Salome Müller: «Sobald ich mir vorstelle, über etwas zu schreiben, interessiert es mich»

Publiziert am 9. Oktober 2024 von Matthias Zehnder

Das 302. Fragebogeninterview, heute mit Salome Müller, Redaktorin im Schweizer Büro der «Zeit». Sie sagt, dass «junge Leute ihre Lebenswirklichkeit in den Medien nicht abgebildet finden». Es wäre wichtig, dass Eltern, Tanten, Onkel, Lehrer:innen jungen Menschen die Bedeutung von seriösen Medien vermitteln: «Artikel hinlegen/weiterleiten, zusammen über das Weltgeschehen reden, nach dem Taylor-Swift-Konzert die Rezensionen besprechen. Im besten Fall erfahren junge Leute so, dass sie Teil einer grossen Welt sind und nicht für immer im Social-Media-Spiegelkabinett bleiben müssen.» Für die jungen Menschen «wäre es entlastend, glaube ich, sich dadurch selbst etwas zu relativieren». Sie selbst findet eigentlich alles interessant, wenn sie sich vorstellt, darüber etwas zu schreiben. «Manchmal mache ich mir das im privaten Leben zunutze: Bin ich an einen privaten Termin eingeladen, auf den ich keine Lust habe, stelle ich mir vor, ich würde als Journalistin hingehen. Dann finde ich plötzlich fast alles interessant.» Weil es dann nicht mehr um sie gehe, «sondern um die Umgebung, in der ich mich befinde.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Unter der Woche: «Tagi», NZZ, das «Echo der Zeit» vom Vorabend, «Zeit Online». Donnerstags: «Die Zeit». Am Wochenende: «SZ Magazin», «NZZ am Sonntag».

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, Twitter/X, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Facebook erinnert mich an Geburtstage. Auf X habe ich den Rücktritt angetreten und auf LinkedIn die Ankunft noch nicht geschafft. Auf Insta streune ich.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Ich lese seither doppelt: Zum einen Texte und ihren Inhalt. Zum anderen Texte und ihre Machart. Parallel zum Lesen versuche ich zu ergründen: Warum funktioniert der Einstieg (nicht)? Wie wird die Fährte gelegt, damit man weiterlesen will? Wie kam es zu diesem tollen Zitat? Wie sind Pointen platziert? Was hallt nach? Anders gesagt: Werk und Autor:in sind für mich nicht mehr zu trennen.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Die Geschichten von früher sind zumindest besser als die Erzählung von heute: Dass der Qualitätsjournalismus durch Sparen gerettet werden kann. Ich glaube beides nur halb. Bedauerlich ist, dass es heute im Journalismus theoretisch mehr Platz gibt für Frauen, junge Leute, Nicht-Akademiker:innen, Personen mit Migrationsgeschichte, aber faktisch weniger Stellen.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Natürlich. Menschen werden aus dem Bedürfnis nach Geltung ihre Gedanken, Erinnerungen, Gefühle immer festhalten und weitergeben.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Entscheidender ist wohl die Frage, mit welcher Haltung man liest. Ich erinnere mich an einen Leserbrief, der vor Jahren auf Twitter kursierte. Darin schrieb ein Leser der New York Times – glaube ich –, er sei mit praktisch keinem ihrer Texte einverstanden. Dann endete er mit den Worten: «Keep up the good work.»

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich fühle mich auch bei schlechten Büchern verpflichtet, sie zu Ende zu lesen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Sobald ich mir vorstelle, über etwas zu schreiben, interessiert es mich. Manchmal mache ich mir das im privaten Leben zunutze: Bin ich an einen privaten Termin eingeladen, auf den ich keine Lust habe, stelle ich mir vor, ich würde als Journalistin hingehen. Dann finde ich plötzlich fast alles interessant. Weil es nicht mehr um mich geht, sondern um die Umgebung, in der ich mich befinde.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Solange es die Abonnent:innen noch gibt. Hoffe ich.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Sie sind vor allem eine Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Einmal im Jahr schaue ich lineares Fernsehen: Wenn ich an Weihnachten bei meiner Mutter bin. Und wenn die Schweiz an der EM spielt. Lineares Radio höre ich nie.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Alles, was die freie Journalistin Naomi Gregoris in ihren Insta-Storys empfiehlt. Und das «Politbüro» des Tages-Anzeigers.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Es bedeutet, dass junge Leute mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind und ihre Lebenswirklichkeit in den Medien nicht abgebildet finden. Es läge an den Erwachsenen, Eltern, Tanten, Onkeln, Lehrer:innen, ihnen die Bedeutung von seriösen Medien zu vermitteln: Artikel hinlegen/weiterleiten, zusammen über das Weltgeschehen reden, nach dem Taylor-Swift-Konzert die Rezensionen besprechen. Im besten Fall erfahren junge Leute so, dass sie Teil einer grossen Welt sind und nicht für immer im Social-Media-Spiegelkabinett bleiben müssen. Für die jungen Menschen wäre es entlastend, glaube ich, sich dadurch selbst etwas zu relativieren.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Tamedia wird doch neuerdings von einem Avatar geführt, nicht? Das deutet für mich eher darauf hin, dass sich das obere Management automatisieren lässt und nicht der Journalismus.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung erschwert es den Verlagen, mit Journalismus Geld zu verdienen. Aber der Journalismus selbst wurde zum Glück schon gerettet – von der Republik.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja! Oui! Sì! Gea!

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Jeden Tag in meiner Agenda, To-Do-Listen, und kürzlich in der Waschküche einen Zettel für die Nachbar:innen (keine entnervte Zurechtweisung, nur eine Info!)

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Trump ist zu, äh, für nichts gut.

Wem glaubst Du?

Der Literatur. Und Menschen, die sich hin und wieder selbst misstrauen.

Dein letztes Wort?

Heiter wie Hermes Phettberg: «Alles vergeht. Oje.»


Salome Müller
Salome Müller, 1987 in Glarus geboren, hat Deutsche Literatur studiert. Seit Februar 2022 arbeitet sie im Schweizer Büro der «Zeit». Davor war sie fast sieben Jahre beim «Tages-Anzeiger» – zuerst als Volontärin, zuletzt als Redaktorin im Inland-Ressort. Sie hat zwei Bücher veröffentlicht: «Genauso, nur anders. Junge Frauen erzählen vom Erwachsenwerden», Kein & Aber 2023; «Love, Pa. Briefe an meinen Vater», Echtzeit 2018. Salome Müller unterrichtet zudem am MAZ in Luzern.


Basel, , Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: Tom Haller

Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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2 Kommentare zu "Salome Müller: «Sobald ich mir vorstelle, über etwas zu schreiben, interessiert es mich»"

  1. Es geht nicht um die Person Salome Müller. Es geht nicht um die Person/Figur Donald Trump.
    Ich frage und antworte ganz allgemein (gilt für und über Jedermann und Jedefrau.
    Über einen Menschen sagen: „XXX ist zu, äh, für nichts gut.“
    Darf man das?
    Allgemein. Jedermann. Jederfrau.
    Dass dies noch aus einem differenzierenden und abwägenden Redaktorinnenmund kommt ist in meiner grundsätzlichen Frage Nebensache (gibt mir aber stark zu denken).

    1. Ja, da haben Sie recht. Was mich stutzig macht dabei: Warum bringen Sie das ausgerechnet bei Trump ins Spiel, der wie kein anderer Politiker vor ihm jeglichen Anstand und alle Fairness in der politischen Auseinandersetzung zerstört hat und zum Beispiel über seine Gegenkandidatin die wüstesten Lügen verbreitet, ihre «racial identity» hinterfragt und sie als von Geburt debil bezeichnet? Politisch mag DT recht haben oder nicht – sein politischer Stil hat schon so viel Zerstörung angerichtet, dass es auf seine Inhalte gar nicht mehr ankommt …

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