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Zuhören
Das ist kein nettes Buch darüber, dass wir uns gegenseitig etwas besser zuhören sollten. Bernhard Pörksen entwickelt vielmehr eine Philosophie des Zuhörens und zeigt dann, was das in der Praxis und für die Politik bedeutet. Seine zentrale Botschaft lautet: Ohne Kontext kein Zuhören. Ohne das Darumherum wahrzunehmen, lässt sich nichts verstehen: «Wir hören, was wir fühlen», schreibt Bernhard Pörksen, und wir «fühlen, was wir selbst erlebt und erfahren haben, weil es unsere eigene, mal ganz persönliche, mal mit anderen geteilte Tiefengeschichte ist, die uns sensibel werden lässt.» Das löst Fragen aus. Etwa: Wie entstehen Kipppunkte der Wahrnehmung? Wann und warum beginnt das Zuhören? Wem soll, wem darf man überhaupt zuhören? Und wem auf keinen Fall? Gerade im politischen Raum liege die Lösung nicht immer im bedingungslosen Zuhören, sondern manchmal auch im Gegenteil: «im Beschweigen, im Überhören und im bewussten Weghören beziehungsweise in der Dethematisierung, wie es Jürgen Habermas im Blick auf die AfD formuliert.» Dazu kommt: Gehört zu werden, heisst nicht, erhört zu werden: «Wer für das Gehörtwerden eintritt, sollte nicht in Wahrheit Gehorsam verlangen oder auf die punktgenaue Umsetzung seiner Einfälle drängen. Denn natürlich ist es denkbar, dass das eigene Ansinnen sehr aufmerksam registriert wurde, aber man eben leider nicht zu überzeugen vermochte und aus guten Gründen andere Prioritäten gesetzt werden.»
Bernhard Pörksen spricht in seinem Buch von zwei Ohren: vom «Ich-Ohr» der egozentrischen Aufmerksamkeit und vom «Du-Ohr» der nichtegozentrischen Aufmerksamkeit. «Mit dem Ich-Ohr hören wir entlang unserer persönlichen Urteile und Vorurteile zu», sagt er. Hier sei die «Matrix unserer persönlichen Weltwahrnehmung bestimmend». Es geht also um Übereinstimmung mit unseren eigenen Auffassungen und Interessen, die als Filter funktionieren. Sie halten das Unerwünschte fern, blenden aus, ja retuschieren die Realität. Im Zentrum stehen unsere eigenen Fragen und Interessen, unsere Sorgen und Ängste: «Hier regiert die Agenda des Ich – und nicht die des Du beziehungsweise des Gegenübers. Der andere dringt nicht durch, wird nicht wirklich kenntlich». Leitprinzip ist die eigene Agenda bis zum Narzissmus: «Dementsprechend wird gehandelt, geschwiegen, vielleicht aber auch gar nicht erst reagiert, abgewartet, taktiert oder zum Gegenangriff geblasen».

Das andere, nichtegozentrische Hören nennt Pörksen das «Zuhören mit dem Du-Ohr»: «Hier versucht man in die Welt des anderen einzutauchen, sich ihr wirklich zu nähern und für ihre Andersartigkeit zu öffnen. Hier verlieren eigene Filter zumindest ein Stück weit an Wirkung; der verzerrende Einfluss der persönlichen Perspektive, die man selbst in den Prozess des Zuhörens einbringt, schwindet.» Die Schlüsselfrage lautet dabei: «In welcher Welt ist das, was der andere sagt, plausibel, sinnvoll, wahr? In welche Wirklichkeit passt es hinein?» Pörksen schreibt: «Erkenne das Andere als Anderes – in seiner Fremdheit, seiner Schönheit, seinem Schrecken.» Es sei das «entschiedene Bemühen, über die eigene Perspektive hinauszugelangen, das diese Form des Zuhörens auszeichnet». Das Ringen um die Bestätigung bereits vorgefasster Auffassungen werde schwächer, nehme ab, die eigene Agenda trete zumindest in den Hintergrund.
Und dann packt Pörksen den rosa Elefanten der politischen Philosophie bei den Hörnern (oder so): Er fragt, ob man nur «den Richtigen» oder auch «den Falschen» zuhören soll: «Gilt es beispielsweise vor dem Hintergrund der Wahlerfolge populistischer Parteien, Rechtsextremen Gehör zu schenken?» Und wenn man das tut, hört man zu, weil man zumindest ein partielles Einverständnis für möglich hält oder um die Gesinnung der Parteigänger unvoreingenommen zu begreifen, um sie gut begründet und kenntnisreich zu verurteilen und maximal effektiv zu bekämpfen? Pörksen: «Was ist das Ziel: das verständnisinnige, von Sympathie geprägte Verstehen oder die klare Verurteilung? Oder ist die Zuhör-Avance nur ein kommunikativer Trick zur Konfliktvermeidung»?
Darf man also Populisten Gehör schenken, Querdenker und Corona-Leugner zum Gespräch bitten? Muss man es vielleicht sogar tun? «Dies sind unentscheidbare Fragen, die jeder für sich entscheiden muss, passend zur eigenen Position und zur je besonderen Situation, verdammt zur Freiheit und Verantwortung», schreibt Pörksen. Derzeit sind die Meinungen dazu nicht nur geteilt, sondern geradezu gespalten. Diskursalarmisten sagen, dass die gesellschaftliche Debatte in Trümmern liege: «Respekt und Rationalität versinken in einem postfaktischen Spektakel, regiert von Erregungsstichflammen, Verdummung, sinnloser, niemals endender Wut, die nur noch Erschöpfung erzeugt und keine Erkenntnis mehr ermöglicht». Die Gegenposition nehmen Diskursidealisten ein. Sie formulieren immer weitere Kriterien einer idealen Kommunikation, präsentieren immer neue Rezepte und Regeln «auf dem Weg zur Umsetzung der formschönen Idee des Zuhör-Optimums, die sie für sich erkannt haben». Es sei ein «Idealismus der Doktrin und nicht des Prozesses».

Pörksen aber kommt es auf den Prozess an. Es gehe darum, «in enger Bindung an Person und Situation eine Kunst des Herausfindens» zu begründen, die dazu inspiriere, «eigene, individuelle Möglichkeiten des Zuhörens ausfindig zu machen, Wachstumschancen zu entdecken, das kommunikative Repertoire zu erweitern». Es gehe nicht darum Rezepte zu verkünden, sondern Prinzipien zu skizzieren, die «eine grobe Orientierung geben können und auf die Weitung der Perspektive zielen».
Wirkliches Zuhören, sagt Bernhard Pörksen, sei Anerkennung und Akzeptanz von Verschiedenheit, Suche nach dem Verbindenden und Klärung des Trennenden, kurz: die gemeinschaftliche Erfindung einer Welt, die überhaupt erst im Miteinander-Reden und Einander-Zuhören entsteht.
Bernhard Pörksen: Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Hanser, 336 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-446-28138-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446281387
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