Claire Micallef: «Die Redaktionen in der Schweiz sind noch sehr weiss und sehr männlich»

Publiziert am 25. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Das 178. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Claire Micallef, Co-Programmleiterin von Radio X. Sie sagt, Diversität auf den Redaktionen sei «unglaublich wertvoll für Diskussionen im Team und für Communitys, damit auch ihre Themen in den Medien besprochen werden.» Obwohl sie eine Radiofrau ist, liebst sie gedruckte Zeitungen. Zum Beispiel, um «mich während des Flugs darin zu vertiefen». Ob die Jugend heute wirklich news-depriviert ist, wagt sie, zu bezweifeln: «Waren wir früher wirklich besser?» So oder stünden die Medien «in der Pflicht, mit jungen Menschen zusammen zu arbeiten und zielgruppengerechte Formate zu entwickeln.» Wichtig sei dabei, «agil zu bleiben und auf keinen Fall cringy zu werden». In der Digitalisierung sieht sie eine Chance, solche neuen Erzählformen zu finden. «Eine Herausforderung bleibt hier allerdings die Finanzierung.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Frühstück gibt’s bei mir nicht, aber «bz» und «Guardian» zum ersten und zweiten Kaffee, Social-Media-Check beim Zähneputzen (ich rede mir ein, ich könne multitasken) und auf dem Weg zur Arbeit «SRF Regionaljournal». 

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Facebook für Geburtstage. Twitter für News, Inputs und Recherche. Instagram als Spielwiese und Inspiration. Gerade bei Instagram stosse ich durch mein Netzwerk immer wieder auf Inputs für neue Geschichten. 

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Im Konsum nicht besonders. Im Job, als wir unsere Interviews per Zoom und nicht persönlich führen konnten. Da geht einfach etwas verloren. 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Ich fühle mich etwas zu jung, um hier ein definitives Urteil zu fällen. Aber was heute bestimmt besser ist: Die Redaktionen sind diverser, was sich auch in der Themenwahl und Berichterstattung widerspiegelt. Diese Diversität ist unglaublich wertvoll für Diskussionen im Team und für Communitys, damit auch ihre Themen in den Medien besprochen werden. Trotzdem, schauen wir uns die Redaktionen in der Schweiz an, sind diese noch sehr weiss und männlich. Hier gibt es noch viel zu tun. 

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Absolut. 

Was soll man heute unbedingt lesen?

Sollen ist ein grosses Wort, ich lege aber allen die «Republik» ans Herz. Für amüsante Kolumnen empfehle ich jene von Bella Mackie, als Buch gehört «Die Erschöpfung der Frauen» von Franziska Schutzbach auf jeden Nachttisch. Und jetzt bin ich doch etwas ins Müssen abgerutscht.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Wenn mir ein Buch nicht gefällt, lege ich es weg. Es gibt viel zu viele gute Bücher, die ich noch oder nochmals lesen will. Da habe ich keine Geduld, mich durch ein schlechtes Buch durchzukauen. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Wenn ich über ein Thema recherchiere, über das ich zuvor nicht gross Bescheid gewusst habe. In Interviews, wenn meine Gesprächspartner:innen mir ihre Welt zeigen. Bei Freund:innen und ihren Bekannten, die von ihrer Leidenschaft schwärmen oder einfach aus ihrem Leben erzählen. Und nicht zu vergessen, wenn ich mich aus meiner Comfort-Zone bewege. Habe im Herbst mal Schwertkampf ausprobiert. Neue Welt, aber faszinierend. 

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich war schon immer eine Null im Schätzen. Noch etwa zehn Jahre, hoffentlich aber länger. Ich liebe es, am Flughafen eine Zeitung zu kaufen und mich während des Flugs darin zu vertiefen. 

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ganz klar eine Gefahr, da sie in gewissen Kreisen das Vertrauen in Qualitätsjournalismus untergraben. Umso wichtiger, dass wir hier Gegensteuer bieten. 

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Ich lerne gerade Auto fahren (mit 30 – tut euch das nie an) und da muss das Radio laufen. Ist vielleicht nicht vorteilhaft für meinen Fahrstil, das wird sich noch zeigen. Aber auch sonst läuft bei mir noch sehr oft lineares Radio im Hintergrund, ich mag diesen Vibe einfach. Spezifische Sendungen höre ich meist on demand, aber auch hier schalte ich gerne mal linear ein – besonders, wenn ich die Menschen im Radio kenne. Fernsehen dagegen nie linear. 

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Bei Podcasts ist’s bei mir wie bei Serien: Wenn ich wieder einen neuen entdeckt habe, dann binge ich ihn durch. Und nerve alle in meinem Umfeld, dass sie ihn auch hören sollen. Aktuell gerade «Exactly» von Florence Given. Dann – klischeemässig – Serienkiller-Podcasts zur Entspannung. Daneben die üblichen Verdächtigen: «Editor’s Picks» vom «Economist» oder «News Plus» von SRF.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Dieser Zahl stehe ich kritisch gegenüber. Wir dürfen nicht vergessen: Die Jugend heute ist stark politisiert und vernetzt. Und waren wir früher wirklich besser? Was es aber für uns bedeutet: Medien stehen in der Pflicht, mit jungen Menschen zusammen zu arbeiten und zielgruppengerechte Storytelling-Formate zu entwickeln und/oder weiter auszubauen. Gerade auf Instagram gibt es bereits einige gute Beispiele und immer mehr Medien entdecken TikTok für sich. Wichtig dabei ist, agil zu bleiben und auf keinen Fall cringy zu werden. 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Gewisse Bereiche wie Sport oder Abstimmungsresultate lassen sich auf jeden Fall automatisieren. Dies wird ja bereits gemacht und ist durchaus eine Chance. Aber sobald es um tiefgründige Recherchen geht, wenn Emotionen eingeholt und vermittelt werden sollen, wenn Interviews Fingerspitzengefühl verlangen, sind gut ausgebildete Journalist:innen unentbehrlich. 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Befreiung ist meiner Meinung nach der falsche Begriff. Die Digitalisierung ist vielmehr eine Chance, die wir nutzen sollen, um uns auszutoben und neue Erzählformen zu finden. Eine Herausforderung bleibt hier allerdings die Finanzierung.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Zur Sicherung der Medienvielfalt, definitiv. Dabei ist es wichtig, dass auch in die journalistische Ausbildung investiert wird.  

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich mache oft Mindmaps, wenn ich komplexe Themen für mich herunterbrechen will. Dann habe ich immer noch eine Agenda, in die ich Termine aber auch Ideen und Projektskizzen schreibe. Das reinste Chaos, manchmal kann sogar ich meine Schrift nicht mehr lesen. 

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Klicks mal beiseite, in welcher Welt kann Trump gut für die Medien (gewesen) sein? Mit seinen Tiraden gegen Medien und der Verbreitung/Unterstellung von Fake News hat er enorm Misstrauen gegenüber Medien und Journalist:innen geschürt. 

Wem glaubst Du?

Wer gewissenhaft und transparent arbeitet und Quellen offenlegt. Für Privates: guten Freund:innen. 

Dein letztes Wort?

Neugierig bleiben und nicht im Zynismus versinken. 


Claire Micallef
Ihr Feuer für den Journalismus entdeckte Claire Micallef 2011 beim St. Galler Tagblatt. Nach Abstecher an die Universität Basel (Englisch und Medienwissenschaften) und bei der «bz Basel» stiess sie 2015 zu Radio X und absolvierte 2018 die Diplomausbildung Journalismus am MAZ. Als Co-Programmleiterin von Radio X liegt ihr Schwerpunkt heute auf Politik und Gesellschaft und auf der Ausbildung junger Journalist:innen.
www.clairemicallef.com 


Basel, 25. Mai 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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2 Kommentare zu "Claire Micallef: «Die Redaktionen in der Schweiz sind noch sehr weiss und sehr männlich»"

  1. Aufgefallen:
    „Die Redaktionen in der Schweiz sind noch sehr weiss und männlich. Hier gibt es noch viel zu tun.“
    ….Heisst das, man sollte nach Geschlecht und Hautfarbe Angestellte anstellen und die Qualifikationen sind irrelevant? Ich empfinde dies sehr in den kantonalen Verwaltungen von Basel-Stadt. Ich empfinde bei Publikumsverkehr sehr oft unwissende Gegenüber. Und: Wir leben nun mal in einem „Weiss“-stämmigen Land – und leider sind auch etwa die Hälfte davon männlich….
    Buchtipp: Franziska Schutzbach rief im Mai 2016 mit der radikalen Forderung zum «Sofortiger parlamentarischer Ungehorsam» auf, zum zivilem Ungehorsam gegen rechtsnationale Kräfte anstelle der bisherigen Dialogbereitschaft – also den Ratssaal zu verlassen bei Reden der SVP oder keine öffentlichen Inserate mehr in der rechtsgerichteten ‹Weltwoche› zu schalten.
    Und das bewilligte Ständeli der demokratisch gewählten SVP letzten Samstag im Gundeli stürmen und Politiker (und Bundesrat) „aus der Stadt jagen“ unterstützt sie wohl auch. Tenor in linken Kreisen: SVP-Ständeli ist Provokation (SP-Stand ist dagegen OK), Chaoten-Demo ist Versammlungsfreiheit = Mehr Doppelmoral geht nicht.
    Zudem fiel Schutzbach immer mit Aufrufen gegen öffentlichen Arbeitgeber auf, von dem sie jedoch seit Jahren Gehalt und Bonis kassiert.
    Nicht mein Buchgeschmack.
    Und zur l i n k s – g r ü n e n Gesinnung von Frau Micaleff noch dies:
    „Ich liebe es, am Flughafen eine Zeitung zu kaufen und mich während des Flugs darin zu vertiefen.“ und „ich lerne gerade Auto-fahren (da muss Radio laufen….)“
    Wenigstens konsequente Doppelmoral bis zum Schluss.

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