Jean-Martin Büttner: «Schreiben ist getanztes Denken»
Das 175. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Jean-Martin Büttner, der nach 28 Jahren beim «Tages-Anzeiger» heute als freier Autor arbeitet. Büttner warnt vor der Verklärung der Vergangenheit: Früher habe Journalismus mehr gegolten, «aber er war oft belehrend und langweilig». Heute stehen wir «einem Heer von desinformierenden sogenannten Kommunikationsexperten gegenüber und verlieren uns in der Verblödung des Ereignis-Journalismus». Dass junge Menschen immer weniger journalistische Medien nutzt, bedeutet für Büttner, «dass eine Generation von Idioten heranwächst.» Der gedruckten Tageszeitung gibt er noch höchstens noch zehn Jahre, vermutlich eher «die Hälfte davon». Der Zukunft sieht er gelassen entgegen und sagt: «Jede neue Technologie ist Chance und Gefahr zugleich.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Zeitungen und Radio, allen voran der «Guardian» und Radio DRS.
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Facebook ignoriere ich weitgehend, Instagram nutze ich gar nicht, Twitter immer wieder.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Überhaupt nicht.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Ich bin seit 30 Jahren im Geschäft und warne vor Verklärungen. Früher galt Journalismus mehr, aber er war oft belehrend und langweilig. Ausserdem machten Inserenten viel mehr Druck als heute. Dafür stehen wir heute einem Heer von desinformierenden sogenannten Kommunikationsexperten gegenüber und verlieren uns in der Verblödung des Ereignis-Journalismus.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Selbstverständlich. Schreiben ist getanztes Denken.
Was soll man heute unbedingt lesen?
«Guardian», «Spiegel», «New York Times», «NZZ», «Economist», «TaZ», «WoZ», «Zeit», «Republik».
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Ich werfe sie weg; es gibt zu viele gute Alternativen.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
In der «New York Review of Books».
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Höchstens noch zehn Jahre, vermutlich die Hälfte davon.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Sie sind ein Desaster, weil selbst die Wahrheit unter dem Verdacht der Lüge verhandelt wird.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ziehe das Radio vor.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Kaum je. Ich lese lieber.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?
Dass eine Generation von Idioten heranwächst.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Nur wenn man die Auffassung von Pietro Supino über den Journalismus teilt.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Jede neue Technologie ist Chance und Gefahr zugleich. Das Radio brachte Informationen der BBC und die Propaganda von Josef Goebbels.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Unbedingt.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Nie. Darum kann ich meine Handschrift selber nicht mehr lesen
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Er war schon deshalb eine Katastrophe, weil er mit seinen Clownereien ihre Aufmerksamkeit in Geiselhaft nahm und sie daran hinderte, die wahren Probleme Amerikas anzugehen.
Wem glaubst Du?
Wenigen, denen aber völlig.
Dein letztes Wort?
Lest, denkt und schreibt (vier letzte Worte)
Jean-Martin Büttner
Jean-Martin Büttner, geboren 1959, zweisprachig aufgewachsen in Basel, Studium der Psychologie, Psychopathologie und Anglistik in Zürich, Dissertation über die Psychoanalyse des Rock‘n‘Roll. 28 Jahre lang beim «Tages-Anzeiger» in den Ressorts Kultur, Inland, Hintergrund und Analyse, Korrespondent in Genf und im Bundeshaus angestellt. Seit Februar 2021 als freier Autor unterwegs.
Basel, 4. Mai 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Dominic Büttner
Seit Ende 2018 sind über 170 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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5 Kommentare zu "Jean-Martin Büttner: «Schreiben ist getanztes Denken»"
Könnte es vielleicht sein, „dass eine Generation von Idioten heranwächst“, weil die Welt der Mehrheit, so wie sie ist, nur noch so auszuhalten ist?
„Dass eine Generation von Idioten heranwächst.“
Punkt. – Auf der Zunge zergehen lassen. – Pause.
……Was für ein despektierlicher, herablassender, entwürdigender, primitiver, perverser, frecher Satz an unsere nächste Altersgruppe. An die jungen, heranwachsenden Geschöpfe. An all die Eltern, welche diese Wesen liebevoll durch dick und dünn einer Jugend begleiteten. An die pädagogischen Kräfte in Nah und Fern, welche schwer ackern und tagtäglich ihr Bestes geben. An ehrenamtliche Jugendbegleiter von Pfadi bis Sportvereinsorganisationen. An die Zukunft, an die Nachfolgegeneration welche es versucht, besser zu machen.
Solche Aussagen machen die Medienschaffenden kaputt, machen die Medien kaputt UND machen schlussendlich unsere ganze Welt kaputt.
Pfui Deibel!
(P.S.: Aussagen kann man auch jederzeit zurücknehmen – zeugt übrigens von gewisser Grösse).
Oha, Herr Zweidler, plötzlich so woke unterwegs?
«Idiot» bedeutet (laut Duden): «jemandes Ärger oder Unverständnis hervorrufende törichte Person; Dummkopf». Finden Sie es nicht etwas übertrieben, jemanden, der sein Unverständnis und seinen Ärger darüber äussert, dass sich immer mehr Jugendliche nicht mehr über die Welt informieren, als «pervers» zu bezeichnen?
In den bisherigen 174 Fragenbogeninterviews zur Mediennutzung war nach meiner Meinung der Tenor der, dass – wenn auch nicht mit den alten Medien – Jugendliche auf ihre Art im Prinzip top up to date sind oder dies werden würden. Dass da einer kommt und sagt, dass „eine Generation von Idioten heranwächst“, war sozusagen ein Primeur (etwa so, wie wenn ich sage oder schreibe, dass die Mehrheit der real existierenden Medienleute, Politiker*innen, Wirt- und Wissenschaftler*innen Idioten wären) … und dann was Idiot betrifft noch dies: vor etwa 50 Jahren habe ich für das Schweizerische Idiotikon (Wörterbuch eigentümlichen Wortschatzes, der Volkssprache, Mundartwörterbuch) Interviews gemacht (es steht übrigens mit Band 17 vor dem Abschluss!?).
„Schreiben ist getanztes Denken.“ Dafür schätze ich die Texte von jmb, immer mal wieder.