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Schicksalsjahr 1925

Publiziert am 10. April 2025 von Matthias Zehnder

Das Jahr 1925 ist uns bekannt als Beginn der «Goldenen Zwanziger Jahre», für kulturellen Aufbruch und technische Innovation, für Sachlichkeit und Rationalität, für Modernität und Lebensfreude. Anders als Jahre wie 1914, 1933 oder 1939 begreifen wir 1925 nicht als Schicksalsjahr. Wolfgang Niess zeigt in seinem Buch, warum sich dennoch vor genau 100 Jahren das Schicksal Deutschlands wendete. Der Wendepunkt bildete die Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925. Diese Präsidentschaft Hindenburgs mündet am 30. Januar 1933 in die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler – Hindenburg wird zum Wegbereiter der NS-Diktatur und damit des Zweiten Weltkriegs. Wolfgang Niess erklärt, dass diese Entwicklung keineswegs selbstverständlich war. Es hätte «nicht sein müssen, dass der Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg als Kandidat aufgestellt und dann auch noch gewählt werden würde. Im Rückblick wird Geschichte oft zwangsläufiger und alternativloser gesehen, als sie tatsächlich war», schreibt er. Am Anfang der Entwicklung steht der Tod von Friedrich Ebert, Hindenburgs Vorgänger als Reichspräsident. «Der gehässige Feldzug der nationalen und völkischen Rechten gegen den Reichspräsidenten Friedrich Ebert und die Unterstützung dieses Feldzugs durch eine republikfeindliche und rechtsorientierte Justiz zeigen eindrucksvoll, dass die Weimarer Republik mit starken und mächtigen Feinden konfrontiert war», schreibt Niess. Friedrich Ebert sei nur scheinbar eines natürlichen Todes gestorben. Tatsächlich war er das Opfer einer erbarmungslosen Hetzjagd der Feinde der Demokratie. Und dann trat Hindenburg an. Für die Sozialdemokraten war klar: «Diese Kandidatur ist eine dreiste Spekulation auf die Dummheit der politisch Ahnungslosen. Auf den Respekt vor den Generalsborten! Auf die Sympathie mit gesträubten Schnurrbärten! Und auf das sentimentale Mitleid mit einem alten Feldmarschall, der das Unglück gehabt hat, einen großen Krieg zu verlieren. Sie ist aber zugleich auch ein Signal für alle aktiven Elemente der monarchistischen Gegenrevolution. Jetzt wittern sie Morgenluft! Jetzt werden sie alle Minen springen lassen! Für sie alle heißt es: ‹Jetzt oder nie!›»

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Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte die Wahl von Hindenburg damals noch aus strikt demokratischer Sicht: «Die deutsche Republik hat die erste grosse Schlacht verloren, das deutsche Volk die erste politische Reifeprüfung nicht so bestanden, wie seine besten Freunde im Ausland trotz aller Verhetzung glaubten erwarten zu dürfen. Soll man von einem psychologischen Rätsel reden? Alle Demokraten und Republikaner greifen sich an den Kopf und fragen, durch so viel politische Ahnungslosigkeit entwaffnet, was sich die grössere Hälfte des deutschen Volkes bei dieser Wahl eigentlich gedacht habe.» Es sind Worte, die man nach der Wahl von Donald Trump bei der NZZ vermisst hat.

Hindenburgs Leitmotiv für seine Präsidentschaft, schreibt Niess, sei es gewesen, die «‹national denkenden› Deutschen über alle trennenden politischen, sozialen und konfessionellen Positionen und Anschauungen hinweg zu einem einigen Volk zu machen». Nationales Denken und Vaterlandsliebe sollten nach seiner Vorstellung alle sozialen Unterschiede und weltanschaulichen Differenzen überwinden. Darin sah er die Voraussetzung für Deutschlands Wiederaufstieg. Bereits in seinem ersten Amtsjahr nutzte Hindenburg deshalb zielbewusst jede sich bietende Gelegenheit, um die Politik «nach rechts» in Bewegung zu bringen, symbolpolitisch und aufgrund seines Einflusses auf die Regierungsbildung. «Er liess keinen Zweifel daran, dass Sozialdemokraten in Regierungsämtern unerwünscht waren und bemühte sich zugleich um eine Zusammenfassung aller bürgerlichen Kräfte», schreibt Niess. Aber bei seinem grossen Vorhaben, «das Volk» zu einen und eine neue nationale Begeisterung zu wecken, sei er nicht vorangekommen. «Er wurde nicht als überragende Gestalt wahrgenommen, um die sich alle ›national denkenden’ Deutschen freudig scharten», schreibt Niess. Es sei ihm nicht gelungen, zum Kulminationspunkt zu werden. «Er drohte vielmehr sich selbst und seinen Nimbus in den Auseinandersetzungen des politischen Alltags zu verlieren.»

1930 legten die Nationalsozialisten bei den Wahlen entscheidend zu. «Nach neueren Untersuchungen profitierte die NSDAP sowohl von der gestiegenen Wahlbeteiligung als auch von Verlusten der bürgerlichen Mittelparteien», schreibt Wolfgang Niess. «Sie gewann Wähler aus verschiedenen sozialen Schichten und von unterschiedlichen Parteien.» Rein rechnerisch hätte das Wahlergebnis vom 14. September 1930 durchaus eine «Grosse Koalition aller Vernünftigen» zugelassen. So appellierte Thomas Mann in seiner «Deutschen Ansprache» im Berliner Beethovensaal an das deutsche Bürgertum, sich mit der Sozialdemokratie zu verbünden und sich dabei vom Phantom des Marxismus nicht abschrecken zu lassen. «Aber angesichts der jüngsten Entwicklung der bürgerlichen Parteien waren solche Erwägungen wirklichkeitsfremd», schreibt Niess. Das politische Zentrum präsentierte sich nur noch bedingt als demokratische Partei. «Es gab viele Hindernisse auf dem Weg zu einer ‹Großen Koalition der Vernünftigen›, und das allergrößte und unüberwindbare war, dass der Reichspräsident keinesfalls bereit war, die SPD wieder an der Regierung zu beteiligen.»

Wolfgang Niess beschreibt, wie Deutschland sich schrittweise unter Führung von Hindenburg in die Hand von Hitler begab. Keiner dieser Schritte war notwendig, aber niemand griff ein. Und so kam es, dass Hindenburg 1933 Hitler zum Kanzler ernannte – und der in kürzester Zeit das Land zur Autokratie umbaute. «Hindenburg hatte als Reichspräsident maßgeblichen Anteil an der Errichtung der NS-Diktatur», schreibt Niess. «Sie wäre ohne seine tätige Mitwirkung nicht möglich gewesen. Das gilt nicht nur für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Es gilt für die Ausstattung seiner Regierung mit den Vollmachten eines Präsidialkabinetts. Es gilt für den Erlass der entscheidenden Verordnungen, mit denen bereits im Februar 1933 die Menschen-und Bürgerrechte eingeschränkt und beseitigt wurden. Es gilt für die Legitimierung der Regierung Hitler durch Hindenburgs Auftritte im Dienst der entstehenden Diktatur.» Dem Terror des Regimes gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, mit dem zugleich der Rechtsstaat beseitigt wurde, sei Hindenburg mit keinem Wort entgegengetreten, «der Terror gegen deutsche Juden hat ihn nur gestört, wo er sich gegen jüdische Kriegsteilnehmer und deren Angehörige richtete».

Auch Hindenburgs politisches Testament lässt wenig Raum für beschwichtigende Relativierungen: «Was sein ‹lieber Kanzler› Adolf Hitler zwischen dem 30. Januar 1933 und dem Sommer 1934 schuf, fand Hindenburgs Zustimmung. Die Beseitigung der Parteien und die vollständige Entmachtung des ‹Parlaments› waren auch seine eigenen Ziele. Im NS-Regime der Jahre 1933/34 sah er die ›Volksgemeinschaft’ verwirklicht, die ihm selbst vorschwebte, als er sich 1925 zur Kandidatur bereitfand.» So mündete die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten am 26. April 1925 in eine Katastrophe für Deutschland und die Welt. «Nicht zufällig, nicht wegen angeblicher Senilität Hindenburgs, sondern aufgrund seines Handelns als Reichspräsident», schreibt Niess.

Wolfgang Niess: Schicksalsjahr 1925. Als Hindenburg Präsident wurde. C.H. Beck, 304 Seiten, 39.50 Franken; ISBN 978-3-406-83039-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406830396

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