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Mitte des Lebens
Die Lebensmitte hat einen schlechten Ruf: Das Bewusstsein, dass einem nicht mehr alle Türen offen stehen und die Jahre gezählt sind, löst bei vielen Menschen die berühmte «Midlife crisis» aus. Es ist eine Mischung aus Torschlusspanik, Selbstmitleid und erschrecktem Erwachen. Die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch hat mit Erstaunen festgestellt, dass es über diesen Wendepunkt im Leben kaum Literatur gibt. Sie hat deshalb ein Buch über die Mitte des Leben vorgelegt, das kein Ratgeber sein will, sondern ein Beratungsbuch: «ein Buch für die Gemeinschaft der Suchenden, die sich in der Mitte des Lebens existentiellen Fragen stellen und erkennen, dass es das Beste ist, die ‹Ratlosigkeit […] zu unserer gemeinsamen Sache zu machen›, wie Hannah Arendt schreibt.» Die mittleren Jahre umfassen etwa zwei Jahrzehnte. In ihrem Buch befasst sich Barbara Bleisch mit den wichtigsten Fragen, die sich in dieser Lebensphase stellen. Etwa: Wie umgehen mit dem sich verengenden Zeithorizont? Wie zieht man Bilanz mit Gefühlen des Bedauerns und der Reue, aber auch mit Stolz und Dankbarkeit? Was heisst es, dank Lebenserfahrung Reife und Souveränität zu erlangen? Was tun, wenn man zwar vieles erreicht hat, sich aber trotzdem leer fühlt und wenig Sinn im Trubel des Alltags erkennt? Wie finden wir zur Lust am Leben zurück? Barbara Bleisch gibt keine simplen Antworten, sondern regt zum Nachdenken über diese Fragen an, indem sie eine Kartografie der Lebensmitte ausbreitet und zeigt, dass «das Umherirren und Sich-Verirren, das Zweifeln und Fragen genauso zu dieser Phase gehören wie die stille Rast auf der Hochebene des Lebens».
In ihrem Elternhaus, erzählt Barbara Bleisch, hingen zwei Bilder von Fridolin Leiber: «Das Stufenalter des Mannes» und «Das Stufenalter der Frau». Die Bilder stellen das Leben als Treppenbogen dar: Wie bei einer Treppenbrücke über einen Kanal in Venedig steigt die Treppe zuerst steil an, um gleich ebenso steil wieder abzufallen. Der Höhepunkt der Treppe ist mit dem fünfzigsten Lebensjahr erreicht. «Die Bilder haben sich mir tief eingeprägt», schreibt Barbara Bleisch. Interessant findet sie, dass auf der zweiten Treppenhälfte nichts Nennenswertes mehr abgebildet war: «Die zweite Hälfte des Lebens barg in jener Vorstellung offenbar kaum noch Veränderungen, sondern führte über Jahre des Verlusts und der Gebrechlichkeit direkt in den Tod.» So sah das auch Philosophin Simone de Beauvoir. Sie bezeichnete es als «Albtraum, älter als fünfzig zu sein», und fühlte sich in diesem Alter, als hätte das Sterben schon begonnen: «Das hatte ich nicht vorausgesehen – dass es so früh beginnt und dass es so weh tut.» Ist das Leben mit fünfzig also quasi schon zu Ende? Gegen diese Vorstellung wehrt sich Barbara Bleisch: «Das Leben erscheint mir heute definitiv brüchiger als noch mit dreissig, aber in vielerlei Hinsicht auch tiefer und kostbarer.»
Das Alter spielt heute zweifellos eine geringere Rolle als früher. Zuweilen ist sogar von der «altersirrelevanten Gesellschaft» die Rede. «Und trotzdem wirken die alterstypischen sozialen Normen, wie sie in den Stufenbildern zum Ausdruck kommen, in unseren Köpfen weiter, und die Vorstellung, dass das ideale Leben einer inneren Ordnung zu folgen habe, die nicht ohne Not durcheinanderzubringen ist, prägt unseren Blick auf andere Biografien unbewusst nach wie vor», schreibt Bleisch. Zumindest führe es auch heute zu «Stirnrunzeln», wenn Kinder länger als üblich bei den Eltern wohnen, wenn jemand sehr früh (oder sehr spät) heiratet oder wenn ein Paar «mit vierzig noch keine eigenen Kinder bekommen» hat.
Die mittleren Jahre sind also die Jahre rund um den Höhepunkt der Lebenstreppe. Sind es, wie der Untertitel des Buchs verheisst, die «besten Jahre»? Das will Bleisch nicht behaupten: «Dazu sind unsere Lebensläufe zum einen viel zu unterschiedlich, und manche mag das Schicksal just auf ihrem Zenit besonders hart treffen. Zum anderen ist die Mitte des Lebens mit ihrer Spanne von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren sicher zu weitläufig, um ihr ein einziges Gütesiegel aufzudrücken.» Ihr Anliegen ist es, auszuloten, worin das «beste» dieser Lebensphase bestehen könnte, was die spezifische Qualität der Lebensmitte ist. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie es gelingt, aus der Fülle dieser reichen Jahre zu schöpfen. In ihrem Buch vermittelt sie die philosophischen Werkzeuge, die uns in die Lage versetzen, die existentiellen Fragen, die in dieser Phase aufbrechen können, klug und gewinnbringend zu beantworten.
Einfache Antworten gibt sie dabei nicht. Bleisch versucht vielmehr, der Leserin, dem Leser eine Art philosophische Landkarte in die Hand zu drücken, auf der jede und jeder ihren eigenen Weg finden kann. Sie zitiert C. G. Jung, der 1933 einem seiner Patienten schrieb: «Ihre Fragen sind unbeantwortbar, da Sie wissen wollen, wie man leben soll. Man lebt, wie man leben kann. Es gibt keinen einzigen bestimmten Weg für den einzelnen, der ihm vorgeschrieben oder der passend wäre. […] Wollen Sie aber den individuellen Weg gehen, so ist es der Weg, den Sie machen, der nirgends vorgeschrieben ist, den man nicht im voraus kennt und der einfach aus sich selber entsteht, wenn man einen Fuss vor den anderen setzt.»
Barbara Bleisch: Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre. Hanser, 272 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-446-27968-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279681
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