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Streiten

Publiziert am 3. Januar 2025 von Matthias Zehnder

Warum sollen wir das neue Jahr mit einem Buch über Streiten beginnen? «Ein Streit ist nie harmlos», schreibt Svenja Flaßpöhler. «Der Abgrund der Vernichtung ist immer da.» Bis vor gut zweihundert Jahren bedeutete das Wort noch kämpfen. Und zwar buchstäblich bis aufs Blut. Das ist mit dem Streit, um den es in diesem Buch geht, nicht gemeint. Aber auch nicht das emphatische Aufeinanderzugehen. Es sei nicht möglich, sich «emphatisch und verständnisvoll zu streiten», schreibt Svenja Flaßpöhler. «Ein Mensch, der anfängt, den Gegenstand des Streits mit den Augen des anderen zu sehen, streitet schon nicht mehr, sondern befindet sich bereits auf dem Weg der Verständigung.» Das kann am Ende sinnvoll sein, zunächst geht es bei einem Streit aber um eine Auseinandersetzung: «Man begreift schlicht nicht, wie der andere so denken kann, wie er denkt. Und man hält dieses andere Denken für derart falsch und fatal, dass es so ‹nicht stehen bleiben kann›. Ergo muss es, auch wenn es hart klingt, zu Fall gebracht werden.» Zu streiten heisst also, dass ich meine Perspektive gegen eine andere stelle. Dass ich mich der Auseinandersetzung stelle, dem Wortgefecht, dass ich mich behaupten will. In ihrem Buch lotet Svenja Flaßpöhler verschiedene Formen des Streits aus. Den destruktiven Streit in einer Beziehung, den produktiven, philosophischen Streit. Diese Auseinandersetzung hat sie immer wieder gesucht – und ist, weil sie sich auch mit extremen Positionen auseinandergesetzt hat, in Deutschland gründlich missverstanden worden. Weil sie sich mit AfD-Anhängern streiten wollte, wurde sie als «rechts» abgestempelt. Ihr Buch ist deshalb zu einem Plädoyer für den produktiven, aktiven Streit geworden. Ein  Plädoyer für den Mut, sich der Auseinandersetzung zu stellen und auch mit Menschen zu streiten, deren Ansichten ganz und gar nicht der eigenen entsprechen.

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Svenja Flaßpöhler ist Philosophin und Chefredakteurin des «Philosophie Magazins». Sie hat sich das Etikett der «streitbaren Philosophin» erworben, weil sie es wagt, ohne Scheuklappen zu denken und sich auch mit Menschen zu streiten, die extreme Positionen einnehmen, mit Coronaleugnern etwa oder mit Denkern, die der Identitäten Bewegung nahestehen. Damit ist sie für viele von der «streitbaren» zur «umstrittenen» Denkerin geworden. Nicht dass sie sich mit den extremen Positionen gemein gemacht hätte. Schon die Auseinandersetzung, der Streit mit ihnen, war verdächtig. In ihrem Buch erklärt sie, warum das so ist: «Das Gleiche ist gut, unkompliziert, unverdächtig. Jede Abweichung ist mit komplexen Verfahren verbunden und weckt Zweifel», schreibt sie. So habe sie zum Beispiel den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erlebt. In weiten Teilen der Öffentlichkeit gelte die «soziale Logik des Allgemeinen», also eine Logik des Standardisierten: «Das Reihenhaus, klare Routinen und Abläufe, Festanstellungen, Stechuhr. Erstrebenswert ist das Gleiche, man will, was der Nachbar hat. Dem von der Norm Abweichenden wird eher mit Skepsis und Abwehr begegnet.» Auch einem von der Norm abweichenden Streit.

Die grosse Frage, die sich dabei stellt, wenn man öffentlich mit Menschen streitet, die extreme Positionen einnehmen: Macht man sie nicht genau dadurch salonfähig? Das ist die Frage, die in Deutschland alle umtreibt, die es mit Höcke, Gauland und Co. zu tun haben: «Wie wäre dann noch zu verhindern, dass eine solche Rhetorik wieder salonfähig, ein solches Denken politisch wieder mitbestimmend, gar bestimmend wird? Es gibt Gewissheiten, die preiszugeben die dunkle deutsche Vergangenheit wieder heraufbeschwören könnte. Sie müssen unangetastet bleiben, damit die Bundesrepublik ihr eigenes Fundament eines entschiedenen ‹Nie wieder› nicht untergräbt», schreibt Svenja Flaßpöhler. Eine Möglichkeit: mit Habermas auf die Kraft der Vernunft zu setzen, auf «kommunikativer Rationalität». Doch, schreibt Flaßpöhler, seien diese «unfreiwilligen Vorlagen für Rechtsextremisten nicht einmal das grösste Problem». Noch schwerwiegender sei, dass «die, die sich auf der Vernunftseite wähnen, verkennen, dass Affekte sich nicht in Luft auflösen, nur weil man sie bei sich selbst nicht sehen will». Wer den Rechtspopulismus glaubwürdig stoppen wolle, müsse die Probleme benennen, «ohne dabei eine rechtspopulistische Rhetorik zu wiederholen». Das sei eine «Gratwanderung», aber zum Beispiel im Rahmen eines guten Streits durchaus möglich. Denn Kennzeichen des Streits ist ja, dass ich die Postionen des Gegenübers nicht akzeptiere. Ein spannendes Buch mit vielen Denkanstössen und Anregungen für guten Streit.

Svenja Flaßpöhler: Streiten. Hanser Berlin, 128 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-446-28004-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446280045 

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