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Fakten sind auch nur Meinungen
Es gibt diesen bekannten Satz des amerikanischen Politikers Daniel Patrick Moynihan: «Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten.»˚Da sind wir uns wohl alle einig. Schliesslich lassen sich Fakten objektiv nachweisen, Meinungen dagegen kann man nicht nachprüfen und deshalb auch nicht wirklich angreifen. Das Problem ist, dass sich Fakten und Meinungen gegenseitig beeinflussen und sich deshalb manchmal gar nicht so einfach unterscheiden lassen. Das zeigt der deutsche Neuropsychologe Jens Foell in seinem neuen Buch. Zum Beispiel spielen subjektive Deutungen in der Wissenschaft mitunter eine grosse Rolle. Und so manch wissenschaftlicher Konsens war einmal eine abstruse Einzelmeinung. Foell zeigt in seinem Buch anhand der vier wissenschaftlichen Schritte Bobachten, Hypothesen entwickeln und testen, Interpretieren und Weitererzählen, was dabei alles schief gehen kann. Es beginnt damit, dass wir schlechte Beobachter sind und endet damit, dass wir Studien schlecht lesen können. Sm Ende des Buchs zeigt Foell ganz konkrete Lösungswege auf, wie wir im Alltag, in Schule und Studium Fakten und Meinungen besser trennen können.
Was sind die grossen Probleme, von denen Foell berichtet? Es ist zunächst und ganz banal unsere mangelnde Beobachtungsgabe. Wir neigen dazu, Dinge zu übersehen, zum Beispiel Dinge, die nicht in unser Weltbild passen. Das bremst den wissenschaftlichen Fortschritt, weil alle Wissenschaften ja an genau diesem Weltbild kratzen. Wenn wir etwas beobachten, erinnern wir uns schlecht daran. Foell plädiert deshalb dafür, die «Schwächen unserer menschlichen Wahrnehmung» etwas abzufangen, «indem wir messen, indem wir Fernrohr, Stift und Papier auspacken, indem wir Detektoren bauen und sie im See versenken». Wenn wir das Erinnern also mechanisieren, dann beobachten wir oft ganz erstaunliche Dinge.
Aber auch streng wissenschaftliche Beobachtungen und Messungen haben ihre Tücken. Es kommt, einfach gesagt, darauf an, wo wir die Strassenlaterne aufstellen. Seit Watzlawick wissen wir, dass wir dazu neigen, den Schlüssel nur unter der Strassenlaterne zu suchen. Wir können also nur messen, was wir haben – und damit nur, was wir kennen. Damit verschiebt sich der Fokus auf die Messmethoden. Foell findet, dass wir unsere Methoden zu wenig hinterfragen. Denn Fakten sind immer das Resultat einer Methode, also müssen wir den Mess- und Denkmethoden gegenüber misstrauisch sein.
Besonders spannend ist, was Jens Foell über nicht widerlegbare Hypothesen sagt. Als Beispiele dafür nennt Foell zwei Filme: «The Truman Show» von Peter Weir mit Jim Carrey in der Rolle von Truman Burbank, der seit seiner Geburt Hauptfigur einer TV-Show ist – ohne es zu wissen. Der zweite Film ist natürlich «Matrix», der Film über die These, dass die Welt nur eine Simulation sei. Foell sagt, die Annahme, dass unsere Welt nur eine perfekte Illusion ist, sei «wissenschaftlich nicht widerlegbar. Es gibt keinen vorstellbaren naturwissenschaftlichen Nachweis dafür, dass wir uns nicht in der Matrix oder in einer riesigen kontrollierten Kuppel befinden.» Allerdings sei das nicht weiter problematisch: «Nicht widerlegbare Hypothesen kann man getrost ignorieren.» Das klingt überraschend, denn ob die Welt um uns herum echt ist oder nicht, scheint zunächst ein relevanter Punkt zu sein. Für die Naturwissenschaft spielt die Frage aufgrund fehlender Widerlegbarkeit aber keine Rolle. Foell: «Da wir sie nicht prüfen können, ist die Annahme, die Welt um uns herum sei künstlich, keine gültige Hypothese.» Ende der Durchsage. Interessant, oder?
Erstaunlich im Buch sind die vielen Beispiele, wo auch in der Naturwissenschaft Fakten und Meinungen aufeinanderprallen. Manchmal geht es schon um das Anerkennen von Fakten, manchmal um das Recherchieren. Am Ende des Buchs, nachdem er sechzehn Problemfelder skizziert und mit vielen Anekdoten illustriert hat, bietet Jens Foell konkrete Lösungen dafür an. Einige der Hinweise sind banal. Etwa: «Wann immer möglich sollten wir schauen, ob es nachprüfbare Fakten gibt, auf die wir uns einigen können. Das ist häufiger der Fall, als man denkt.» Oder: Verlassen Sie sich nicht blind auf vermeintlich objektive Analysen. Ob DNA-Analyse, Lügendetektor oder Fingerabdruck, alle haben ihre Tücken.
Die Tücke des Buchs ist, dass Foell nur von naturwissenschaftlichem Denken ausgeht. Also von kritisch denkenden Menschen, die bereit sind, Hypothesen aufzustellen und sie zu überprüfen. Schon dabei findet er eine ganze Reihe von Schwierigkeiten. In der realen Welt tauchen die meisten Probleme im Spannungsfeld von Fakten und Meinungen ausserhalb der Naturwissenschaften auf. Die betroffenen Menschen sind meist nicht bereit, sich zu hinterfragen, Hypothesen zu überprüfen und darüber nachzudenken. Sie gehen mit Fakten um, wie mit Meinungen – und halten Meinungen für Fakten. Darauf geht Foell nur am Rand ein, etwa im Zusammenhang mit der Falsifizierbarkeit als Problem von Verschwörungstheorien: Viele Verschwörungsideen sind nicht falsifizierbar. Das interessiert die Menschen, die ihnen anhängen, aber nicht, weil gerade Verschwörungsideen nicht das Resultat von Denkarbeit sind, sondern eine Sache des Glaubens. Davon abgesehen gibt Foell gerade Lehrpersonen gute Werkzeuge in die Hand für das Nachdenken über Fakten und Meinungen.
Jens Foell: Fakten sind auch nur Meinungen. Wie wir wissenschaftlich zwischen Wahrheit und Wahrnehmung unterscheiden. Droemer/Knaur, 224 Seiten, 26.50 Franken; ISBN 978-3-426-29390-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783426293904
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