Helene Obrist: «Trump ist der Verkehrsunfall, über den man berichten muss, weil alle hinschauen»

Publiziert am 11. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Das 176. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Helene Obrist, Leiterin des Reporter:innen-Ressorts bei «watson». Sie sagt, sie habe den Lockdown mit Podcasts überlebt und gibt gleich auch spannende Tipps zum Selberhören. Helene Obrist findet, die Medien seien in den letzten Jahren besser geworden. Und «nicht nur die Medien, sondern auch die Medienschaffenden sind zugänglicher geworden. Sie berichten über das eigene Scheitern, über psychische Probleme und Alltagssorgen.» Die Zeiten des «elitären Welterklärens durch Journalist:innen» seien vorbei. Aber die Medien hätten «viele junge Menschen irgendwo in den sozialen Medien verloren», «weil wir nicht ihre Sprache sprechen, nicht ihre Themen abdecken, nicht auf Augenhöhe mit ihnen sprechen.» Es mache deshalb auch «keinen Sinn, in den nächsten zehn Jahren Millionen Zeitungsauslieferungen zu subventionieren, wenn heranwachsende Generationen noch nie einen Blick in eine Print-Zeitung geworfen haben.» 

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Der «Tages-Anzeiger». Den haben schon meine Eltern beim Frühstück gelesen.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Facebook für die Nostalgie, Twitter für die News, Instagram für die Zerstreuung. 

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Den Lockdown überlebt, habe ich mit Podcasts. Seither bin ich nicht mehr davon weggekommen. 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Ich würde sagen schlechter. Wenn ich an meine Kindheit denke, gab es da nur die gedruckte Zeitung und die «Tagesschau». Die Zeitung wurde von alten weissen Männern geschrieben und die «Tagesschau» war sowieso langweilig. Heute sind die Medien bunter, diverser. Man kann sich die News per Insta-Story erzählen lassen oder stundenlangen Recherche-Podcasts lauschen. Und fast noch wichtiger: Nicht nur die Medien, sondern auch die Medienschaffenden sind zugänglicher geworden. Sie berichten über das eigene Scheitern, über psychische Probleme und Alltagssorgen – und thematisieren damit unverkrampfter die wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungen. Die Zeiten des elitären Welterklärens durch Journalist:innen sind vorbei. Und das ist gut so. 

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Auf jeden Fall. 

Was soll man heute unbedingt lesen?

Die erfrischend wütenden Texte von Katja Lewina, Juli Zeh und Virginie Despentes – und «watson», natürlich!

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Schlechte Bücher lese ich nicht fertig. Genauso wenig, wie ich langweilige Zeitungsartikel oder miese Netflix-Serien nicht zu Ende lese respektive schaue. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Auf Wikipedia. 

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Höchstens zehn Jahre. 

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News erinnern mich an die Köpfe des Ungeheuers Hydra, das Herkules besiegen musste. Hat man eine Falschnachricht als solche enttarnt, wachsen zwei nach. Das ist gefährlich. Es ist ein Kampf, den die Medien kaum gewinnen können. Aber Aufgeben ist keine Option. Wir müssen weitermachen; Hintergründe liefern, erklären und einordnen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Das einzige, was ich mir live im TV noch ansehe, sind grosse Sportanlässe. Alles andere schaue oder höre ich dann, wenn es mir am besten passt. 

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Wie verrückt. Zu jeder Alltagssituation höre ich den passenden Podcast. Beim morgendlichen Anziehen und Zähneputzen: «SRF Heute Morgen». Zum Aufräumen: «Nur Verheiratet mit Hazel & Thomas». Zum Putzen: «Wild Wild Web – der Pornhub-Effekt». Zum Kochen: «Apokalypse & Filterkaffee». Zum Spazieren: «Against the Odds». Für lange, lange Zugfahrten: «Alles gesagt?» der «Zeit». Und aktuell gerade: «Deso – der Rapper, der zum IS ging». 

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Die Frage ist doch eher, wie man «News-Depriviert» definiert. Ich glaube nicht, dass 55 Prozent wirklich News-depriviert sind. Ich denke eher, dass die Medien viele junge Menschen irgendwo in den sozialen Medien verloren haben. Weil wir nicht ihre Sprache sprechen, nicht ihre Themen abdecken, nicht auf Augenhöhe mit ihnen sprechen. Kriegen wir das hin, müssen wir irgendwann diesen schrecklichen Begriff auch nicht mehr gebrauchen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Bis zu einem gewissen Punkt. Sportberichterstattung, Polizeimeldungen, Preisverleihungen – also Ereignisse, die sich standardisieren lassen, werden wohl bald von Robotern geschrieben (oder sind es bereits). Aber Journalismus hat auch sehr viel mit Intuition und Einfühlungsvermögen zu tun. Und überall dort, wo das gebraucht wird, kann kein Roboter Journalist:innen ersetzen. 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Sterben lässt die Digitalisierung den Journalismus nicht. Ob sie ihn befreit, werden wir sehen. Momentan befinden wir uns wohl eher noch in einem Digitalisierungs-Irrgarten, in dem verschiedene Wege gewählt, der Ausgang aber noch nicht gefunden wurde. 

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Davon bin ich überzeugt. Aber sie muss zukunftsgerichtet sein. Es macht keinen Sinn, in den nächsten zehn Jahren Millionen Zeitungsauslieferungen zu subventionieren, wenn heranwachsende Generationen noch nie einen Blick in eine Print-Zeitung geworfen haben. Es braucht eine innovative, nicht diskriminierende Medienförderung. Eine, die nicht unterscheidet, welches Geschäftsmodell ein Medium gewählt hat und auf welchen Kanälen es präsent ist. Wichtig ist nur, ob es Wissen und Informationen anhand journalistischer Kriterien vermittelt. 

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Immer dann, wenn ich Geburtstagskarten schreibe. Es käme mir nie in den Sinn, nicht handgeschrieben zu gratulieren. Es gibt nichts Schöneres als eine handgeschriebene Botschaft von einem lieben Menschen. 

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Donald Trump war Fluch und Segen zugleich. Alle wollten Geschichten über den orangenen, tollpatschigen US-Präsidenten lesen. Trump kippt eine ganze Kiste Fischfutter in einen Koi-Karpfen-Teich? Trump trinkt seltsam aus einer Wasserflasche? Muss man gesehen haben! Die Medien würden lügen, würden sie behaupten, Trump hätte keine Klicks gebracht. Trump war Spektakel, die bunte Actionfigur unter den US-Präsidenten. Der Verkehrsunfall, über den man berichten muss, weil alle hinschauen. Aber am Ende bleibt ein riesiger Schaden zurück. Trump machte Fake News salonfähig. Er verwischte die Grenzen zwischen Tatsachen und Lügen. Und die Medien, die darüber berichteten, schadeten damit nicht nur sich selbst, sondern auch der Demokratie. 

Wem glaubst Du?

Dem Rat guter Freund:innen – und meiner Mutter. 

Dein letztes Wort?

Schauspielerbetreuungsflugbuchungsstatisterieleitungsgastspielorganisationsspezialist. 


Helene Obrist
Helene Obrist schloss 2015 ihr Bachelor-Studium in Kommunikationswissenschaft, Politik und Recht an der Universität Zürich ab. Nach einem Abstecher in die PR begann sie 2016 als Redakteurin bei «watson» und parallel dazu ein Master-Studium in New Media Journalism, das sie 2018 abschloss. Seit 2019 leite sie das Reporter:innen-Ressort bei «watson» und schreibt über die Themenbereiche Gesellschaft, Politik, Gender und Konsum.
https://twitter.com/heleneob_ 


Basel, 11. Mai 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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