Fredy Gsteiger: «Wer findet, früher war alles besser, betreibt Geschichtsklitterung»
Das 177. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Fredy Gsteiger, stellvertretender Chefredaktor von Radio SRF. Gsteiger sagt, die Medienvielfalt in der Schweiz habe gelitten. Und in manchen Medienangeboten, gerade auch neuen, liege «der Akzent heute zu stark auf der Kommentierung und zu wenig auf Recherchen und solider Berichterstattung.» Gegen Desinformation können Medien wenig machen: «Menschen, die leichtgläubig Fake News erliegen, sind auch durch Faktenchecks und Ähnliches kaum davon abzubringen». Er selbst lese «nicht irgendwas von irgendwem, sondern gezielt Texte von Autorinnen und Autoren, denen ich auf einem Themengebiet hohe Kompetenz zutraue und gerne von solchen, deren Schreibe mich stilistisch begeistert.» Zu Donald Trump sagt Gsteiger: Wer Journalismus «verachtet und verhöhnt, kann nicht gut sein für die Medien. Selbst wenn er mancherorts die Auflage- und Klickzahl befeuerte.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
«Heute Morgen» auf Radio SRF, NZZ, «Financial Times», «Le Monde», FAZ, «Süddeutsche», «Le Temps».
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Auf Facebook bin ich nicht, Instagram nutze ich selten und nur privat. Twitter beruflich und meistens gezielt dann, wenn ich selber über etwas berichte und mich interessiert, was bestimmte Personen dazu posten.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Viele Vor-Ort-Recherchen waren leider unmöglich. Ebenso Interviews von Angesicht zu Angesicht.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Wer findet, früher war alles besser, betreibt Geschichtsklitterung. Was aber gelitten hat, das ist die Medienvielfalt. Und in manchen Medienangeboten, gerade auch neuen, liegt der Akzent heute zu stark auf der Kommentierung und zu wenig auf Recherchen und solider Berichterstattung.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Auf jeden Fall. Denn Lesen macht Spass. Es ist zudem eine beispiellos effiziente Art der Informationsaufnahme. Man schafft sich rasch einen Überblick über das angebotene Menü – und taucht dann ein in das, was einen am meisten interessiert.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Bücher. Aber auch Wochen- und Monatszeitungen. Ich schätze etwa den «Economist» sehr, «Foreign Affairs», aus alter Verbundenheit natürlich «Die Zeit». Und generell auch mal Medien, die der eigenen Meinung klug widersprechen.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Früher war ich «pflichtbewusst». Heute kriegt jedes Buch die Chance… bis etwa Seite zwanzig. Wenn es mich bis dahin nicht überzeugt – inhaltlich oder stilistisch – lege ich es weg.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Am häufigsten immer noch in persönlichen Gesprächen und Diskussionen.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Noch lange, aber nur noch wenige. Vor allem Qualitätstitel. Es ist grossartig, in einem Café zu sitzen und in einer Zeitung zu blättern. Ich möchte das nicht missen.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Sie sind primär eine Gefahr und kaum eine Chance. Denn Menschen, die leichtgläubig Fake News erliegen, sind auch durch Faktenchecks und Ähnliches kaum davon abzubringen.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ich nutze natürlich Radio und Fernsehen, aber nurmehr selten live – ausser bei «Breaking-News»-Ereignissen und beim Sport.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Nicht zuletzt nutze ich unsere eigenen SRF-Sendungspodcasts, vor allem jenen des «Echo der Zeit», aber auch «Trend», «Samstagsrundschau». Ausserdem «Einfach Politik» oder «News Plus». Aber da bin ich natürlich als SRF-Journalist befangen.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?
Es bedeutet vor allem eine grosse Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ohne gut informierte Bürgerinnen und Bürger wird die Demokratie zur Fiktion. Wer hätte vor zehn Jahren auch nur erwogen, dass etwa die USA bald einmal keine Demokratie mehr sein könnten – heute ist das eine ernstzunehmende Möglichkeit.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Gewisse Standardangebote schon. Mich interessiert Roboterjournalismus nicht. Ich lese nicht irgendwas von irgendwem, sondern gezielt Texte von Autorinnen und Autoren, denen ich auf einem Themengebiet hohe Kompetenz zutraue und gerne von solchen, deren Schreibe mich stilistisch begeistert.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Weder noch. Sie ermöglicht hauptsächlich neue Medienformate, was natürlich den herkömmlichen Formaten zusetzt.
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
In einem äusserst kleinen und zudem noch wegen der Mehrsprachigkeit fragmentierten Markt wie der Schweiz lässt sich ein breites, qualitativ hochstehendes Medienangebot nicht ausschliesslich am Markt finanzieren. Deshalb braucht es öffentlich-rechtliche Medien und zumindest punktuell auch eine öffentliche Rückenstärkung für private Angebote.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ja, oft. Allerdings für andere fast unleserlich.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Einer, der Journalisten und Journalismus grundsätzlich verachtet und verhöhnt, kann nicht gut sein für die Medien. Selbst wenn er mancherorts die Auflage- und Klickzahl befeuerte.
Wem glaubst Du?
Jenen, mit deren Glaubwürdigkeit ich gute Erfahrungen gemacht habe.
Dein letztes Wort?
Der freie Journalismus steht weltweit unter Druck. Doch wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen und sollten selbstbewusst unsere Arbeit tun.
Fredy Gsteiger
Fredy Gsteiger (*1962) ist stellvertretender Chefredaktor von Radio SRF. Gsteiger hat in St.Gallen Wirtschaftswissenschaften und später in Lyon und Québec Politikwissenschaften studiert. Nach journalistischen Lehrjahren beim «Bund» und beim «St.Galler Tagblatt» war er Nahostredakteur und anschliessend Frankreichkorrespondent der «Zeit» und Chefredaktor der «Weltwoche». Seit 2002 arbeitet Fredy Gsteiger bei SRF.
https://www.srf.ch/
Basel, 18. Mai 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Seit Ende 2018 sind über 170 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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Ein Kommentar zu "Fredy Gsteiger: «Wer findet, früher war alles besser, betreibt Geschichtsklitterung»"
Ist es vielleicht so, dass früher weder alles besser noch alles schlechter war? So wie auch heute vieles gut und vieles schlecht ist … uńd es so oder so bleiben wird?