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Was vom Glauben bleibt
Glauben Sie an Gott? Für die meisten Menschen ist nicht einmal mehr die Frage relevant, geschweige denn die Antwort. Religion spielt im Leben vieler Menschen keine Rolle mehr. Heisst das, dass die Menschen nicht mehr glauben? Der Berliner Dramaturg Bernd Stegemann zeigt, dass wir schon noch glauben, bloss nicht mehr an Gott, sondern – ans Individuum. Bei der Beschäftigung mit dem Glauben habe er gemerkt, dass er eine Vielfalt von Einstellungen eines Gläubigen in sich trage, die alle ihre Wurzeln im Christentum haben und doch zu etwas gänzlich Anderem geworden sind. «Diese Glaubenspartikel haben eine Gestalt angenommen, die man vorläufig nur als gespenstisch beschreiben kann. Die irritierende Einsicht besteht also darin, dass sowohl mein Unglaube als auch die überall verstreuten Glaubensreste Kinder des Christentums sind und dass sie zugleich quer zur christlichen Tradition stehen.» Die Situation des Glaubens erwies sich als viel komplizierter, als er es sich vorgestellt hatte. Dieser «säkulare Glaube» stehe vor der Versuchung, den «Glauben zu einem privaten Fetisch zu verharmlosen oder ihn zu einem innerweltlichen Bescheidwissen zu verhärten», schreibt Stegemann. Der säkulare Glaube führe deshalb «zur Esoterik oder zum Hochmut der absoluten Gewissheit in weltlichen Belangen».
Der religiöse Glaube lebt in der Ungewissheit, ob die Seele erlöst oder verdammt wird. Das verführe, schreibt Stegemann, zu den «apokalyptischen Vorstellungen, in denen der Untergang der Welt mit dem Beginn des Gottesreichs verknüpft» werde. Eine Reaktion darauf ist die Versuchung, sich mit zum Fanatismus entwickelndem Hochmut über die Unsicherheit hinwegzutrösten. Und was machen jene Menschen, denen die Religion abhanden gekommen ist? «Die atheistische Apokalypse wirkt seelenverwandt, unterscheidet sich jedoch grundlegend», schreibt Stegemann. Die Gefühlslage einer drohenden atheistischen Apokalypse sei eine Konsequenz aus dieser Mischung von Privatreligion und innerweltlichem Bescheidwissen. Sie habe zwei verschiedene Dimensionen: «Zum einen wird damit beschrieben, wie das säkulare Denken sich selbst zum Gott erklärt und darum seine subjektiven Ängste zur allgemeinen Apokalypse vergrössert. Und zum anderen wird damit beschrieben, wie eine Welt ohne Glauben die Zerstörungskräfte der Menschen entfesselt, so dass eine globale Katastrophe vorhersehbar wird.»

Die atheistische Apokalypse beschreibt die Seelenlage im säkularen Individualismus, und sie ist eine soziale Dynamik in Konsumgesellschaften. Sie sei «Stimmung und reales Geschehen zugleich», schreibt Stegemann, uns sei deshalb schwer zu fassen. Darin gleiche sie der christlichen Apokalypse. «Doch der Unterschied bleibt kategorisch. Denn der säkulare Glaube bewertet seine apokalyptische Gestimmtheit nicht als Verfallsform des religiösen Glaubens, sondern er ist noch im Angesicht der Gefahr stolz auf seine Befreiung von der transzendenten Bindung.» Dabei übersieht der Glaube aber seine «säkulare Hybris»: Was vom Göttlichen zurückstrahle und so den religiösen Glauben bestimme, kehre sich beim säkularen Glauben vollständig in sich selbst und werde zur «Selbstverzauberung des Individuums». «Ohne die Erinnerung, dass im religiösen Glauben etwas für wahr gehalten wird, das der Mensch nicht begreifen kann, wird der säkulare Glaube zu einer innerweltlichen Gewissheit, die zugleich die Rationalität und das Göttliche beleidigt.»
Bernd Stegemann ist ein spannender Essay über die mehrfache Widersprüchlichkeit des säkularen Glaubens gelungen, der in ebenso mehrfacher Hinsicht zu denken gibt.
Bernd Stegemann: Was vom Glauben bleibt. Wege aus der atheistischen Apokalypse. Klett-Cotta, 288 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-608-98830-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608988307
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