Hannes Grassegger: «Lesen ist Metaverse im Kopf»

Publiziert am 1. Juni 2022 von Matthias Zehnder

Das 179. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Hannes Grassegger, investigativer Reporter und Gründer von Polaris. Er glaubt, «dass für viele Menschen der Zugang zu News zu kompliziert ist» und dass «die Paywalls kompliziert und in der Masse zu teuer geworden sind». Er sieht deshalb «eine grosse ungedeckte Nachfrage nach Inhalten», und zwar vor allem in einer «Generation, die gewohnt ist, wie bei Spotify oder Netflix für eine Flatrate auf fast den gesamten Schatz an Musik oder Filmen zuzugreifen». Er arbeitet deshalb in seinem neusten Projekt «Polaris» an einem «Halbtax für News».  Im Kern, sagt Grassegger, geht es «um die Verbindung zwischen Menschen und die Verbindung des Menschen zum Inhalt». Deshalb betrachtet er auch «Chat-Apps, in denen man Gruppen bilden kann, als Newsquelle». In der Corona-Zeit hat er sich mit etwa 80 Experten in einer WhatsApp-Gruppe ein eigenes Informationsmedium gebaut. Grassegger ist überzeugt, dass guter Journalismus wie ein Leitstern den «Menschen hilft, sich im Leben zu orientieren».

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Unter der Woche: Wecker klingelt 6.40Uhr. 1. Mail auf, Refind Newsletter durchscrollen, da hab ich zwei Identitäten (Das liefert was mir persönlich wichtig ist). 2. Maximal zehn Minuten Twitter (Breaking News in meiner globalen Bubble checken); dann auf zum Bad mit BBC World News (Globale Übersicht einholen). Dann SRF4 (Was läuft in CH) um das Frühstück für alle vorzubereiten. Ich frühstücke nicht. Ich bereite Frühstück vor für meine Familie. Damit die Kinder nichts Schlimmes hören, gibts dann Radio Zürisee oder FIP. Der Morgen geht fliessend in den Tag über. Tagsüber mache ich eigentlich nichts anderes als Lesen und Schreiben, mit Menschen sprechen. Abends wenn alle schlafen und ich aufräume: Echo der Zeit als Podcast. Morgens am Wochenende: Das Magazin, Tages-Anzeiger Print. NZZ am Sonntag.  

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Kurz: Nein, Ja, Langweilig. Ich bin nicht süchtig.

Ich betrachte auch Chat-Apps, in denen man Gruppen bilden kann, als Newsquelle und Social Network. Daher hier kurz zu den anderen:

Slack für Tamedia und CredCo. Tiktok ist zu risky für mich auf dem Phone. WeChat hab ich auch deswegen 2015 de-installiert. Snap ist annoying, nie gemocht. Discord on-off Beziehung. Telegramm on-off Beziehung. Signal-Group-Chats sind schlecht. WIRE für alles mit «Polaris», unserem grossen Vorhaben. 

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Als ich merkte, dass wir in einer Ausnahmesituation waren, bei der fast kein Medium mich ausreichend informieren konnte, gründete ich eine Whatsapp Gruppe, zu der ich die Menschen aus aller Welt einlud, die ich in den letzten Jahren als besonders wach, skeptisch und informiert erlebt hatte. Wir hatten Mitglieder aus Senegal, Australien, Mexiko, Brüssel, Washington, Shanghai, Tripolis, usw. Ich versuchte, Leute aus verschiedenen Lebensbereichen, Lebensabschnitten, Fachrichtungen zusammenzubekommen. Wir wurden ein Team von Spezialisten mit ganz verschiedenen Fähigkeiten, das gemeinsam aufbrach, um die neue Welt zu erkunden. Wie ein Aufklärungstrupp bei einer Marslandung. Unser erklärtes Ziel: die beste Informationsquelle für Covid Informationen zu werden. Wir waren etwa 80 Leute, die zusammentrugen, was besonders aufgefallen war. Zum Teil verfassten die Mitglieder eigene Beiträge. Eine Handvoll Mitglieder kamen aus der Anti-Disinfo Bewegung, wie Citizenlab oder EU vs Disinfo. Niemand war Journalist. 

Damit der Chat funktioniert, verfasste ich drei grundsätzliche Regeln für den Chat, und eine Art Framing, das ich immer kommunizierte, wenn ich die Mitglieder einlud. Wer mitmachen wollte, musste mir vorab per whatsapp zu sichern sich daran zu halten. Hier die Regeln: 

«Das ist ein privater Chat mit Politikern, Medizinern, Neuro-Wissenschaftlern, Drogenabhängigen, Künstlern, Bankern, Plattform-Mitarbeitern usw. 1) Das ist ein geheime Konversation. Wenn Du etwas teilen/veröffentlichen willst, frag die Quelle. 2) Nur das Faszinierendste posten, und zwar IMMER mit Quelle. Fühl Dich nicht verpflichtet etwas zu posten. Wir müssen das hier sauber halten. 3) Fühl Dich frei die Gruppe jederzeit zu verlassen – oder uns gute neue Mitglieder vorzuschlagen.»

Das funktionierte sehr gut. Es war ein iterativer Wahrheitsfindungsprozess, in dem es zwar die Wahrheit, aber nie nur eine Perspektive darauf gab. Wie das Facettenauge eines Insektes. Wir waren streckenweise der NYT voraus. Vor allem die ersten sechs Monate der Lockdown-Periode sass ich oft auf der Veranda, moderierte den Chat oder las News, die daraus kamen. Ich hatte mir mein eigenes Medium zusammengebaut. 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Ich denke an die Zukunft, ich will, dass die Zukunft besser wird. Ich glaube, dass für viele Menschen der Zugang zu News zu kompliziert ist. Ich vermute es gibt eine grosse ungedeckte Nachfrage nach Inhalten, die die Leute nicht öffnen, weil die Paywalls kompliziert und in der Masse zu teuer geworden sind. Vor allem für eine Generation, die gewohnt ist, wie bei Spotify oder Netflix für eine Flatrate auf fast den gesamten Schatz an Musik oder Filmen zuzugreifen. Das ist auch eine Generation die zu schlau ist, um allein einem Medium zu vertrauen, wie das ihre Vorfahren taten. 

Wie können wir also den Zugang bringen zu diesen Inhalten, ohne die erzielten Erfolge im Abobereich zunichte zu machen? Daher arbeiten wir bei «Polaris» an einem «Halbtax für News». Als Konsument könnte ich verbilligt zugreifen auf Titel, die ich nicht abonniere. So könnte künftig staatliche Medienförderung Anbietern wie Konsumenten helfen. Und zwar inhaltsneutral, indem man einfach bezuschusst, was die Leute wirklich von sich aus anschauen wollen. Sowas geht im Digitalen.  

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Lesen ist Metaverse im Kopf. 

Was soll man heute unbedingt lesen?

Elizabeth Eisenstein.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Weg. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Von Menschen. Ich lerne am Meisten von Menschen, die anders denken und leben als ich. 

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Keine Ahnung. Lustig ist ja, dass manche Onlinemedien beginnen, Druckwerke herzustellen. Oder Jutetaschen. Oder Aufkleber. Sie machen das, um Bindung herzustellen. Nicht zu Unrecht sagen wir ja im Deutschen: «begreifen». So funktionieren physische Objekte besser als «Medium» – als etwas das zwischen Menschen Inhalte vermittelt. Es geht im Kern nicht um das Papier, sondern um die Verbindung zwischen Menschen und die Verbindung des Menschen zum Inhalt. Es gibt eine Reihe von Features, die Digitale Medien noch nicht haben, daher gibt es noch Papier. Sobald man es schafft, diese Papiervorteile wirklich aufzuwiegen, dann gewinnt das Digitale. Besonders spannend ist diese Frage bei Magazinen, und das interessiert mich an meinem geliebten Magazin bei dem ich arbeite. Und auch beim Magazin «Reportagen», bei dem ich fast von Anfang dabei sein durfte. 

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ich definiere diesen Begriff jetzt mal als «Disinformation» – also Informationen, die als Nachrichten verkleidet sind, aber in Wahrheit nicht erstellt wurden um faktengetreu zu informieren, sondern mit anderen Hinterabsichten – um Geld zu verdienen, oder politische Ziele zu erreichen. Einfache Falschmeldungen, bei denen versehentlich etwas schiefgeht nennt man «Misinformation». Weil Intention wichtig ist, ist das fundamental etwas anderes. 

Bei Fake News kommt es auf die Menge an. Fake News an sich gab es immer. Fake News in grossen Mengen sind gefährlich, weil sie auf Dauer unseren Referenzrahmen zerstören. Alles wird egal: «Nothing is real and everything is possible» wie Peter Pomerantsev es in seinem Buch über Putins russischen Fake News Apparat beschrieben hat. Der resultierende Nihilismus ist zersetzend für Demokratien, wie das Martin Gurri beschreibt. Die Menschen können nicht mehr einordnen, ob etwas überhaupt etwas bedeutet, wie das Yuri Bezmenov hier schön erklärt. Im Netz wurde es einfach und günstig uns mit Fake News zu fluten. Das ist die Gefahr. 

Eigentlich wäre allein das Wissen um die Existenz von Fake News eine Riesenchance für faktengetreuen Journalismus: hey Leute, wir haben saubere Ware. Das Problem aber ist: wie können Menschen angesichts der Informationsflut im Netz einfach und schnell wissen, was zumindest handwerklich korrekt erstellt wurde? 

Unter anderem daher heisst unser Projekt «Polaris». Guter Journalismus ist im Unterschied zu Fake News ein Nordstern, der Menschen hilft, sich im Leben zu orientieren. Wir wollen einen digitalen Ort aufbauen, der frei ist von Disinformation, aber alle echten Schweizer Newsmedien ausliefert. 

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Gar nicht.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja. «Lawfare», dort gibt es eine Spezialserie zu Disinformation und Social Media. 

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Es ist ein Riesenpotenzial. Es zeigt, dass die Medien den Menschen Wege zu den Inhalten bahnen müssen. Es zeigt, dass das bisher noch nicht klappt, und dass Twitter & Co nicht ausreicht. 

Wir wollen mit «Polaris» den Schweizer Medien helfen, dieses Potenzial zu heben. Wenn wir das nicht schaffen, ist unsere Demokratie in Gefahr. Die gemeinschaftliche Gesellschaftskoordination benötigt ein Informationssystem, das alle erreichen kann und souverän operiert. Wir können uns nicht einfach abhängig machen von Sozialen Netzwerken die letztlich kontrolliert werden von Typen wie Zuckerberg und Elon Musk, oder der chinesischen Regierung. Am schlimmsten wäre, falls dieses ungehobene Aufmerksamkeitspotenzial bösartig gehijacked wird. 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Dann lesen das vielleicht auch Roboter? 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Beides gleichzeitig. 

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Wir brauchen Förderung für digitale Infrastruktur, die die Informationsversorgung der Bevölkerung sicherstellt. 

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich spreche zunehmend Textstellen ein. Airpods verändern nicht nur, welche Medien wir konsumieren, sondern auch wie wir sie erstellen. 

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Waren die Medien gut oder schlecht für Trump? 

Wem glaubst Du?

Glauben ist das Gegenteil von Journalismus.

Ich bin Journalist, weil meine Eltern sich immer, ständig und laufend über alles gestritten haben. Ich bin mit zwei Wahrheiten aufgewachsen, die sich nicht miteinander vertrugen, deswegen entwickelte ich einen sehr starken Zweifel. Zweifel ist eine Kraft, und von ihr lebt der Journalismus. Zweifel lässt die Menschen weitersehen, hören, schauen. Zweifel ist der wahre Unglaube, hat Salman Rushdie mal geschrieben.  

Dein letztes Wort?

Newsletter bei Polarisnews.ch abonnieren. 


Hannes Grassegger
Hannes Grassegger ist investigativer Reporter und arbeitet seit über einer Dekade zu Technologie-Themen. Seine Texte erscheinen unter anderem in «The Guardian», «Die Zeit», «Propublica» und NZZ. Als Mitglied des Reporter-Teams von «Das Magazin» war  Grassegger federführend bei der Aufdeckung des Cambridge Analytica-Falls und der anschliessenden Diskussion um Microtargeting. 2020 wurde der in Zürich studierte Ökonom vom World Economic Forum zum Mitglied des Global Future Council for Media Sports and Entertainment berufen. 2019 legte er mit seinem Appell «Ein GA für News» den Grundstein für sein neues Projekt «Polaris».
https://polarisnews.ch/ 


Basel, 31. Mai 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: Goran Basic

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2 Kommentare zu "Hannes Grassegger: «Lesen ist Metaverse im Kopf»"

    1. Antwort:
      Kurzer aber treffender Kommentar von U. Keller auf den Punkt gebracht. Ein Plus auch für «Puls einer wohlstandsverwahrlosten Gesellschaft».
      Aus den Antwortzeilen dieses Fragebogen-Interviews lese ich auch die allgegenwärtige «kollektive Verantwortungslosigkeit» sowie «Nebenschauplätze» um die sich in unserer Gesellschaft heut alles dreht (anstelle sich mit dem Echten, Wahren und Existenziellen zu befassen).
      Wie kann man nur in einen Tag starten – und klarer Journalismus aufs Blatt bringen – wenn das Aufwachen mit «1. Mail auf, Refind Newsletter durchscrollen», «Twitter (Breaking News in meiner globalen Bubble checken)», «BBC World News (Globale Übersicht einholen)», «SRF4», «Radio Zürisee» oder «FIP» sowie «Echo der Zeit als Podcast», «Das Magazin», «Tages-Anzeiger Print» und «NZZ am Sonntag» stattfindet?
      Dies alles – und noch mehr…. : Zuviel der Info-«Zuvielisation».
      Wie klar, sachlich und präzise doch dagegen ein wunderbareres Hör-Interview mit Dominik Heitz, dem Basler Journalisten-Urgestein, welcher letzte Woche nach einem ganzen langen Zeitungsleben in Pension ging, klingt.
      https://primenews.ch/articles/2022/05/baz-urgestein-dominik-heitz-im-grossen-interview
      Über Basel, den Journalistenberuf, die Basler Zeitung unter Patron Hagemann bis Tamedia (welcher Wandel, er erlebte es alles) und und und von diesem älteren, reifen Journalisten mit langer Berufserfahrung, dem man noch Stunden zuhören hätte können….
      Ausgefragt (leider) von einem jungen Journalisten, welcher aus dem Gast noch viel mehr rausholen hätte können; wenn, ja wenn heute nicht alles so schnell und hastig und schnoddrig abliefe – wobei wir eben wieder beim Grundthemenproblem wären….= siehe oben….

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