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Generation Angst
Seit 2010 nimmt die Zahl der von Depressionen und Angststörungen betroffenen Jugendlichen dramatisch zu. Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat das Phänomen untersucht und ist auf eine Ursache gestossen: Die dramatische Veränderung der Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen, wie sie das Smartphone und die sozialen Netzwerke verursacht haben. Die Verfügbarkeit der Smartphones setzt Mitte der 1980er Jahre ein. Etwa 2010 haben ihr oder weniger alle Jugendliche ein Handy und teilen ihr Leben in den sozialen Netzwerken. Jonathan Haidt schlägt deshalb vor, die späten 1980er-Jahre als Beginn des Übergangs von einer «spielbasierten Kindheit» zu einer «smartphonebasierten Kindheit» anzusehen. Es wachsen Kinder heran, die viel weniger Erfahrungen in der realen Welt machen als frühere Jahrgänge, dafür aber viel mehr online leben. In der realen Welt sind diese Kinder überbehütet. Sie werden zur Schule gefahren, sie klettern nicht mehr auf Bäume und sie schürfen sich die Knie nicht mehr auf. Online aber sehen sie mehr als den meisten Erwachsenen bewusst ist. Heidts zentrale These ist, dass diese beiden Trends – Überbehütung in der wirklichen Welt und Unterbehütung in der virtuellen Welt – die Hauptursachen dafür sind, dass nach 1995 geborene Kinder zur «ängstlichen Generation» wurden.
In seinem Buch erzählt er die Geschichte der Generation, die nach 1995 geboren wurde. Es ist die «Generation Z» (oder kurz «Gen Z»). Es ist die Generation, die auf die sogenannten Millennials (geboren 1981 bis 1995) folgte. Heidt glaubt, dass die Generation Z – die ängstliche Generation – kein Enddatum hat, «bis wir die Bedingungen für eine Kindheit verändern, die junge Menschen so ängstlich macht.» Heidt schreibt: «Die Generation Z ist die erste Generation in der Geschichte, die ihre Pubertät mit einem Portal in der Tasche durchlebte, das sie fort von den Menschen um sie herum in ein alternatives Universum rief, das aufregend, suchterzeugend, instabil und für Kinder und Heranwachsende ungeeignet war.» Das spannende daran ist, dass er es mit Forschungsdaten unterlegt.
Die Auswirkungen des Onlinelebens sind so fatal, weil die Jugendlichen, um in den sozialen Netzwerken erfolgreich zu sein, einen Grossteil ihrer bewussten Aufmerksamkeit rund um die Uhr ihrem Online-Ich widmen müssen, ihrer Online-Marke. Seit das Smartphone die Jugendichen erobert habe, gehe es darum, «die Akzeptanz Gleichaltriger zu gewinnen, was der Sauerstoff der Adoleszenz ist, und Online-Shaming zu vermeiden, was der Albtraum der Adoleszenz ist».
Teenager der Generation Z würden dazu verführt, jeden Tag viele Stunden damit zu verbringen, durch die «glücklich strahlenden Posts von Freunden, Bekannten und fernen Influencern zu scrollen». Sie schauen sich eine ständig wachsende Zahl von hochgeladenen Videos an und streamen Unterhaltung, die ihnen von Autoplay und den Algorithmen grosser Konzerne angeboten werde und die gezielt so konstruiert sei, dass sie so lange wie möglich online blieben. Die Folge: «Sie verwendeten weitaus weniger Zeit darauf, mit Freunden und Familienmitgliedern zu spielen, sich mit anderen zu unterhalten, sie zu berühren oder auch nur Augenkontakt mit ihnen aufzunehmen. Dadurch reduzierte sich ihr Anteil an körperlichen sozialen Verhaltensweisen, die für eine erfolgreiche menschliche Entwicklung unbedingt nötig sind.»
Heidt sagt deshalb, die Vertreter der Generation Z seien «Versuchskaninchen für eine radikal neue Form des Heranwachsens», die weit entfernt sei von den «Interaktionen kleiner Gruppen in der wirklichen Welt, in der sich Menschen im Lauf ihrer Evolution entwickelten». Er bezeichnet den Vorgang deshalb als «die Grosse Neuverdrahtung der Kindheit»: «Es ist, als ob diese Kinder die erste Generation wären, die auf dem Mars aufwächst.»
Heidt unterscheidet in seinem Buch scharf zwischen der «wirklichen Welt» und der «virtuellen Welt» der sozialen Netzwerke und des Smartphones. Die wirkliche Welt beinhaltet Beziehungen und soziale Interaktionen, die sich, so Heidt, «durch vier Eigenschaften kennzeichnen lassen, die seit Hunderttausenden von Jahren typisch sind: Sie sind körperlich (embodied), das heisst, wir setzen unseren Körper zur Kommunikation ein, wir sind uns des Körpers anderer bewusst, und wir reagieren bewusst und unbewusst auf die Körper anderer. Sie sind synchron, das heißt, sie geschehen gleichzeitig und enthalten subtile Hinweise für das richtige Timing und die Wechselseitigkeit. Es geht dabei primär um eine Eins-zu-eins-oder eine Eins-zu-mehreren-Kommunikation, wobei zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils nur eine einzige Interaktion erfolgt. Sie finden innerhalb von Gemeinschaften statt, deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit nicht ohne Weiteres erwerben oder auch beenden können; daher sind die Betroffenen hochmotiviert, in Beziehungen zu investieren und Risse zu kitten, wenn solche auftreten. Die wirkliche Welt ist körperlich, sie ist jetzt, es geht meist um Ich und Du, daraus entstehen wertvoll Beziehungen.
Die Beziehungen und Interaktionen der virtuellen Welt zeichnen sich nach Heidt durch vier komplett andere Eigenschaften aus: «Sie sind entkörperlicht (disembodied), das heisst, dass kein Körper nötig ist, nur Sprache. Partner können Künstliche Intelligenzen (KIs) sein (und sind das häufig schon). Sie sind höchst asynchron und erfolgen im Rahmen von textbasierten Posts und Kommentaren. (Ein Videoanruf ist etwas anderes, er ist synchron.) Sie umfassen eine beträchtliche Anzahl von Eins-zu-mehreren-Kommunikationen und wenden sich potenziell an eine breite Öffentlichkeit. Zahlreiche Interaktionen können parallel ablaufen. Sie finden in Gemeinschaften statt, deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit ohne Schwierigkeiten erwerben oder beenden können, daher können Beteiligte andere blockieren oder die Gruppe einfach verlassen, wenn sie keine Lust mehr haben. Solche Gruppen sind meist kurzlebig und die entsprechenden Beziehungen oft austauschbar.» Die virtuelle Welt ist also entkörperlicht, sie ist irgendwann, sie findet in der Öffentlichkeit statt und die Beziehungen sind oft beliebig.
Weil Beziehungen in der realen Welt wertvoll sind, haben die Menschen gelernt, «wie man Beziehungen handhabt und wie man sich selbst und seine Gefühle kontrolliert, damit diese so kostbaren Beziehungen möglichst reibungslos weiterlaufen.» Es gebe sicher auch Online-Communitys mit starken, persönlichen Bindungen. Doch «wenn Kinder in multiplen, sich ständig wandelnden Netzwerken aufwachsen, in denen sie nicht ihren wirklichen Namen verwenden müssen und die sie jederzeit mit einem einfachen Tastendruck verlassen können, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese Fertigkeiten erlernen.»
Heidt zeigt anhand von vielen Daten und Forschungsergebnissen, dass der Umgang mit Smartphones in Verbindung mit der Überbehütung der Kinder in der wirklichen Welt wie eine «Erfahrungsblockade» wirkt, die es Kindern und Jugendlichen erschwert, jene sozialen Erfahrungen zu machen, die sie am nötigsten brauchen, «von risikoreichen Spielen und kulturellem Lernen bis zu Übergangsriten und romantischen Beziehungen». Dazu kommen vier weitere Probleme, die das Smartphone verursacht: Schlafmangel, soziale Deprivation, Fragmentierung der Aufmerksamkeit und Suchtverhalten. Heidt zeigt, dass das Smartphone zu einer steigenden Rate von Jugendlichen beigetragen hat, die nicht «flügge» werden – die also den Übergang von der Adoleszenz zum Erwachsensein und der damit einhergehenden Verantwortung nicht schaffen.
Was tun? Heidt bietet wissenschaftlich fundierten Rat, der Tech-Unternehmen, Regierungen, Schulen und Eltern helfen soll, «um aus einer Vielzahl von Problemen des kollektiven Handelns auszubrechen», wie er schreibt. Es sei dabei wichtig, dass sich die Betroffenen absprechen und gemeinsam handeln, weil sonst die sozialen Kosten beim Einzelnen anfallen. Ziel ist es dabei die beiden grossen Fehler zu korrigieren: Kinder in der wirklichen Welt zu sehr zu behüten (wo sie aus direkter Erfahrung lernen müssen) und sie online zu wenig zu behüten (wo sie in der Pubertät besonders verletzlich sind). Konkret empfiehlt Heidt vier Punkte:
- Kein Smartphone vor einem Alter von etwa vierzehn Jahren. Heidt schreibt, «Eltern sollten den Eintritt ihrer Kinder ins Rund-um-die-Uhr-Internet verzögern, indem sie ihnen nur einfache Geräte (Handys mit einer begrenzten Zahl von Apps und ohne Internetbrowser) in die Hand geben.»
- Keine sozialen Medien vor dem sechzehnten Lebensjahr. Heidt schreibt: «Lassen Sie Ihre Kinder durch die empfindlichste Phase ihrer Hirnentwicklung gehen, bevor sie Zugang zu einem Hexenkessel aus sozialem Wettbewerb und algorithmisch vorausgewählten Influencer-Inhalten bekommen.»
- Schulen ohne Smartphones. In allen Schulen, von der Grundschule bis zum Ende der weiterführenden Schule, sollten Schüler ihre Smartphones, Smartwatches und andere persönliche elektronische Geräte, die Texte senden oder empfangen können, während des Schultags in Schliessfächern verstauen. «Nur so wird es ihnen möglich, sich auf ihre Mitschüler und Lehrer zu konzentrieren.» Experimente haben gezeigt, dass die Kinder selbst die Beifügung vom Smartphone als Entlastung empfinden – wenn es eine allgemeine Regel ist und alle anderen sie auch befolgen müssen.
- Mehr unüberwachtes Spiel und Unabhängigkeit in der Kindheit. «So entwickeln Kinder auf natürliche Weise soziale Fähigkeiten, überwinden ihre Ängste und wachsen zu selbstbewussten jungen Erwachsenen heran», schreibt Heidt.
Es sind keine komplexen Massnahmen. Voraussetzung ist nur, dass möglichst viele Erwachsene am gleichen Strick ziehen. «Wenn die meisten Eltern und Schulen in einer Gemeinde alle vier in Kraft setzten, dann würden sie meiner festen Überzeugung nach innerhalb von zwei Jahren erleben, wie sich die psychische Verfassung der Jugendlichen wesentlich verbessert», schreibt Heidt.
Jonathan Haidt: Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen. Rowohlt, 448 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-498-02836-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498028367
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