Buchtipp

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Unter den Augen des Himmels
Dieser Tage jährt sich der Todestag von Rudolf Steiner zum 100. Mal. Entsprechend finden sich in vielen Zeitungen Würdigungen seines Lebens. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich dabei aber weniger um biografische Rückblicke, als um Würdigungen seines Werks, die zudem, 100 Jahre danach, oft kritisch ausfallen. Aber was ist mit dem Menschen Rudolf Steiner? Darauf will dieses Buch eine Antwort geben: Es will Rudolf Steiner «die Freiheit zu lassen, mehr als der Begründet der Anthroposophie gewesen zu sein», wie Andreas Laudert schreibt und «einem erstaunlichen Leben auf eine wertschätzende Weise gerecht werden». Sein Ziel sei, es dem Leser zu ermöglichen, sich ein eigenes Bild von Steiners Impulsen zu machen.
Die Basis dafür legt Andreas Laudert mit einer Einführung in drei Grundhaltungen von Rudolf Steiner. «Seine Ideen lebten aus der Beziehung zu etwas Universellem, Allgemeinmenschlichen», schreibt Laudert. Die Theosophie, die Anthroposophie und die Institutionen, die Steiner gründete, seien nur der jeweilige «Mantel» gewesen, in dem sich seine Ideen zeittypisch manifestiert hätten. Die erste der drei Ideen ist die Idee des lernenden Lehrers zwischen allen Welten. «Werden Sie Genies an Interesse!» habe Steiner 1923, zwei Jahre vor seinem Tod, in einer Ansprache in Stuttgart gesagt und damit seinen Zuhörern seine wichtigste innere Richtschnur gegeben. «Es ist eine Kunst, zwischen Milieus und Welten zu vermitteln, die sich fremd gegenüberstehen. Und doch gibt es kaum etwas Interessanteres, als wenn Dinge, die für alle gedacht sind, jedem Einzelnen individuell zu denken geben», schreibt Laudert.

Die zweite Idee: «Niemals Reaktionär!» Andreas Laudert schreibt: «Wir müssen uns demnach von Beginn an vergegenwärtigen, dass bei Steiners Lehre ( die uns lehrt, dass sie keine ist) und bei dieser Welt-Erzählung (die uns selbst zu deren Autoren macht) das Denken und damit auch das ‹Ich› der Dreh- und Angelpunkt von allem ist – auch wenn das manch einem erst einmal Unbehagen bereitet oder Verunsicherung auslöst.» Steiner habe das Erkennen nicht als etwas Abstraktes gezeichnet, sondern als etwas, das unser Dasein konkret verändern kann. «Steiner war Praktiker, nicht obwohl, sondern weil er stets vom Geistigen ausging.»
Die dritte Idee: «Erlebte Rede». Steiner sei nicht nur Lehrer gewesen, sondern auch und vor allem ein Vortragender, Buchautor und Reformer, der zunächst und vor allem über selbst Erlebtes redete, der individuelle denkerische Erfahrungen mitteilte und schilderte. Von dieser erlebten Rede erzählt Andreas Laudert nicht nur, er praktiziert sie auch in seiner Biografie. «Gewiss können wir uns nicht in dessen Ich hineinversetzen; wir bleiben «nur» Hörende, Aufnehmende und Mitvollziehende. Trotzdem können wir gerade dadurch in eine überraschend intime Beziehung zu ihm treten – als seien wir eingeladen wie Freunde –, indem wir prüfen, wie wir gehandelt hätten, wenn wir äußerlich in seiner Haut gesteckt hätten, und indem wir seine Sache mit Empathie zu unserer machen oder erkennend auch als die unsere auffassen.»
Laudert spürt dem Leben von Rudolf Steiner ein fünf grossen Abschnitten nach. Er beginnt mit der Kindheit, der Jugend und den Studienjahren in Österreich (1861 bis 1890), darauf folgen die aktivistischen Jahre in Weimar und Berlin (1890 bis 1902) und das Wirken in der Theosophischen Gesellschaft (1903 bis 1913). Ein zentrales Kapitel widmet sich «Karma und Krieg», der Zeit ab 1914, zunächst dem Ersten Weltkrieg, dann ab 1919 der «Dreigliederung des sozialen Organismus» und der Gründung der Waldorfschule. Die letzten Jahre schliesslich stehen unter der Überschrift «Öffnung als Vertiefung». Natürlich kommt dabei immer auch das Werk von Rudolf Steiner zur Sprache. Laudert beurteilt das Leben Steiners aber nicht vom Werk aus, sondern erzählt vielmehr, wie das Werk aus dem Leben entstanden ist.
Rudolf Steiner hat oft über den Tod als Verwandlung gesprochen und über die Notwendigkeit, ihn als Kraft bereits im Leben gegenwärtig zu haben. Statt mit der Kindheit könnte die Biografie also chronologisch auch mit dem Sterbedatum beginnen.
Andreas Laudert: Unter den Augen des Himmels. Das Leben Rudolf Steiners. Futurum, 264 Seiten, 20.90 Franken; ISBN 978-3-85636-280-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783856362805
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