Benedikt Meyer: «Was mich persönlich umtreibt, sind Fake Olds.»
Das 301. Fragebogeninterview, heute mit Benedikt Meyer, Historiker und Kabarettist. Er sagt, das geschriebene Wort sterbe noch lange nicht aus: «Wir haben eine Alphabetisierungsquote von nahe 100 %, tragen permanent Tastaturen im Hosensack, sind von Texten dauernd umgeben.» Meyer meint dabei durchaus Texte auf Papier: «Wo wird Digitales denn 500 Jahre lang gespeichert? In welchem Format? Und wie lässt es sich im Jahr 2525 noch abrufen?» Dem Digitalen ist er dennoch nicht abgeneigt und sagt, das «Rabbit-Hole» habe seinen schlechten Ruf «wenigstens teilweise zu Unrecht»: «Ich kann im einen Moment ein Rezept für ein grünes Linsen-Curry googeln und drei Stunden später erfahre ich, mittels welcher graphologischer Techniken man herausgefunden hat, dass Montaigne Linkshänder war». Mehr als Fake News beschäftigen ihn als Historiker Fake Olds: «Bis vor Kurzem galt: alt = glaubwürdig. Schwarzweiss-Fotos waren echt (oder vielleicht à l’ancienne retouchiert).» Heute sei das nicht mehr sicher. Auch alte Landkarten, Kupferstiche, Handschriften und Urkunden würden sich leicht fabrizieren lassen. «Angesichts dessen, dass die meisten Konflikte historisch begründet bzw. mittels historischer Narrative geschürt werden, sollten wir uns dringend überlegen, wie wir uns gegen die Möglichkeiten von alternativen Quellen und Fake Olds wappnen.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Diverse News-Apps, cleveres Infotainment à la Bill Maher sowie immer wieder das zuverlässig-erdige Regionaljournal.
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, Twitter/X, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Ich mag das geschriebene Wort, lese und publiziere auch mal längere Texte. Darum mag ich Facebook und LinkedIn. Auf beiden begegnen mir auch interessante Inhalte. Auf Instagram dilettiere ich, Twitter habe ich gelöscht.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Relativ wenig.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Beim Wort «früher» lupfts dem Historiker die rechte Augenbraue, bei «alles» die linke. Ich bin kein Fan des heutigen Einheitsbreis – andererseits hatte die Fraktur jetzt aber auch nicht nur Vorteile.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Was für eine anachronistische Frage! Wir haben eine Alphabetisierungsquote von nahe 100%, tragen permanent Tastaturen im Hosensack, sind von Texten dauernd umgeben. Das geschriebene Wort stirbt noch lange nicht aus. (Falls «geschriebene Worten» als «Worte auf Papier» zu verstehen sind, ist mein Ja übrigens noch klarer. Wo wird Digitales denn 500 Jahre lang gespeichert? In welchem Format? Und wie lässt es sich im Jahr 2525 noch abrufen?)
Was soll man heute unbedingt lesen?
Quellen! Originale sind manchmal sperrig, aber sie haben eine ungeheure Dringlichkeit und einen absolut unwiderstehlichen Zauber. Kürzlich habe ich Henri Dunants «Erinnerung an Solferino» gelesen, gewissermassen das Gründungsdokument des IKRK – und ein atemberaubender Text!
Lesen Sie doch endlich mal Iris von Rothens «Frauen im Laufgitter»! Lesen Sie «Onkel Toms Hütte», «Silent Spring», die Bundesarchiv-Laufmeter 29’587 bis 29’604, lesen Sie die Ulrich Bräker, die Tagebücher Ihrer Grossmutter sowie (falls verfügbar): ihre Einkaufszettel. Und wer einen Bundeshaus-Badge will, sollte meiner Meinung nach zwingend die Menschenrechtserklärung von 1789 sowie die letzten drei IPCC-Berichte im Original intus haben. Gewisse Mindeststandards sollte man als direkte Demokratie einfach nicht unterschreiten …
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Ich wünschte, ich würde alle Guten fertig kriegen …
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Durch Ablenkung! Ich kann im einen Moment ein Rezept für ein grünes Linsen-Curry googeln und drei Stunden später erfahre ich, mittels welcher graphologischer Techniken man herausgefunden hat, dass Montaigne Linkshänder war (erfundenes Beispiel)! Das Rabbit-Hole hat seinen schlechten Ruf wenigstens teilweise zu Unrecht.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Ich bin mit Druckerei-Maschinen aufgewachsen. Nur schon aus romantischer Betroffenheit hoffe ich: noch lange.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Natürlich eine Gefahr, aber immerhin eine, die viele erkannt haben. Was mich persönlich viel mehr umtreibt, sind Fake Olds. Denn bis vor Kurzem galt: alt = glaubwürdig. Schwarzweiss-Fotos waren echt (oder vielleicht à l’ancienne retouchiert). Heute ist das nicht mehr sicher. Auch alte Landkarten, Kupferstiche, Handschriften, Urkunden: heute oder allerspätestens morgen lässt sich das leicht fabrizieren. Bemühen Sie doch bitte kurz Ihre Fantasie, was das bedeutet! Man nehme einen schwelenden Konflikt, etwas Talent und Budget und schon kriegt man die wütenden Leute von TikTok, Twitter und Instagram dazu, die Fackeln und Mistgabeln tatsächlich zur Hand zu nehmen.
Angesichts dessen, dass die meisten Konflikte historisch begründet bzw. mittels historischer Narrative geschürt werden, sollten wir uns dringend überlegen, wie wir uns gegen die Möglichkeiten von alternativen Quellen und Fake Olds wappnen.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Meine Frau besitzt zwei liebevoll restaurierte Oldtimer-Radios, einen TV haben wir nicht, das Lauberhornrennen streamen wir am Laptop.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Es gibt so viele Perlen! Das Team von «SRF Zeitblende» leistet tolle Arbeit. Aber auch weniger bekannte Geschichtspodcasts wie «Überall Geschichte», «Damals» oder «Epochentrotter» wissen zu überzeugen. Auch «Radiolab» hat immer wieder gut erzählte Geschichten. Und in Deutschland macht Keshrau Behroz grossartige Serien, wie «Wer hat Angst vor dem Drachenlord?» oder «WTF happened to Ken Jebsen?».
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Solange ich keine längere Datenreihe habe, kann ich das nicht wirklich einordnen.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Natürlich lässt sich manches automatisieren. Aber das grösste Potential sehe ich im Korrektorat. Fehler passieren – wenn’s eilt sowieso. Was mich aber verwundert ist, dass sie oft stundenlang online bleiben. Warum nicht die eigene Website regelmässig von einer KI scannen lassen, welche die gröbsten Schnitzer erkennt?
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
War denn prä-digitaler Journalismus unfrei?
Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Förderfragen sind keine Ja-Nein-, sondern Wie-Fragen – ganz egal, ob’s um Subventionen für die Landwirtschaft, Zölle oder Klein-Sonjas Schulprobleme mit ADHS geht. Ich bin grundsätzlich für eine Medienförderung, aber ich würde es begrüssen, wenn sie vernünftig gemacht wäre und nicht nur einfach den Verlegern noch etwas mehr Rendite zuspielt. Wie man das hinkriegt? Noch dazu mit einem BR Rösti und einem nicht gerade Lobbying resistenten Parlament? Das wüsste ich auch gerne …
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Selbstverständlich.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Trump ist pures Crystal Meth. Er gibt den Medien Kicks, das hat sie süchtig gemacht. Aber auch innerlich leerer und äusserlich heruntergekommener …
Wem glaubst Du?
Kindern & Narren.
Dein letztes Wort?
Le vent nous portera.
Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Kabarettist. Er hat zur Swissair promoviert, dann den Roman «Nach Ohio» geschrieben und schliesslich das «Historische Kabarett» erfunden. Auf Kleinkunstbühnen von Lavin bis Le Locle präsentiert er Kurioses von vorgestern, wofür er mit dem Walter Pfister Humorpreis 2024 ausgezeichnet wird. Nebenberuflich war Meyer unter anderem Wissenschaftsjournalist, Literaturveranstalter und Erfinder einer Basler Stadtführung mit kleinem Schönheitsfehler (sie findet in Bern statt). NZZ Geschichte sagt, er sei ein Menschenfresser (aber meistens ist er ganz nett).
www.benediktmeyer.ch
Basel, 02.10.2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Seit Ende 2018 sind über 290 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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2 Kommentare zu "Benedikt Meyer: «Was mich persönlich umtreibt, sind Fake Olds.»"
Zwei Fragen treiben mich beim beim Lesen dieses Fragebogen um:
1.) Die Antwort: „Noch dazu mit einem BR Rösti “ wirft bei mir Fragen auf: Gibt es denn auch noch einen „anderen“ BR Rösti neben dem „einen“?
Zudem: Albert Rösti war im Bundesrat-Beliebtheitsranking im März neben Bundesrat Jans jener der beliebtesten. Jetzt im Oktober ist Rösti zum Allerbeliebtesten aufgestiegen. Sagt viel über seine richtige und wichtige Arbeit.
2.) Wie weit kann man den Begriff Medienmenschen fassen. So sehr weit wie bei Benedikt Meyer? Weiter? Enger?
Bin ich als Vereinsmagazinverantwortlicher des Hasenzüchtervereines zur oberen Fluh demnach auch (schon) ein Medienmensch?….
Fragen über Fragen….
Der Mensch ist im Grunde gut und was als Wahrheit gilt, ist wahr: beides ist rar.