Jürg Steiner: «Der Journalismus ist nicht besser als die Gesellschaft, in der er stattfindet.»

Publiziert am 20. März 2024 von Matthias Zehnder

Das 273. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Jürg Steiner, Mitglied der Geschäfts- und Redaktionsleitung des Berner Onlinemagazins «Hauptstadt». Er sagt, es begeistere ihn «wie toll, respektvoll, hierarchiefrei und lehrreich» die Zusammenarbeit der jungen, technisch versierten Kolleg:innen mit ihm als erfahrenem Oldie sei. «Als ich einstieg, schrieb man auf Schreibmaschinen Manuskripte», sagt Steiner. «Es gab kaum Medienbeauftragte und Medienmitteilungen. Die Verlage hatten viel Geld. Als gemütlich empfand ich den Journalismus trotzdem nicht.» Ohne Internet seien auch einfache Recherchen zeitraubend gewesen. Heute arbeiten Journalisten schneller, effizienter, informierter, «manchmal multimedial und richtig smart». «Aber es ist nicht leichter geworden, einen klaren Kopf zu behalten.» Er findet, Journalismus müsse zugänglicher, verständlicher und niederschwelliger werden. «Und was sich besonders wichtig finde: Der Journalismus muss konstruktiv sein.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Aus jahrzehntelanger Gewohnheit die Printausgabe der Berner Zeitung, obschon ich in ihr meist nur noch lesen kann, was gestern oder vorgestern schon in der App erschien.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram, LinkedIn, YouTube, TikTok und BeReal?

Twitter und LinkedIn finde ich beruflich nach wie vor hilfreich, Instagram und Facebook nutze ich vor allem privat. Auf YouTube schaue ich am Abend verpasste Giro-d’Italia-Etappen nach.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Als ich einstieg, schrieb man auf Schreibmaschinen Manuskripte und korrigierte diese (wenns sein musste) mit Tipp-ex, ehe sie gesetzt wurden. Es gab kaum Medienbeauftragte und Medienmitteilungen. Die Verlage hatten viel Geld. Als gemütlich empfand ich den Journalismus trotzdem nicht. Man tappte öfter im Dunkeln. Ohne Internet, Mail und Handy waren auch einfachere Recherchen zeitraubend. Heute können Journalist:innen viel mehr als früher. Auch ich arbeite schneller, effizienter, informierter, manchmal multimedial und richtig smart. Aber es ist nicht leichter geworden, einen klaren Kopf zu behalten.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Der Journalismus ist nicht besser als die Gesellschaft, in der er stattfindet. Was mich heute sehr begeistert: Wie toll, respektvoll, hierarchiefrei und lehrreich die Zusammenarbeit ist von jungen, technisch versierten Kolleg:innen mit mir als erfahrenem Oldie.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Für mich schon.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Ein uraltes Buch: «Wie wirklich ist die Wirklichkeit?» von Paul Watzlawick.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lege mehr Bücher weg als ich zu Ende lese. Wenn mich der Einstieg in ein Buch fesselt, bin ich als Leser schon zufrieden.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Beim Reden mit Menschen ausserhalb der Medienwelt. Und beim Lesen von Medien in anderen Sprachen, in denen Dinge oft anders thematisiert werden als bei uns.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

So lange für die, die sie herstellen, die Rechnung aufgeht.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Der Sinn von Journalismus ist es (und war es schon immer), Desinformation, Manipulation, Fake news oder wie immer man es nennen will zu enttarnen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Aus Nostalgie manchmal Radio della Svizzera Italiana. Live am TV schaue ich Langlauf- und Velorennen sowie alle vier Jahre die SRF-Wahlsendung.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

«1776», den USA-Podcast von Nicoletta Cimmino und Peter Hossli. Ich bin leider kein Multitasker, deshalb kann ich weder zum Putzen noch zum Kochen noch zum Einschlafen Podcasts hören.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Es bedeutet, dass Journalismus zugänglicher, verständlicher und niederschwelliger werden muss. Und was sich besonders wichtig finde: Der Journalismus muss konstruktiv sein. Egal für welche Altersgruppe. Ich glaube, dass neue, kleine Onlinemedien als Alternative zu den eher trägen Grossverlagen wichtige Impulse geben können.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Man muss deklarieren, was Roboter schreiben und was Menschen, letzteres vielleicht mit einem Bio-Label. Dann entscheiden die Leser*innen, wem sie vertrauen.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Ohne die ökonomischen Schwierigkeiten kleinzureden: Man sollte sich vor allem vom Jammern befreien. Kolleg:innen schon nur in Nachbarländern, geschweige denn in Krisengebieten, arbeiten unter viel schwierigeren Bedingungen als wir. Journalismus ist das, was Journalist:innen aus ihm machen – egal unter welchen Umständen. Kämpfen und etwas riskieren für diesen tollen Beruf gehört für mich dazu.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Wir brauchten sie immer. Einst besorgten Inserent:innen die Medienförderung, jetzt müssen wir neue Lösungen finden.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Private Kärtchen. Bei der Arbeit Gesprächsnotizen, die ich später leider meist nicht mehr lesen kann.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Ich sehe nichts Gutes in einer Figur, die so viel Egoismus verbreitet.

Wem glaubst Du?

Meiner Familie und meinen Freund*innen.

Dein letztes Wort?

Forza!


Jürg Steiner
Jürg Steiner (*1964) stieg 1983 als Sportberichterstatter bei der «Berner Zeitung» in den Journalismus ein, beendete aber sein Geographiestudium an der Uni Bern trotzdem. Von 1994 bis 2001 arbeitete er als Journalist im Tessin, ehe er zur «Berner Zeitung» ins Hintergrundressort «Zeitpunkt» zurückkehrte. 2021 gehörte er zu den Initiant:innen des Berner Onlinemediums «Hauptstadt», wo er Mitglied der Geschäfts- und Redaktionsleitung ist. Jürg Steiner lebt in Mittelhäusern (Köniz).
https://jsteiner.ch/

Basel, 20. März 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch


Seit Ende 2018 sind über 270 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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