Jacqueline Krause-Blouin: «Ich wünsche mir mehr Zwischentöne»

Publiziert am 30. August 2023 von Matthias Zehnder

Das 244. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Jacqueline Krause-Blouin, Editor-at-large in Los Angeles bei «annabelle». Sie sagt: «Ich mag es, wenn Redaktionen, denen ich vertraue, für mich den Newssalat kuratieren.» In der Schweiz hat sie deshalb jeden Abend die «Tagesschau» geguckt. «Hier in den USA bin ich noch auf der Suche nach etwas Vergleichbarem.» «60 Minutes» auf CBS sei zwar gut, «aber da fühle ich mich beim Schauen manchmal wie meine eigene Grossmutter.» Dass viele junge Menschen zu den sogenannten News-Deprivierten gehören sollen, erstaunt sie: «Ich erlebe diese Generation ganz anders: höchst politisch und sehr interessiert. Viel politischer etwa als damals meine Generation im selben Alter.» Anlass zur Sorge gibt ihr, dass «knapp 40 % der Amerikaner:innen die News ausschliesslich über Social Media konsumieren». Aus Ausgleich empfiehlt sie die Lektüre «New York Times» – und die Songtexte von Bob Dylan.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich möchte beim Frühstück nur meinen Kaffeebecher sehen.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Instagram nutze ich sehr aktiv, Twitter (oder X) für die Recherche und Facebook höchstens noch, um zu sehen, was mein Onkel so treibt.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Es hat mich dazu gebracht, wieder lokaler News zu konsumieren und dem linearen TV bei mir zuhause ein Comeback beschert.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Angesichts der Budgets war schon sehr viel mehr möglich. Wobei das auch bequem machen kann.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Unbedingt. Ich würde mir nur mehr Zwischentöne wünschen.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Liebesbriefe, Songtexte von Bob Dylan und die «New York Times».

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Früher konnte ich sie nicht weglegen aber inzwischen habe ich gemerkt, dass das Leben für schlechte Bücher definitiv zu kurz ist.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In der Bibliothek, im Taxi und auf Instagram.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Bei Tageszeitungen bin ich nicht ganz so überzeugt, aber gedruckte Magazine wird es immer geben. Die Journalistin Anja Burri hat am diesjährigen «European Publishing Congress» gesagt, dass die «NZZ» die letzte gedruckte Zeitung der Schweiz werden wolle – das fand ich ein sehr zeitgemässes Ziel.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Beides. Im besten Fall sind wir Journalist:innen wieder wacher, im schlechtesten glaubt man uns einfach nicht mehr.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

In der Schweiz habe ich jeden Abend die «Tagesschau» geguckt, ich mag es, wenn Redaktionen, denen ich vertraue, für mich den Newssalat kuratieren. Hier in den USA bin ich noch auf der Suche nach etwas Vergleichbarem. Am ehesten wohl «60 Minutes», aber da fühle ich mich beim Schauen manchmal wie meine eigene Grossmutter. Radio höre ich auch – weil ich gerne von Songs überrascht werde, an die ich gar nicht mehr gedacht hatte.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja – und seit ich hier in L.A. täglich im Stau stehe noch viel mehr. Die Podcasts der «Zeit» sind sensationell, man merkt, dass da in Qualität investiert wird. Am liebsten mag ich «Alles gesagt?», «Und was machst du am Wochenende» und «OK, America?». Und ich höre jeden Morgen den «L.A. Report» auf LAist – das ist das NPR-Radio von Los Angeles. Für Elternthemen empfehle ich «Mom Curios». Und wenn ich die Schweiz vermisse höre ich «Zivadiliring» oder «Echo der Zeit».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Erschreckend. Es erstaunt mich aber, weil ich diese Generation so ganz anders erlebe:  höchst politisch und sehr interessiert. Viel politischer etwa als damals meine Generation im selben Alter. Aber deprimierende Statistiken über Medienkonsum gibt es ja zuhauf – ich denke da etwa an die knapp 40% der Amerikaner:innen, die News ausschliesslich über Social Media konsumieren.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Datenjournalismus sicher – Teile des Sportjournalismus oder Berichte über Wahlen. Aber wenn es um Storytelling geht, um Menschen mit ihren Geschichten und Gefühlen? Definitiv nicht.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung bringt eigentlich viel Potential für die Befreiung mit. Aber leider wird diese Chance regelmässig verpasst, weil sie vor allem als schnelle Sparmassnahme angesehen wird.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, täglich. Ich drucke auch Artikel, die ich schreibe, aus, um mit einem Stift Notizen zu machen. Es fühlt sich für mich verbindlicher an und abgesehen davon, finde ich auf diese Weise mehr Fehler. Im Übrigen bin ich vielleicht der letzte Millennial, der noch Postkarten schreibt?

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Schlecht. Weil er Clickbait vorangetrieben hat und weil Kriminelle generell nicht so viel Raum erhalten sollten. Ausserdem verhunzt sein «mug shot» selbst das schönste Layout.

Wem glaubst Du?

Meiner Tochter.

Dein letztes Wort?

«Let me live, love, and say it well in good sentences» Ist aber leider nicht von mir, sondern von Sylvia Plath.


Jacqueline Krause-Blouin
Jacqueline Krause-Blouin wurde 1986 geboren und arbeitet seit 2009 in der Medienbranche. Nach neun Jahren in Berlin und Stationen beim «Rolling Stone», der «Berliner Morgenpost» und  «SPEX – Magazin für Popkultur» wurde sie 2015 Stellvertretende Chefredaktorin von «annabelle» und 2019 Chefredaktorin. Unter ihrer Leitung wurde «annabelle» zum «European Magazine of the Year» ausgezeichnet. Zu Beginn des Jahres gab sie ihre Rolle an der Spitze des Frauenmagazins auf und zog mit ihrer Familie nach Los Angeles. Bei «annabelle» ist sie nun Editor-at-large. Krause-Blouin schreibt ausserdem als freie Korrespondentin und Autorin für verschiedene deutschsprachige Medien wie «Zeit», «Tages-Anzeiger» oder «Das Magazin». Für den «Mamablog» des «Tages-Anzeigers» schreibt sie die Kolumne «5913 Miles» über ihr Leben in den USA.
https://www.annabelle.ch/


Basel, 30. August 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: Joan Minder

Seit Ende 2018 sind über 240 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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