ob der Kampf gegen Fake News eine Chance für die Medien sein könnten, antwortet der Medienforscher, dass das davon abhänge, «wie stark Falschinformationen in einer Gesellschaft verbreitet» seien: «Wenn sie noch einigermassen überschaubar sind, können sich Medien positiv als seriöse Quellen profilieren. Aber wenn ein gewisses Mass überschritten wird, gerade wenn politische Eliten systematisch Falschinformationen verbreiten, werden die seriösen Medien selbst zur Zielscheibe.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Zum Frühstück der «Tagi» – mit ihm wurde ich zuhause von den Eltern am Küchentisch sozialisiert. Dazu gehörte auch die ausgeklügelte Organisation, wer in welcher Reihenfolge welchen Zeitungs-Bund (damals gab es noch vier oder fünf) in die Finger kriegt. Bis vor kurzem hatte ich den Tages-Anzeiger neben meinem Digital-Abo zusätzlich auf Papier, in der Hoffnung, dass auch meine Kinder dieses Ritual des gemeinsamen Zeitunglesens kennen und schätzen lernen. Stand heute scheine ich aber damit gescheitert zu sein.

In meiner Mediennutzung kommen später im Laufe des Tages immer mehr Medien dazu, lokale, nationale und internationale – alle digital. Und am Sonntag eine gedruckte Zeitung; immerhin einmal pro Woche liegt also etwas auf dem Tisch.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Viele von diesen Plattformen nutze ich nur als wissenschaftlicher Beobachter, weil ich wissen möchte, wer dort präsent ist und ob und wie sich die Plattformen unterscheiden. Aktiv nutzen, also auch eigene Posts machen und kommentieren, tue ich auf Bluesky, das für mich momentan X ablöst, und LinkedIn.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Das Schöne an meinem Beruf ist, dass ich als Kommunikationswissenschaftler, der sich mit der Qualität der Medienberichterstattung beschäftigt, News-Junkie sein darf und muss. Unsere Forschung ist auch vom digitalen Strukturwandel betroffen. Klar, beim Berufseinstieg gab es in meinem Alltag noch den Mix aus traditionell (Zeitungen, Radio und Fernsehen) und digital (Websites), aber mittlerweile ist es fast nur noch digital, und bei digitalen Kanälen immer mehr soziale Netzwerke.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Mein grandioser Englisch-Lehrer an der Uni hat uns Studierenden damals folgenden Merksatz mitgegeben: Die beste schnelle Antwort auf eine (zu) schwierige Frage ist immer «it all depends».

Wenn «früher» heisst «vor fünfzig Jahren», sind die Medien heute sicher besser, weil sie heute kritischer und politisch offener sind und Nachrichten mit viel mehr verschiedenen Formaten vermitteln können. Wenn «früher» heisst «vor zehn Jahren», dann ist die Qualität vieler Medien nach unseren Messungen zwar relativ stabil geblieben. Aber auf der Ebene des Mediensystems gibt es Probleme. Es gibt zwar einige qualitativ hochstehende Newcomer wie die «Republik», aber gleichzeitig gibt es immer mehr «inhaltliche Medienkonzentration» dadurch, dass Medien ihre Redaktionen zusammenlegen und Beiträge untereinander austauschen. Die Vielfalt nimmt also auf der Ebene des Mediensystems ab. Und ein weiteres Problem ist, dass unsere Medien-Infrastruktur immer mehr von Plattformen dominiert wird, auf denen moralisch-emotionale Inhalte dominieren und ein seriöser Journalismus einen schweren Stand hat. Der Journalismus in der Schweiz hat heute nicht unbedingt ein Qualitätsproblem, aber ein Reichweitenproblem – und natürlich ein ökonomisches.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja, auf jeden Fall, auch wenn Videos und Podcasts gross im Trend sind. Aus der Forschung wissen wir, dass auch im Online-Bereich der Grossteil der Nachrichten-Nutzer:innen nach wie vor bevorzugt, Online-Nachrichten zu lesen, statt zu schauen oder zu hören. Das gilt sogar für die jüngeren Menschen, wenn auch in etwas geringerem Mass.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Das, was einen zum Lachen oder zum Nachdenken bringt. Ein Buch, das bei mir kürzlich beides geschafft hat, ist «Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin» von Thomas Meyer.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Wenn mich Bücher weder zum Lachen noch zum Nachdenken bringen, lege ich sie weg.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Bei Freunden, Familie und den Menschen am Institut. Und was die Medien betrifft, am ehesten bei der guten alten «New York Review of Books». Ein Beispiel: Erst dort habe ich vor etwa fünf Jahren erfahren, dass es ein grossartiges «Zurich Concert» aus den 1980er Jahren gibt, das in der Aula eines Gymnasiums mit einem Kassettenrekorder aufgenommen wurde – ein Stück des US-amerikanischen Komponisten Julius Eastman, von dem ich bis anhin nie gehört hatte.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Eine ganze Weile – aber in 10 bis 20 Jahren nur noch als Nischenprodukt und Ergänzung für diejenigen, die sich zusätzlich zu Digital-Abos noch etwas Haptisches leisten wollen.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Das kommt wohl darauf an, wie stark Falschinformationen in einer Gesellschaft verbreitet sind. Wenn sie noch einigermassen überschaubar sind, können sich Medien positiv als seriöse Quellen profilieren. Aber wenn ein gewisses Mass überschritten wird, gerade wenn politische Eliten systematisch Falschinformationen verbreiten, werden die seriösen Medien selbst zur Zielscheibe.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Nur noch bei speziellen Live-Events.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Was News und Information betrifft, bin ich eher ein Textmensch. Audio heisst für mich in erster Linie Musik. Die wenigen Podcasts, die ich unregelmässig höre, finde ich aber sehr gut gemacht. «Die Cookie-Falle» von SRF zum Beispiel hat mich überzeugt.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Nicht nur in jüngeren Altersgruppen ist ein grosser Teil «unterversorgt» mit Nachrichten, sondern zunehmend auch in älteren Altersgruppen. Diese Menschen geben uns in Umfragen an, dass sie die meisten Medienkanäle gar nicht oder nur selten nutzen – ein grosses Problem für die Medien. Nur Social Media wird zu Newszwecken relativ häufig genutzt. Auf Social Media treffen News-Deprivierte natürlich auch auf journalistische Medien, aber diesen Medien ist wenig geholfen, wenn die Nutzer:innen das Social-Media-Universum nicht verlassen und sich daran gewöhnen, auf Social Media ein für sie ausreichendes Angebot zu erhalten, das aus kostenlosen, relativ kurzen Informationen besteht.

Auch für unsere direkte Demokratie ist die zunehmende News-Deprivation wahrlich kein Wunsch-Resultat. In einer Studie haben wir beobachtet, dass News-Deprivierte oft auch diejenigen Personen sind, die sich weniger für Politik interessieren, weniger an Volksabstimmungen teilnehmen und weniger der Politik vertrauen. Es gibt also Anzeichen, dass eine News-Deprivation einhergeht mit einer weniger guten Integration und Teilhabe in unserer politischen Öffentlichkeit.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Vollständig natürlich nicht, vor allem nicht, was das Schreiben von Beiträgen betrifft. Einzelne Schritte in der Produktions- und Wertschöpfungskette aber schon. Klug genutzt, kann künstliche Intelligenz Ressourcen freimachen für journalistische, menschengemachte Arbeit, zum Beispiel mehr Recherchen. Im Moment gehen auch die Schweizer:innen, die wir befragt haben, davon aus, dass die Medienhäuser mit künstlicher Intelligenz Zeit und Geld sparen. Damit verbindet das Publikum aber mutmasslich die Erwartung, dass es von diesen Ersparnissen profitiert. Die Befragten geben nämlich auch an, für KI-generierte Beiträge nichts zahlen zu wollen. Falls also die Medien in Zukunft vermehrt auf künstliche Intelligenz setzen möchten, sollten sie umso besser erklären, wofür genau sie KI einsetzen und warum guter Journalismus (trotz Einsatz von KI) seinen Preis hat.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Was solche Einschätzungen und Blicke in die Zukunft betrifft, ist das Pendel in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich schon ein paar Mal hin- und hergeschwungen. Aktuell sind wir wohl eher in einer pessimistischen Phase. Ich selber gehe mittelfristig davon aus, dass der Journalismus schrumpfen wird, aber es wird ihn immer noch geben. Die Aufklärung und die Demokratie, die den Journalismus möglich gemacht haben und ihn auch brauchen, haben lange Beine.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja, mehr öffentliche Medienförderung ist notwendig. Das ergibt sich daraus, dass gerade im Online-Journalismus weder mit dem Leser- noch dem Werbemarkt genug Geld verdient werden kann. Ein seriöser, einordnender Journalismus braucht Ressourcen und wir als Gesellschaft brauchen eine Vielfalt von verschiedenen, gut funktionierenden Medien. Skandinavische Länder zum Beispiel zeigen uns, dass eine öffentliche Medienförderung die Pressefreiheit nicht einschränkt – im Gegenteil. Eine international vergleichende Studie kommt zum Schluss: die «gesunden» Demokratien sind gerade diejenigen Länder, die in den Journalismus investieren.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, aber diese Momente kann man pro Monat fast an einer Hand abzählen.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

In der Summe schlecht. Manche Medien mögen zwar dank Trump mehr Publikum erhalten oder auch eine Community, die klar für oder klar gegen ihn ist. Aber insgesamt tut es einem Mediensystem nicht gut, wenn es sich polarisiert und/oder von Provokationen und Emotionen getrieben wird. Und: Trump hält wenig bis gar nichts von den Prinzipien eines kritischen, fairen Journalismus. Dass ein solcher Medien-Fundamentalkritiker an den Schalthebeln der Macht ist, macht den Journalismus verletzlich.

Wem glaubst Du?

Ich glaube denjenigen Menschen, die mich mit guten Argumenten überzeugen, besonders wenn sie dabei aufrichtig sind.

Dein letztes Wort?

Vielen Dank, Matthias! Ich bin neugierig, wie gut oder schlecht mein Blick in die Zukunft den Test der Zeit bestehen wird. In diesem Sinne: In zehn Jahren ein Blick zurück auf die damaligen Blicke nach vorne in all deinen Fragebogen-Interviews, das wäre was!


Linards Udris
Linards Udris hat an der Universität Zürich Geschichte, Englische Sprachwissenschaft und Soziologie studiert und bei Kurt Imhof zum Thema Extremismus in der öffentlichen Kommunikation promoviert. Er ist Oberassistent am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) und stellvertretender Forschungsleiter am fög – Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich.
https://www.ikmz.uzh.ch/


Basel, 22.01.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: John Flury / Obsoquasi

Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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