Reto U. Schneider: «Wem vertrauen wir?»
Das 245. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Reto U. Schneider, stellvertretender Redaktionsleiter von «NZZ Folio». Er sagt: «Corona hat mich von der Illusion geheilt, dass unsere Meinungen aus einer nüchternen Analyse von Fakten entstehen.» Wir seien uns im Gegenteil «je länger, desto weniger darüber einig, was als etabliertes Wissen gilt». Das mache die Arbeit von Journalisten schwierig. Als «interessanteste Frage von allen» bezeichnet Schneider die Frage, wem wir vertrauen. Wen wir für kompetent halten und warum, sei «viel wichtiger als alle Argumente», sagt Schneider. «Ich bilde mir ein, der wissenschaftlichen Methode zu vertrauen, aber andere, mit denen ich nicht einig bin, glauben das auch.» Stellt sich die Frage: Warum sind sie nicht einer Meinung? Schneider hat diese Frage so beschäftigt, dass er ein Buch darüber geschrieben hat, das sich um die «dubiose Herkunft unserer Meinungen» dreht. Er empfiehlt deshalb, Texte zu lesen, «die der eigenen Meinung widersprechen. Leider neigen wir zum Gegenteil.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Twitter (oder X).
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Facebook ist nett, um mit Leuten lose in Kontakt zu bleiben, die einen ein Stück auf dem Lebensweg begleitet haben. Auf Twitter poste ich wenig, benutze den Dienst aber intensiv bei der Ideenfindung und der Recherche. Aus ideologischen Gründen darauf zu verzichten, käme für mich nicht infrage. Da bin ich pragmatisch: Solange mir diese sozialen Medien bei der Arbeit helfen, werde ich sie benutzen, egal wer sie besitzt oder was andere dort für Quatsch verbreiten.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
In dieser Zeit wuchs mein Interesse daran, wie wir zu unseren Meinungen kommen. Ich schrieb mehrere lange Artikel darüber und schliesslich das Buch «Die Kunst des klugen Streitgesprächs», das eben erschienen ist. Corona hat mich von der Illusion geheilt, dass unsere Meinungen aus einer nüchternen Analyse von Fakten entstehen.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Ich neige nicht dazu, die Vergangenheit zu romantisieren. Die Vielfalt an traditionellen Medien war früher grösser. Doch die Tatsache, dass die Medien ihre Funktion als Gatekeeper verloren haben, führte zu einer faszinierenden Vielfalt von neuen Diensten, die sich schwer kategorisieren lassen. Ich empfinde es als Privileg, die Geburt des Internets miterlebt zu haben.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Die Schrift ist die einfachste und effizienteste Art, um Gedanken zu verbreiten und zu konservieren. Daran wird sich nichts ändern.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Texte, die der eigenen Meinung widersprechen. Leider neigen wir zum Gegenteil.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Sicher, das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
In grossen englischen Buchhandlungen in den bodennahen Regalen. Dort finden sich Bücher über Bühnenmagie, die Psychologie des Trinkgelds und die Geschichte der Flugzeugentführungen.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Solange es Leute gibt, die dafür bezahlen.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Die Tatsache, dass wir uns je länger, desto weniger darüber einig sind, was als etabliertes Wissen gilt, macht die Arbeit von Journalisten schwierig.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine Sendung live gehört oder gesehen habe.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Oh ja. Seit ich 1998 ein Jahr in den USA verbracht habe, gehören Podcasts zu meinem Alltag. Lieblingspodcasts? Viele. Natürlich «This American Life» und «Heavy Weight». Wenn es um Wissensvermittlung geht: «In Our Time» der BBC.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Das werden wir sehen. Ich bin schlecht in Prognosen, hätte ein Vermögen darauf verwettet, dass Trump niemals gewählt würde. Irgendwie wird sich die junge Generation durchwursteln, so wie wir uns durchgewurstelt haben.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Es gibt Leute, die ernsthaft glauben, eine künstliche Intelligenz sei nicht kreativ und könne nie einen Text mit Seele schreiben. Doch wenn es darum geht, aus alten Texten neue Texte zu produzieren, sind uns die Maschinen haushoch überlegen und hochkreativ. Das werden vor allem die Essayisten zu spüren bekommen. Was die Maschinen noch nicht können: Die neue Wasserleitung im Quartier selber in Augenschein nehmen.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Immer diese Entweder/Oder-Fragen. Die Welt ist komplizierter.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Ja.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Auf Reportage immer.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Trump hat zu mehr Polarisierung geführt. Das finde ich als politisch gemässigter Ratloser grundsätzlich schlecht.
Wem glaubst Du?
Die interessanteste Frage von allen. Wem vertrauen wir? Wen halten wir für kompetent? Und warum? Sie ist viel wichtiger als alle Argumente. Ich bilde mir ein, der wissenschaftlichen Methode zu vertrauen, aber andere, mit denen ich nicht einig bin, glauben das auch.
Dein letztes Wort?
Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu (Ödön von Horváth).
Reto U. Schneider
Reto U. Schneider (*1963) ist stellvertretender Redaktionsleiter von «NZZ Folio». Er schloss an der ETH Zürich als Elektroingenieur ab, absolvierte die Ringier-Journalistenschule und arbeitete für das Nachrichtenmagazin «Facts». Er verbrachte ein Jahr als Knight-Science-Journalism-Fellow am MIT in Boston und schrieb mehrere Bücher. Das jüngste «Die Kunst des klugen Streitgesprächs» (München: Kösel-Verlag 2023) dreht sich um die dubiose Herkunft unserer Meinungen.
https://www.retouschneider.ch/
Basel, 6. September 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Seit Ende 2018 sind über 240 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
Wenn Sie kein Fragebogeninterview verpassen möchten, abonnieren Sie einfach meinen Newsletter. Das kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen «Medienmenschen» sowie den aktuellen Wochenkommentar, einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman: www.matthiaszehnder.ch/abo/
4 Kommentare zu "Reto U. Schneider: «Wem vertrauen wir?»"
Gute Frage:
„Was soll man heute unbedingt lesen?“
Gute Antwort:
„Texte, die der eigenen Meinung widersprechen. Leider neigen wir zum Gegenteil.“
Um etwas zu lesen, das der eigenen Meinung widerspricht, sollte man erst einmal eine haben: Was mir selten wahrhaftig und wirklich der Fall scheint.
Ho ho, ein sehr guter Kommentar:
„Sollte man erst einmal eine haben, eine Meinung“.
Da geht es ja Schlag auf Schlag, wie bei Waldorf und Statler…
Doch ohne eigene Meinung schwimmt man wie die Fettaugen in der Suppe im Hoch – das zeigen die neusten Wahlumfragen für den 22. Oktober; „DieMitte/CVP“-Partei wird gewinnen:
Das passt doch zum Schweizer: Ein bisschen dies, ein bisschen das, ohne Rückgrat lebt es sich wendiger. Und immer schön der Sonnenseite nach. Da schimpft ein Gerhard Pfister über das schlimme Krankenkassen-System und die Erhöhungen – doch mit Ruth Humbel sass eine Drahtzieherin und Profiteurin der Upperclass in den KK-Vorständen. Und der Gatte von Andrea Gmür sitzt in der Chefetage einer der grössten KK’s….. Lohnschutz sei ihr wichtig, doch wenn die EU was anderes will, verschiebt EU-Turbine Elisabeth Schneider-Schneiter die Roten Linien je nach Wetterlage und den div. Verwaltungsrat-Gremien-Diktate…..
Fazit: Die Windfahne (ohne Meinung) zeigt immer in die richtige Richtung – und Erfolg ist garantiert.
In einem Gespräch mit Peter Eckermann meinte Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) am 16. Dezember 1828:
Man muß das Wahre immer wiederholen,
weil auch der Irrtum um uns her
immer wieder gepredigt wird,
und zwar nicht von einzelnen,
sondern von der Masse.
In Zeitungen und Encyklopädien,
auf Schulen und Universitäten,
überall ist der Irrtum obenauf,
und es ist ihm wohl und behaglich
im Gefühl der Majorität,
die auf seiner Seite ist.