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Warum wir träumen
Rahul Jandial hat sein Leben damit zugebracht, sich ins menschliche Gehirn zu vertiefen. Als Neurochirurg und Neurowissenschaftler operiert er Menschen auch bei Bewusstsein. Er weiss deshalb die Antwort auf eine der ältesten Fragen der Menschheit: Woher kommen unsere Träume? «Ich kann mit absoluter Gewissheit sagen, dass sie unserem Gehirn entspringen, genauer gesagt seiner elektrischen Aktivität», schreibt Jandial. Die Menge an Energie, die bestimmte Gehirnregionen verbrauchen, während wir träumen, ist manchmal sogar höher als die, die wir im Wachzustand verbrennen. Das gilt vor allem für die emotionalen und visuellen Zentren im Gehirn. Das heisst, dass Träume eine emotionale Intensität erreichen, die in unserem wachen Leben biologisch gar nicht möglich ist. «Auf eine sehr grundlegende Weise sind Sie nie lebendiger als im Traum», schreibt Jandial. Weil wir sie als so real erleben, üben Träume eine tiefe Wirkung auf uns aus. «Die Freude, die wir in Träumen erfahren, unterscheidet sich physiologisch nicht von ihrem wachen Gegenstück. Und das gilt auch für Schreck, Frustration, sexuelle Erregung, Wut und Angst.» Es sind dieselben Areale im Gehirn aktiv, nur ist die Verbindung zum Körper dabei gekappt.
Alle Menschen träumen, bloss erinnern sich nicht alle an ihre Träume. Jandial sagt: «Wir müssen träumen. Haben wir wenig Schlaf bekommen, ist das Erste, was wir nachholen, das Träumen. Haben wir vielleicht genug geschlafen, aber nicht genug geträumt, beginnt das Gehirn sofort zu träumen, kaum sind wir eingenickt. Selbst wenn Schlaf unmöglich ist, können lebhafte Träume auftreten.» Jandial ist sicher: «Träumen ist lebenswichtig.»
Dabei träumen die Menschen nicht nur während der REM-Phasen ihres Schlafs, sondern während allen Schlafphasen. Das bedeutet, dass wir vermutlich fast ein Drittel unseres Lebens träumend verbringen. «Heutzutage hört man allenthalben, dass der Mensch Schlaf braucht, wenn er gesund bleiben möchte», schreibt Jandial. Die Forschung zeige jedoch: «Vielleicht ist es ja nicht der Schlaf, den wir brauchen, sondern der Traum?»
Damit wir träumen können, müssen drei Dinge passieren. Erstens muss der Körper gelähmt werden. Spezielle Neurotransmitter schalten die Motoneuronen aus. Würde der Körper nicht gelähmt, würden wir unsere Träume aktiv ausagieren. Zweitens muss sich das Netzwerk der Exekutivfunktionen ausschalten. Das Exekutivnetzwerk besteht aus Strukturen in beiden Gehirnhälften, die zusammen anspringen und für Logik, Ordnung und Überprüfung der Wirklichkeit zuständig sind. «Ist das Exekutivnetzwerk ausgeschaltet, können wir die normalen Regeln von Zeit, Raum und Vernunft missachten», schreibt Jandial. «Da wir Vernunft und Logik kurzfristig übergehen, können wir im Traum die unwahrscheinlichsten Geschichten fraglos akzeptieren. Das verleiht unseren Träumen ihre Macht und ihren einzigartigen Charakter.» Drittens muss unsere Aufmerksamkeit sich nach innen richten. Wenn dies geschieht, aktivieren wir weit auseinanderliegende Teile des Gehirns, die man als Ruhezustandsnetzwerk bezeichnet. In seinem Buch nennt Jandial das Netzwerk aber Imaginationsnetzwerk, «weil das Netzwerk eng zusammenhängt mit dem imaginativen Denken, der Vorstellungskraft. Wenn wir wach sind, unser Geist aber keine besondere Aktivität oder Aufgabe verfolgt, bleibt er nicht leer wie ein Computerbildschirm, auf dem nur ein Cursor blinkt. Das Gehirn schaltet vielmehr vom Exekutivnetzwerk auf das Imaginationsnetzwerk um, sodass sich unsere Aufmerksamkeit nicht mehr nach aussen richtet, sondern nach innen. Ist das Imaginationsnetzwerk aktiv, schweift der Geist frei herum und begibt sich auf mäandernde Pfade, die häufig zu unerwarteten Einsichten führen.»
Unerwartet für den Einzelnen. Denn die Forschung zeigt, dass sich viele Traummotive über die Jahrhunderte kaum unterscheiden: «Trotz der massiven Veränderungen in unserem Lebensstil hat sich der Inhalt unserer Träume von Jahrtausend zu Jahrtausend, von Generation zu Generation eher wenig verändert», schreibt Jandial. «Viele heute bekannte Traummotive unterscheiden sich kein bisschen von denen der Ägypter zur Pharaonenzeit oder der Menschen unter der Herrschaft Cäsars.» Jandial sieht in den Träumen vor allem eine Möglichkeit zum sozialen Experiment. «Wir Menschen sind soziale Geschöpfe. Träume liefern uns Gedankenexperimente, die die Beziehungen in unserem Leben auf die Probe stellen. Manchmal auf wenig plausible Weise, dann wieder auf zutiefst erschütternde. Dabei wächst unsere soziale Intelligenz.» In den meisten Träumen ist deshalb der Träumende die Hauptfigur. Obwohl sie nicht immer logisch sind, sind die meisten Träume nicht bizarr, sondern drehen sich um unseren Alltag und unsere Ängste und Befürchtungen.
Interessant ist, dass Kinder nicht von Geburt an träumen: «Die Fähigkeit zu träumen ist ein wichtiger kognitiver Schritt, dessen Entwicklung Zeit braucht», schreibt Jandial. Tatsächlich können wir gehen und sprechen, bevor wir träumen. «Die Fähigkeit zum Träumen entwickeln wir gleichzeitig mit unserer Fähigkeit zur visuellen und räumlichen Wahrnehmung, also etwa im Alter von vier Jahren. Ungefähr zur selben Zeit, in der wir lernen zu hüpfen, auf einem Bein zu stehen und einen Ball zu fangen.» ZU aktiven Protagonisten ihrer Träume werden Kinder aber erst im Alter von sieben oder acht Jahren. Es sei das Alter, in dem das Kind ein Bewusstsein seines autobiografischen Selbst entwickle, das sowohl im Traum- als auch im Wachzustand erfahren werde. «Das autobiografische Selbst ist das Konzept, das wir von uns selbst haben, sowohl in der Beziehung zu uns als auch in der zu anderen Menschen. Da diese Entwicklungsstadien sich gleichzeitig vollziehen, kann man davon ausgehen, dass sie zusammengehören, sich möglicherweise gegenseitig beeinflussen oder fördern.» Nicht abhängig sind Träume von Sprache oder Gedächtnis und Sprache. Träumen beruht auf der Fähigkeit, sich die Welt visualisieren zu können. «Der Schlüssel zur Fähigkeit des Träumens ist, dass unser Geist die Wirklichkeit visuell nachzeichnen kann.»
Aber warum träumt der Mensch überhaupt? Jandial sagt, dass Träumen dem Menschen evolutionäre Vorteile gegeben haben muss. «Wann immer möglich, hält die Evolution an Eigenschaften fest, die vorteilhaft sind. Die Evolution würde keine Eigenschaften fortschreiben, die uns keinen Vorteil verschaffen. Vor allem nicht, wenn diese eine Menge Energie verbrauchen oder uns Beutegreifern gegenüber schutzloser machen würden. Auf den Traum trifft aber beides zu. Er verschlingt eine Menge Energie, und wir werden angreifbar, wenn wir träumen.» Warum also träumen wir? Interessanterweise schneiden Studenten, die vor Prüfungen von den Prüfungen (schlecht) träumen, an den Prüfungen besser ab. Eine Möglichkeit ist, dass die «negative Vorwegnahme einer stressbelasteten Erfahrung und die Simulation der Prüfung im Traum den Probanden letztlich einen kognitiven Vorteil verschafften.» Eine weitere Theorie über die evolutionären Vorteile des Träumens deutet darauf hin, dass Träume das Gehirn auch im Schlaf gut eingestellt und betriebsbereit halten.
Ausführlich erklärt Jandial, wie sich kreative Prozesse und das Träumen ähneln. «Kreatives Denken heisst, dass wir uns Problemen auf neue Weise nähern, die Welt aus einer neuen Perspektive betrachten und Verbindungen entdecken, die wir vorher nicht sehen konnten. Wir finden Lösungen, die sich uns früher entzogen haben. Wissenschaftler nennen das ‹divergentes Denken›, das ihnen als Schlüssel zur Kreativität gilt.» Divergentes Denken ist unkonventionell und oft angesteuert. Kreative Ideen kommen uns meist, wenn wir gerade nicht hoch konzentriert sind. «Wenn der Geist frei herumschweifen kann, zieht dies jene Aha-Momente an, in denen unerwartete Einsichten aufblitzen, Antworten auf Fragen, die wir gar nicht gestellt haben.» Allerdings sind solche Momente heute selten. Ein Ort, wo der Geist frei ist und ungebremst durch Logik und Wahrscheinlichkeit schweifen kann, ist der Traum. Aber Träume sind visuell. Wenn sie also Antworten liefern, dann häufig auf visuelle Weise. In seinem Buch gibt Jandial eine konkrete Anleitung, wie man seine Träume dazu nutzen kann, auf kreative Lösungen zu stossen. Es ist letztlich eine Art Autosuggestion. «Bislang haben wir keinen biologischen Grund dafür gefunden, aber da unser Wacherleben unser Traumleben nährt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Autosuggestion im träumenden Geist fortwirkt», schreibt er. Wichtig ist, dass man sofort nach dem Aufwachen aufschreibt, was man geträumt hat. Träume verflüchtigen sich am Tageslicht rasch wieder.
Rahul Jandial: Warum wir träumen. Was uns das Gehirn im Schlaf über unser Leben offenbart. Rowohlt, 304 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-498-00379-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498003791
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