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Warum Wein einst gesünder als Wasser war
Man kann Geschichte als Reihe von Schlachten lehren, als Folge von Jahreszahlen und Herrscherdaten, von Eroberungen und Revolutionen. Oder man kann Geschichte in Form von Geschichten erzählen. Genau das macht der österreichische Journalist Fritz Dittlbacher: Er interessiert sich für den Aha-Effekt. Es geht ihm darum, neue Zusammenhänge zu schaffen, überraschende Verbindungen herzustellen – und auch ein bisschen um den Spass daran. Man könnte zum Beispiel einen länglichen Text über die Hygieneprobleme in den Städten und über Choleraepidemien schreiben. Oder eine Geschichte darüber erzählen, warum früher Wein gesünder war als Wasser. Einen kleinen Schwips nahm man dabei (vermutlich gerne) in Kauf. Allerdings musste man dafür richtig viel trinken: Der Alkoholgehalt damaliger Getränke lag weit unter den heutigen Werten. Bier hatte meistens nur 0,7 bis 1,5 Prozent. Für heutige Verhältnisse war das Bier damals also fast schon alkoholfrei. Trotzdem bekam es den Menschen besser als das faulige, brackige Wasser – Kläranlagen waren noch lange nicht in Sicht, Cholera und andere Krankheiten grassierten. Mit solchen und ähnlichen Geschichten macht Dittlbacher Geschichte zum Genuss. Etwa der Nachweis, dass Nudeln nicht aus China kommen. Dass unsere Urgrossmütter etwa so viele Rechte hatten wie die Frauen heute in Afghanistan (keine). Denn auch die fortschrittlichsten Revolutionäre der Vergangenheit dachten bei Gleichheit und Freiheit nur an die Männer. Und dann ist da noch die Geschichte des Opernballs, den Kaiser Franz Joseph zu Beginn mit einem Tanzverbot belegte, weil er Angst um seine Hofoper hatte.
Ein spannendes Beispiel dafür, wie eine einzelne Pflanze die Welt (sprich: Europa) verändert hat, ist die Kartoffel. Die Knolle ist etwas mehr als 450 Jahren nach Europa gelangt und war zunächst alles andere als ein Erfolg. Eigentlich hätten Kartoffeln viele Vorteile gegenüber Getreide, das damals in ganz Europa die wichtigste Nahrungsquelle war: «Man muss sie nicht dreschen, man muss sie nicht mahlen, man muss sie nicht backen. Man kocht sie oder brät sie über Feuer – fertig», schreibt Dittlbacher. Dazu kommt: «Weil sie unter der Erde wachsen, sind sie auch relativ diebstahlsicher, in den damaligen Zeiten war das ein Vorteil.» Die Kartoffel machte zu Beginn aber auch Probleme. Die Kartoffel ist ein Nachtschattengewächs, sie wächst vor allem in der Nacht. «Das ist am Äquator kein Problem, da sind Tag und Nacht immer gleich lang. In Europa mit seinen Jahreszeiten sind die Nächte im Sommer und damit in der Wachstumsperiode aber relativ kurz.» Die Kartoffel setzte sich deshalb nur langsam durch, die Europäer mussten sich zuerst an die Knolle gewöhnen. Irland blieb das einzige europäische Land, in dem sich der Kartoffelanbau durchsetzte.
Davon profitierten die Iren zunächst: Endlich konnte sich aus die arme Landbevölkerung den Bauch vollschlagen. Doch 1845 brachen Pflanzenkrankheiten aus, genauer die Kartoffelfäule, eine Pilzerkrankung, die die gesamte Ernte vernichtete. «Binnen zwei Jahren sind in Irland daraufhin eine Million Menschen verhungert», schreibt Dittlbacher. Zwei weitere Millionen wanderten aus, innert vier Jahren kam es zu einem Bevölkerungsrückgang von mehr als einem Drittel. Und das alles wegen der Kartoffel. Die spielte bis vor 100 Jahren in ganz Europa eine grosse Rolle: Im ausgehenden 19. Jahrhundert assen die Menschen in Europa im Jahr durchschnittlich 200 Kilo Kartoffeln. Das ist mehr als ein halbes Kilo pro Tag. Heute sind es pro Kopf und Jahr noch etwa 60 Kilogramm.
In seinem Buch widmet sich Fritz Dittlbacher nicht nur Wein und Kartoffeln, sondern auch Getreide, Fastfood, Brot und Zucker – letzteres mit bitterem Beigeschmack. Kein anderes Produkt ist so eng mit dem Sklavenhandel verbunden. Zehn Millionen Sklaven landeten auf Zuckerrohrplantagen in der Karibik und in Brasilien. Das sind rund 30-mal so viele, wie für den Baumwollanbau in den amerikanischen Südstaaten verkauft wurden. «Dass wir heute von ‹Afroamerikanern› sprechen – sie machen derzeit etwa ein Achtel der Bevölkerung der USA aus –, liegt in seinem Ursprung darin begründet, dass die Europäer lange Zeit jeden Preis für ihren Zucker gezahlt haben», schreibt Dittlbacher. Es sind solche kleinen Wissensstücke, die man beim Lesen gerne mitnimmt, auch wenn sie, wie im Fall des Zuckers, einen bitteren Beigeschmack haben.
Die Geschichten, die Fritz Dittlbacher erzählt, sind nicht nur lustig. Auch bei ihm geht es manchmal um Krieg und Hunger, Not und Unterdrückung. Doch auch diese Aspekte verpackt er so geschickt in Geschichten, dass es ein Genuss zu lesen ist.
Fritz Dittlbacher: Warum Wein einst gesünder als Wasser war und wie Kartoffeln die Welt verändert haben. Geschichte in Geschichten. Carl Ueberreuter Verlag, 192 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-8000-7869-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783800078691
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